Gedanken viel Gluck gewunscht habe, reagierte er auf das Gefuhl, obwohl er ziemlich weit von uns entfernt gewesen ist und seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet war. Eigentlich ist daran nichts Seltsames gewesen, weil die emphatischen Fahigkeiten des Cinrusskers selbst bei solch einer relativ gro?en Entfernung noch sehr ausgepragt sind. Aber was ist mit unserer eigenen Fahigkeit? Konnte es sich dabei nicht ebenfalls um eine abgeschwachte Form der Empathie handeln, die zwarimmerhin fur eine Wiedererkennung ausreicht, ansonsten aber nicht viel bewirken kann? Und wenn das so ist, aus welcher Entfernung konnen sich ehemalige Wirte gegenseitig erkennen? Brauchen sie dazu Blickkontakt? Wirkt sich ein raumliches Hindernis negativ aus? Wurde es Ihnen etwas ausmachen, mir bei einem Experiment behilflich zu sein?«

»Ich wei? es nicht, und diese Antwort gilt fur alle sechs Fragen«, erwiderte der Padre. »Wie soll dieses Experiment uberhaupt aussehen?«

Nachdem Hewlitt ihm erklart hatte, was er von ihm wollte reagierte Lioren anfangs etwas ungehalten. »Aber das ist doch kein Experiment, sondern ein Spiel fur Kleinkinder!« Schlie?lich beruhigte er sich und fuhr fort: »Andererseits: was soll's? Immerhin wurde es uns nutzliche Erkenntnisse liefern. Wenn ich einwillige mitzumachen, dann durfen Sie aber niemandem verraten, da? ich mich – ein gereifter Erwachsener, der sich immerhin das Recht erworben hat, den Blauen Mantel zu tragen -, auf dieses Spiel eingelassen habe.«

»Jetzt beruhigen Sie sich mal, Padre«, besanftigte ihn Hewlitt. »Mir ware es auch ziemlich peinlich, wenn andere erfahren, da? ich in diesem Alter Verstecken gespielt habe. Jedenfalls schlage ich vor, da? Sie sich verstecken sollten und nicht ich, da Sie die besseren Schlupfwinkel kennen…«

Sie gingen gerade einen langen Korridor entlang, der in einer T-formigen Einmundung endete, wo der Komplex mit den Rampen, Treppen und Aufzugen untergebracht war, durch die man auf die oberen und unteren Ebenen gelangen konnte. In den Wanden befanden sich etliche Turen, die zu verschiedenen Stationen, Lager- und Vorratsraumen sowie zum Wartungstunnelsystem fuhrten. Hewlitt sollte sich drei Minuten lang umdrehen, damit Lioren genug Zeit blieb, sich zu verstecken - entweder ganz in der Nahe oder weiter entfernt den Gang hinauf. Dabei gab es lediglich zwei Spielregeln zu beachten; zum einen, da? sich der Padre in einer leeren Abteilung verstecken sollte anstatt auf einer Station, weil sie sonst nur unnotig ins Gerede gekommen waren und die Gefahr bestanden hatte, den Stationsablauf zu storen, und zum anderen, da? Hewlitt dasVersteck allein durch den Einsatz des Instinkts, der Empathie oder dessen, was er sonst noch von dieser Virenkreatur geerbt haben konnte, ausfindig machen sollte, ohne hinter die Turen gucken zu durfen.

Als nach zwanzig Minuten, in denen er vor potentiellen Verstecken gestanden und versucht hatte, Liorens Gegenwart im Geiste aufzuspuren, wobei er etliche Fragen und spottische Bemerkungen von Passanten einfach uberhort hatte, und samtliche Moglichkeiten erschopft waren, benutzte er enttauscht den Kommunikator.

»Ich habe absolut nichts wahrgenommen«, sagte er. »Kommen Sie bitte heraus, ich wei? wirklich nicht, wo Sie sind.«

Lioren tauchte hinter einer Tur auf, die Hewlitt erst einige Minuten zuvor in Gedanken abgetastet hatte, und eilte auf ihn zu. »Ich auch nicht, obwohl ich gehort habe, wie Sie vor meinem Versteck einen Moment lang stehengeblieben sind«, meinte der Padre. »Das Gerausch von terrestrischen Schritten ist namlich praktisch nicht zu verwechseln. Doch kaum habe ich Sie eben gesehen, hatte ich wieder dieses Wiedererkennungsgefuhl.«

»Mir ging's genauso«, pflichtete ihm Hewlitt bei. »Aber warum mussen wir uns dabei sehen konnen?«

Der Padre gab ein glucksendes Gerausch von sich, das nicht ubersetzt wurde, und erwiderte: »Das wei? wohl nur Gott allein und vielleicht noch diese Virenkreatur.«

Den ganzen Weg bis zu seiner alten Station zerbrach sich Hewlitt schweigend den Kopf daruber. Abgesehen davon, sich per Kommunikator bei O'Mara zu melden, um ihm die neue Information weiterzugeben, schien der Padre keine Lust auf eine weitere Diskussion uber dieses Thema zu haben. Wahrscheinlich drehten sich seine Gedanken in erster Linie um die Probleme des Patienten, den er gerade besuchen wollte.

»Patient Hewlitt, was machen Sie denn hier?« begru?te ihn Leethveeschi erstaunt, als er kurz darauf das Personalzimmer betrat.

Wie er wu?te, gehorten die regelma?igen Besuche des Padre langst zum Stationsalltag, doch klang die Oberschwester so, als ware sie uber dieGegenwart eines ehemaligen Patienten, der sich als ein Storfaktor erwiesen hatte, nicht sonderlich erfreut. Wahrend Hewlitt noch immer nach einer passenden Antwort suchte, ubernahm Lioren diese Aufgabe bereits fur ihn. Dabei fiel ihm zwar auf, da? der Padre nicht wirklich log, aber mit der Wahrheit recht sparsam umzugehen wu?te.

»Mit Ihrer Erlaubnis, Oberschwester, wird er mich begleiten, damit er die Patienten beobachten und mit ihnen sprechen kann, um mir mit nichtmedizinischem Rat zur Seite zu stehen. Ich versichere Ihnen, da? er mit niemandem reden wird, dessen Behandlungsmethode oder Gesundheitszustand eine Unterhaltung nicht zula?t. Daruber hinaus garantiere ich Ihnen, da? Ihnen der ehemalige Patient Hewlitt keine Unannehmlichkeiten mehr bereiten wird.«

Ein Teil von Leethveeschis Korper zuckte in der Chlorhulle, was vermutlich eine nonverbale Geste der Zustimmung war. Dann sagte sie: »Ich glaube, ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Das, was Sie mit Patientin Morredeth erlebt haben, Expatient Hewlitt, hat Sie wahrscheinlich dazu veranla?t oder auch nur darin bestarkt, sich fur eine Ausbildung zum geistlichen Berater zu entscheiden. Das ist sehr lobenswert, und Sie haben einen hervorragenden Mentor gefunden.«

»Der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin, ist, da? wir…«, begann Hewlitt.

»Das zu erklaren wurde sicherlich zu lange dauern«, unterbrach ihn Leethveeschi. »Im Moment habe ich wirklich nicht die Zeit, den theologischen Ausfuhrungen oder Bekenntnissen eines Aliens zuzuhoren, so interessant das alles auch sein mag. Sie konnen sich ja mit dem einen oder anderen Patienten daruber unterhalten, aber bitte sorgen Sie dafur, da? keine weiteren Wunder bei uns geschehen.«

»Das verspreche ich Ihnen«, antwortete Hewlitt lachelnd, wahrend er dem Padre auf die Station folgte.

Nachdem sie sowohl Leethveeschi als auch alle anderen diensthabenden Schwestern und Pfleger im Personalraum von ihrer Liste potentieller Exwirte gestrichen hatten, taten sie dasselbe mit dem Patienten, dem Lioreneinen Besuch abstattete. Bei diesem bedauernswerten Geschopf handelte es sich um einen Melfaner namens Kennonalt, dessen Stutzgestell von beangstigend vielen Biosensoren und medizinischen Geraten umgeben war. Was dem Melfaner fehlte, konnte er nicht genau feststellen, zumal Lioren ihm klar zu verstehen gegeben hatte, da? die Unterhaltung mit Kennonalt rein privat sei und Hewlitt die Zeit lieber damit verbringen solle, die anderen Patienten zu uberprufen, bis er sich wieder zu ihm gesellen wurde.

Folglich ging er gemachlich im Zickzack die Station auf und ab. Es war ein Spaziergang durch vertrautes Territorium, wenngleich er sich nicht sicher war, ob diese Vertrautheit auch auf die Patienten zutraf, denn er hatte immer noch gro?e Probleme damit, einen Tralthaner, Kelgianer, Melfaner oder wen auch immer vom anderen zu unterscheiden. Die meisten von ihnen schienen froh uber die Gelegenheit zu sein, sich unterhalten zu konnen. Andere wiederum wirkten eher zuruckhaltend, oder sie ignorierten ihn einfach, und einer wurde gerade behandelt

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