Hewlitt starrte fast eine Ewigkeit durch die durchsichtige Wand des Personalraums in eine trube, grune Unterwasserwelt, in der Unmengenanscheinend zur Dekoration dienende Vegetation trieb, wobei es sich bei den gro?eren Pflanzen durchaus um die Patienten selbst hatte handeln konnen. Da sich Hredlichli und eine kelgianische Schwester auf ihre Bildschirme konzentrierten und ihn nicht weiter beachteten, schwamm er ohne weiteres Zogern langsam in die Station hinein.

Den Personalraum hatte er noch keine zehn Meter hinter sich gelassen, da trennte sich vom au?ersten Rande des Sichtfelds einer der verschwommenen, dunkelgrunen Schatten aus dem Winkel zwischen Boden und Wand ab und scho? wie ein gro?er organischer Torpedo auf ihn zu, und je naher dieses undefinierbare Etwas auf ihn zukam, desto mehr nahm es eine grauenerregende, dreidimensionale Gestalt an. Als dieses Ungetum ruckartig zum Stehen kam, wurde Hewlitt aufgrund der Druckwellen und Turbulenzen, die durch das ubersturzte Herannahen und das schnelle Schlagen der Flossen entstanden waren, im Kreis herumgewirbelt.

Plotzlich schwang eine der wuchtigen Flossen nach oben und blieb wie eine weiche Gummimatratze einen Augenblick an seinem Rucken haften, um ihm Halt zu geben. Dann nahm das Wesen etwas Abstand und begann ihn wie ein ubergro?er und nicht enden wollender Doughnut zu umkreisen, der vom Kopf bis zum Schwanz mindestens zwanzig Meter lang sein mu?te. Er hatte ohne weiteres nach oben oder unten schwimmen konnen, doch aus irgendeinem Grund waren Arme und Beine und selbst seine Stimme wie gelahmt.

Aus unmittelbarer Nahe sah das Wesen wie ein gewaltiger, gepanzerter Fisch mit einem kraftigen, messerscharfen Schwanz aus, der eine scheinbar planlose Anordnung von kurzen Flossen und einen breiten Ring von Tentakeln besa?, die aus den wenigen sichtbaren Offnungen seines organischen Panzers hervorragten. Beim Vorwartsschwimmen lagen die Tentakel flach an den Korperseiten an, aber sie waren so lang, da? sie uber die dicke, stumpfe Keilform des Kopfes hinausreichten. Wahrend die Kreatur ihn enger umkreiste, beobachtete sie ihn aus zwei lidlosen Augen, die in Form und Gro?e umgedrehten Suppenschusseln ahnelten. Plotzlichteilte sich der Kopf und entblo?te einen riesigen, rosafarbenen Rachen, umsaumt von einer Dreierreihe scharfer, wei?er Zahne.

»Hallo«, begru?te ihn der Chalder. »Sind sie etwa die neue Schwesternschulerin? Wir hatten eigentlich eine Kelgianerin erwartet.«

Hewlitt offnete ebenfalls den Mund, aber es dauerte einen Augenblick, ehe er seine Stimme wiedergefunden hatte. »N-nein«, stammelte er. »Ich bin kein Mediziner, sondern nur ein ehemaliger Patient und besuche die Chalderstation zum ersten Mal.«

»Oh, ich hoffe, da? ich Sie dann durch mein Herannahen nicht allzu sehr erschreckt habe«, entschuldigte sich der Chalder. »Falls doch, tut es mir leid. Sie haben aber auch uberhaupt nicht wie ein Besucher reagiert, der das erste Mal hier ist. Ich bin ubrigens AUGL-Zwei- Elf. Wenn Sie mir die Aktennummer der Person nennen, die Sie besuchen mochten, bringe ich Sie gerne zu ihr.«

Als Hewlitt sich vorstellen wollte, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, da? Chalder ihren Namen nicht preisgeben und vermied es deshalb, sich oder sein Gegenuber in ernste Verlegenheit zu bringen. Die Hoflichkeit des AUGLs mu?te ihn wohl ein wenig ubermutig gemacht haben, denn zu seiner eigenen Verwunderung entgegnete er: »Vielen Dank, aber eigentlich mochte ich zu keiner bestimmten Person. Ware es vielleicht moglich, alle Patienten kurz kennenzulernen?«

Patient Zwei-Elf machte das Maul einige Male auf und zu. Noch wahrend sich Hewlitt fragte, ob der Chalder sein Bitte ablehnen wollte, antwortete dieser: »Das ware durchaus moglich und in meinen Augen sogar wunschenswert. Dies gilt insbesondere fur die drei Patienten, zu denen ubrigens auch ich gehore, deren Entlassung uberfallig ist und die sich zusehends langweilen. Es bleibt Ihnen allerdings nicht viel Zeit, denn in knapp einer Stunde wird die Hauptmahlzeit ausgeteilt. Die Nahrung ist selbstverstandlich synthetisch, aber hochst beweglich und naturgetreu nachgebildet, und kleine Wesen wie Sie werden aufgefordert, wahrend der Essenszeit die Station zu verlassen, damit sie nicht versehentlich verspeist werden.«»Keine Sorge, ich werde mich bestimmt rechtzeitig zuruckziehen«, versicherte ihmHewlitt.

»Das klingt sehr vernunftig«, pflichtete ihm der Chalder bei und hielt kurz inne, bevor er fragte: »Kann es sein, da? ich Sie durch irgendeine unpassende Bemerkung oder Andeutung beleidigt habe?«

Hewlitt musterte erneut den gewaltigen Panzerkorper und die respekteinflo?enden Zahne und erwiderte: »Ich bin keineswegs beleidigt.«

»Dann bin ich ja beruhigt«, sagte der AUGL, bevor er naher herankam und direkt an Hewlitt vorbeiglitt, bis nur noch ein riesiges Auge, eine Halfte der Mundoffnung und eine steif vorstehende Flosse von ihm zu sehen waren. »Terrestrier kann man nicht unbedingt als wassertauglich bezeichnen; sie bewegen sich viel zu langsam und mussen ungeheuer viel Energie dafur aufwenden. Wenn Sie nach der Flosse greifen, die in Ihrer Reichweite ist, und sich an deren Ende mit beiden Handen festhalten, dann konnen wir zwischen den Patienten umherschwimmen und werden dafur nur einen Bruchteil der Zeit benotigen, die Sie sonst aufwenden mu?ten.«

Hewlitt zogerte. »Die Flosse sieht… nun ja… ziemlich empfindlich aus. Kann ich Ihnen dabei auch wirklich keinen Schaden zufugen?«

»Quatsch, uberhaupt nicht!« widersprach Zwei-Elf entschieden. »Ich gebe zwar gern zu, da? ich mich in letzter Zeit etwas schwach gefuhlt habe, aber ich bin sehr viel besser bei Kraften, als es derzeit den Anschein hat.«

Hewlitt, dem dazu keine passende Antwort einfiel, griff kurzerhand nach der Flosse, deren dickes, rotgeadertes Ende wie eine riesige, durchsichtige Rhabarberstange aus einer Offnung des schuppigen Panzers spro?. Als er plotzlich spurte, wie etwas Unsichtbares ihn loszurei?en versuchte, packte er fester zu, bis er merkte, da? nur der steigende Wasserdruck an ihm zerrte, der durch die rasche Vorwartsbewegung ausgelost worden war. Wahrend sie wie ein Torpedo durch die ganze Station schossen, glitten sie an den Zierpflanzen, den riesigen Patienten und dem im direkten Vergleich geradezu winzig wirkenden Pflegepersonal vorbei.

Wie Hewlitt sehen konnte, gab es auf dieser Station keine Betten, wasallerdings angesichts der hier herrschenden Umweltbedingungen alles andere als verwunderlich war. Diejenigen Chalder, die bettlagerigen Patienten am ehesten gleichkamen, waren an offene Behandlungsgestelle gebunden, die wie Kastendrachen aussahen. Einer dieser Patienten, dessen gesamte Korperoberflache aus krankheits- und altersbedingten Grunden rissig und verfarbt war, erhielt gerade Besuch von Lioren. Die Mehrheit der anderen schwamm ohne Einschrankungen in den ihnen zugewiesenen, an Wanden und Decke markierten Bereichen umher, und da sie die Augen auf flackernde Bildschirme richteten, sahen Sie sich vermutlich Unterhaltungsprogramme an. Zwei Chalder trieben Kopf an Kopf fast bewegungslos am Ende der Station und unterhielten sich offenbar. Dort befand sich auch das Ziel. Als sich Zwei-Elf und Hewlitt den beiden naherten, schlugen sie mit den gewaltigen Schwanzen, drehten sich schwerfallig um und starrten sie mit weit aufgesperrten Maulern an.

»Wenn Sie mochten, konnen Sie jetzt absitzen«, meinte Zwei-Elf und deutete mit einem fransigen Tentakel auf die beiden AUGLs: »Das sind ubrigens die Patienten Eins-Dreiundneunzig und Zwei-Einundzwanzig. Und das hier ist eine terrestrische Besucherin, die sich mit uns unterhalten mochte.«

»Ich sehe auch so, da? es sich nicht um einen deiner widerlichen Korperparasiten handelt«, frotzelte Eins-

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