»Wer?«
»Der junge Mann bei der Besprechung.«
»Was spielt das fur eine Rolle? Er ist vollig unwichtig.«
»Er hat nicht ein einziges Wort zu mir gesagt«, war Tobys dustere Antwort. »Er kann mich bestimmt nicht leiden.«
Toby war so au?er sich, dass Clifton Lawrence den Jungen ausfindig machen musste. Er rief den besturzten Mann mitten in der Nacht an und fragte ihn: »Haben Sie etwas gegen Toby Temple?«
»Ich? Ich halte ihn fur den witzigsten Mann auf der ganzen Welt!«
»Tun Sie mir dann bitte einen Gefallen, mein Junge: Rufen Sie ihn an, und sagen Sie ihm das.«
»Was?«
»Rufen Sie Toby an, und sagen Sie ihm, dass Sie ihn mogen.«
»Aber naturlich. Ich werde ihn gleich morgen fruh anrufen.«
»Rufen Sie jetzt an.«
»Es ist drei Uhr morgens!«
»Spielt keine Rolle. Er wartet darauf.«
Als der junge Mann Toby anrief, wurde der Horer sofort abgehoben. Tobys Stimme war zu vernehmen: »Hallo.«
Der junge Mann schluckte und sagte: »Ich – ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Sie gro?artig finde.«
»Danke, Kamerad«, antwortete Toby und legte auf.
Tobys Hofstaat wurde immer gro?er. Manchmal, wenn er nachts aufwachte, rief er Freunde an und uberredete sie, zu einer Kartenrunde heruberzukommen, oder er weckte O'Hanlon und Rainger und beorderte sie zu einer Drehbuchbesprechung. Oft sa? er die ganze Nacht mit den drei Macs und Clifton Lawrence und einem halben Dutzend Starlets und Schmarotzern zu Hause und sah sich Filme an.
Und je mehr Menschen er um sich versammelte, desto einsamer wurde Toby.
22.
Es war November 1963, und der herbstliche Sonnenschein war einem schwachen, kalten Licht gewichen. Die fruhen Morgenstunden waren jetzt neblig und kuhl, und die ersten Winterregen hatten eingesetzt.
Jill Castle ging immer noch jeden Morgen zu Schwab, aber es kam ihr vor, als waren die Unterhaltungen immer dieselben. Die Uberlebenden redeten davon, wer eine Rolle verloren hatte und warum. Sie freuten sich hamisch uber jede vernichtende Kritik, die erschien, und missbilligten die guten. Es war das Klagelied der Verlierer, und Jill fragte sich, ob sie wie sie werden wurde. Sie war immer noch davon uberzeugt, eines Tages ein Star zu werden, aber als sie sich im Kreis der vertrauten Gesichter umsah, merkte sie, dass alle von sich dasselbe glaubten. War es moglich, dass sie keinen Sinn mehr fur die Realitat hatten, dass sie alle darauf vertrauten, dass ihr Wahn Wirklichkeit werden wurde? Sie konnte den Gedanken nicht ertragen.
Jill war die Beichtmutter der Gruppe geworden. Sie kamen mit ihren Problemen zu ihr, und sie horte zu und versuchte zu helfen; mit Rat, mit ein paar Dollar oder mit einem Schlafplatz fur ein oder zwei Wochen. Sie ging selten aus, weil sie auf ihre Karriere versessen war und niemanden kennengelernt hatte, der sie interessierte.
Wann immer Jill ein bisschen Geld beiseite legen konnte, schickte sie es ihrer Mutter mit langen, gluhenden Briefen, in denen sie schrieb, wie gut es ihr gehe. Am Anfang hatte Jills Mutter ihr geantwortet und sie gedrangt, Bu?e zu tun und eine Gottesbraut zu werden. Aber als Jill gelegentlich in Filmen mitwirkte und mehr Geld nach Hause schickte, empfand die Mutter einen gewissen widerstrebenden Stolz. Sie hatte nichts mehr dagegen, dass Jill Schauspielerin war, aber sie beschwor sie, sich um Rollen in religiosen Filmen zu bemuhen. »Ich bin sicher, dass Mr. DeMille Dir eine Rolle geben wird, wenn Du ihm Deinen Glauben darlegst«, schrieb sie.
Odessa war eine kleine Stadt. Jills Mutter arbeitete immer noch fur die Ol-Leute, und Jill wusste, dass ihre Mutter von ihr reden und dass
David Kenyon fruher oder spater von ihrem Erfolg horen wurde. Und so erfand Jill in ihren Briefen Geschichten uber die vielen Stars, mit denen sie zusammen arbeitete, und war stets darauf bedacht, ihre Vornamen zu benutzen. Schnell lernte sie den Trick der Kleindarsteller, sich aufnehmen zu lassen, wahrend sie neben dem Star stand. Von dem Fotografen bekam sie dann zwei Abzuge, von denen sie einen an ihre Mutter schickte und den anderen fur sich behielt. Sie lie? in ihren Briefen durchblicken, dass sie kurz vor der gro?en Karriere stand.
In Sudkalifornien, wo es nie schneit, ist es Brauch, dass eine NikolausParade den Hollywood Boulevard hinuntermarschiert und danach jeden Abend bis zum Heiligen Abend ein Nikolaus-Festzug seine Runde macht. Die Burger von Hollywood feiern das Christkind ebenso gewissenhaft wie
ihre Nachbarn in nordlichen Landstrichen. Man kann sie nicht dafur verantwortlich machen, dass »Ehre sei Gott in der Hohe« und »Stille Nacht« und »Leise rieselt der Schnee« in einer Umgebung, die in einer Temperatur von 40 Grad Celsius schmachtet, aus Heim- und Autoradios stromen. Wie alle anderen rotblutigen, patriotischen Amerikaner sehnen sie sich inbrunstig nach einem altmodischen Wei?en Weihnachten, aber da sie wissen, dass Gott diesen Wunsch nicht erfullen wird, haben sie gelernt, das Fest auf ihre Weise zu begehen. Sie schmucken die Stra?en mit Weihnachtskerzen und Christbaumen aus Plastik und mit Nikolausen samt ihren Schlitten und Rentieren aus Pappmache. Filmstars und Charakterdarsteller wetteifern miteinander um das Vorrecht, in der NikolausParade mitzufahren, nicht etwa, um die Tausenden von Kindern und Erwachsenen, die vom Stra?enrand den Umzug bewundern, in Weihnachtsstimmung zu versetzen, sondern weil die Parade live vom Fernsehen ubertragen wird und ihre Gesichter von einer Kuste zur anderen gesehen werden.
Jill Castle stand fur sich an einer Ecke und sah die zahllosen Wagen vorbeifahren, von denen die Stars ihren Fans zuwinkten. Gro?marschall der Parade war in diesem Jahr Toby Temple. Die begeisterte Menge jubelte frenetisch, als sein Festwagen vorbeifuhr. Jill erhaschte einen Blick auf Tobys strahlendes, angeregtes Gesicht, dann war er vorbei.
Es folgte die Hollywood High School Band, danach der Festwagen der Freimaurer und eine Marinekorps- Kapelle. Da waren Reiter in Cowboykostumen und ein Posaunenchor der Heilsarmee. Es gab Gesangsgruppen mit Fahnen und Wimpeln, einen Festwagen mit Tieren und Vogeln, die aus Blumen gesteckt waren; Lokomotiven, Clowns und Jazzbands. Es war vielleicht nicht der wahre Weihnachtsgeist, aber es war ein typisches Hollywood- Schauspiel.
Jill hatte fruher einmal mit einigen der Darsteller auf den Festwagen gearbeitet. Einer von ihnen winkte ihr zu und rief zu ihr hinunter: »Hallo, Jill! Wie geht's?«
Mehrere Leute in der Menge drehten sich neidisch nach ihr um, und es schmeichelte ihrem Selbstgefuhl sehr, dass den Leuten gezeigt wurde, dass auch sie dazugehorte. Eine tiefe, klangvolle Stimme neben ihr fragte: »Entschuldigen Sie – sind Sie Schauspielerin?«
Jill wandte sich um. Der Sprecher war ein gro?er, blonder, gutaussehender junger Mann von Mitte Zwanzig. Sein Gesicht war gebraunt, und seine Zahne waren wei? und ebenma?ig. Er trug alte Jeans und ein blaues Tweedjackett mit Lederflecken auf den Ellbogen.
»Ja.«
»Ich auch. Ich bin Schauspieler, meine ich.« Er grinste und fugte hinzu: »Hart kampfend.«
Jill zeigte auf sich und bestatigte: »Genau wie ich.«
Er lachte. »Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?«
Er hie? Alan Preston und kam aus Sah Lake City, wo sein Vater Altester in der Mormonenkirche war. »Ich wuchs mit zuviel Religion und zuwenig Spa? auf«, vertraute er Jill an.
Es ist beinahe prophetisch, dachte Jill. Wir kommen aus genau den gleichen Verhaltnissen.
»Ich bin ein guter Schauspieler, glaube ich«, sagte Alan wehmutig, »aber das hier ist ein hartes Pflaster. Bei uns zu Hause will jeder einem helfen. Hier scheint es, dass jeder nur darauf aus ist, einen hereinzulegen.«
Sie unterhielten sich, bis das Cafe schloss, und inzwischen waren sie gute Freunde geworden. Als Alan fragte: »Kommen Sie mit zu mir?«, zogerte Jill nur einen Augenblick. »Gern.«
Alan Preston wohnte in einer Pension hinter der Highland Avenue, zwei Hauserblocks von der Hollywood