»Es ist einer – wie sagen Sie? – der schwersten, gefahrlichsten Falle. Wenn Ihr Mann uberleben sollte – und es ist noch zu fruh, daruber etwas zu sagen -, wird er nie wieder gehen oder sprechen konnen. Sein Geist

ist klar, aber er ist vollig gelahmt.«

Bevor Jill Moskau verlie?, rief David sie an.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut«, sagte er. »Ich werde dir beistehen. Wenn du mich brauchst, werde ich immer fur dich dasein. Vergiss das nicht.«

Es war das einzige, was Jill half, in dem beginnenden Alptraum ihren Verstand zu behalten.

Die Heimreise war eine teuflische Wiederholung der Vergangenheit. Die Krankenbahre im Flugzeug, der Krankenwagen vom Flughafen zum Haus, das Krankenzimmer.

Nur dass es diesmal nicht das gleiche war. Jill hatte es sofort gewusst, als man ihr erlaubte, Toby zu sehen. Sein Herz schlug, seine lebenswichtigen Organe funktionierten; in jeder Hinsicht war er ein lebender Organismus. Und trotzdem war er es nicht. Er war ein atmender, pulsierender Leichnam, ein toter Mann in einem Sauerstoffzelt mit Schlauchen und Nadeln in seinem Korper, die ihn mit jenen Losungen versorgten, die notig waren, um ihn am Leben zu erhalten. Sein Gesicht mit den hochgezogenen Lippen, die sein Zahnfleisch entblo?ten, war so entsetzlich verzerrt, dass es aussah, als ob er grinste. Ich furchte, ich kann Ihnen keine Hoffnung machen, hatte der russische Arzt gesagt.

Das war vor vielen Wochen gewesen. Nun waren sie wieder zu Hause in Bel-Air. Jill hatte sofort Dr. Kaplan hinzugezogen, der Facharzte kommen lie?, die ihrerseits weitere Kapazitaten gerufen hatten, und es kam immer dieselbe Antwort: ein schwerer Schlaganfall, der die Nervenzentren schwer beschadigt oder gar zerstort hatte, und es bestand kaum eine Chance, die eingetretenen Schaden zu heilen.

Schwestern betreuten ihn rund um die Uhr, und ein Heilgymnastiker arbeitete mit Toby, aber es waren alles leere Gesten.

Das Objekt dieser ganzen Aufmerksamkeit bot einen schauerlichen Anblick. Tobys Haut war gelblich geworden, und das Haar fiel ihm buschelweise aus. Seine gelahmten Glieder waren runzlig und sehnig. Auf seinem Gesicht stand das entsetzliche Grinsen, das er nicht kontrollieren konnte – der Kopf eines Toten.

Doch seine Augen waren lebendig. Und wie lebendig! Sie leuchteten mit der Kraft eines in einer nutzlosen Schale gefangenen Geistes. Jedesmal wenn Jill sein Zimmer betrat, folgten ihr Tobys Augen begierig. Worum baten sie? Dass sie ihn wieder gehen, wieder sprechen lehrte? Ihn wieder in einen Mann verwandelte?

Schweigend und nachdenklich blickte sie auf ihn hinunter. Ein Teil von mir liegt in diesem Bett, leidend, gefangen. Sie waren miteinander verbunden. Sie hatte alles gegeben, um Toby zu retten, sich selbst zu retten. Aber sie wusste, dass es aussichtslos war.

Unaufhorlich kamen Anrufe, und es war eine Wiederholung all jener anderen Telefonanrufe, all jener fruheren Sympathiebeweise.

Aber dann kam ein anderer Anruf. David Kenyon meldete sich. »Ich wollte nur sagen, wenn ich etwas fur dich tun kann – gleichgultig, was -, ich bin bereit.«

Jill rief sich seinen Anblick ins Gedachtnis, gro? und stattlich und gesund, und sie dachte an die deformierte Karikatur eines Mannes im Zimmer nebenan. »Danke, David. Ich bin dir wirklich dankbar. Aber da ist nichts zu machen. Jedenfalls vorlaufig nicht.«

»Wir haben hervorragende Arzte in Houston«, sagte er. »Einige der besten in der Welt. Ich konnte veranlassen, dass sie ihn untersuchen.«

Jills Kehle zog sich zusammen. Wie sehr wunschte sie, dass David zu ihr kame, sie von hier fortbrachte! Aber es war nicht moglich. Sie war an Toby gefesselt, und sie wusste, dass sie ihn nie verlassen konnte.

Nicht, solange er lebte.

Dr. Kaplan hatte Toby grundlich untersucht. Jill wartete in der Bibliothek auf ihn. Sie drehte sich um, als er hereinkam. Der Arzt versuchte zu scherzen: »Tja, Jill, ich habe eine gute Nachricht, und ich habe eine schlechte Nachricht.«

»Sagen Sie mir die schlechte zuerst.«

»Ich furchte, Tobys Nervensystem ist zu schwer beschadigt, als dass er je wieder gesund werden konnte. Daran besteht kein Zweifel. Er hat keine Chance. Er wird nie wieder gehen oder sprechen konnen.«

Sie blickte ihn lange an und fragte dann: »Und die gute Nachricht?« Dr. Kaplan lachelte. »Tobys Herz ist erstaunlich kraftig. Bei sorgfaltiger Pflege kann er noch zwanzig Jahre leben.«

Jill blickte ihn unglaubig an. Zwanzig Jahre. War das die gute Nachricht? Sie sah sich an diese entsetzliche Fratze da oben gekettet, gefangen in einem Alptraum, aus dem es kein Entrinnen gab. Sie konnte sich nie von Toby scheiden lassen. Niemand wurde das verstehen. Sie war die Heldin, die ihm das Leben gerettet hatte. Jeder wurde sich verraten, betrogen fuhlen, wenn sie ihn jetzt preisgab. Sogar David Kenyon.

David rief sie nun taglich an, und immer wieder versicherte er ihr, wie wunderbar ihre Treue und Selbstlosigkeit ware, und beide waren sich des tiefen Gefuhls fur einander bewusst.

Unausgesprochen blieb der Satz: Wann stirbt Toby?

33.

Drei Krankenschwestern pflegten Toby im Schichtdienst rund um die Uhr. Sie waren flott, tuchtig und so unpersonlich wie Maschinen. Jill war dankbar fur ihre Anwesenheit, denn sie konnte es nicht ertragen, in To-bys Nahe zu sein. Der Anblick dieser hasslichen, grinsenden Maske stie? sie ab. Sie fand alle moglichen Entschuldigungen, seinem Zimmer fernzubleiben. Wenn Jill sich zwang, zu ihm zu gehen, fuhlte sie sofort eine

Veranderung in ihm. Selbst die Schwestern merkten es. Toby lag bewegungslos und hilflos da, versteinert in seiner gelahmten Hulle. Doch sowie Jill das Zimmer betrat, begann Vitalitat aus diesen blauen Augen zu spruhen. Jill konnte Tobys Gedanken so klar lesen, als wurde er laut sprechen: Lass mich nicht sterben. Hilf mir! Hilf mir!

Jill blickte auf seinen verfallenen Korper hinunter und dachte: Ich kann dir nicht helfen. Du mochtest so nicht leben. Du mochtest sterben.

Der Gedanke begann in Jill Gestalt anzunehmen.

Die Zeitungen waren voll von Geschichten uber kranke Ehemanner, deren Frauen sie von ihren Schmerzen befreit hatten. Selbst einige Arzte gaben zu, dass sie bewusst gewisse Patienten sterben lie?en. Euthanasie nannte man das. Gnadentod. Aber Jill wusste, dass es auch Mord genannt werden konnte, obgleich nichts in Toby mehr lebte au?er diesen verfluchten Augen, die ihr uberallhin folgten.

In den nachsten Wochen verlie? Jill das Haus nicht mehr. Die meiste Zeit schloss sie sich in ihrem Schlafzimmer ein. Ihre Kopfschmerzen waren wiedergekehrt, und sie konnte keine Linderung finden.

Zeitungen und Zeitschriften brachten Geschichten uber den gelahmten Superstar und seine hingebungsvolle Frau, die ihn schon einmal gesund gepflegt hatte. Alle Zeitschriften stellten Vermutungen an, ob Jill dieses Wunder wiederholen konnte. Aber sie wusste, dass es keine Wunder mehr geben wurde. Toby wurde nie mehr gesund werden.

Zwanzig Jahre, hatte Dr. Kaplan gesagt. Und da drau?en war David und wartete auf sie. Sie musste einen Weg finden, aus ihrem Gefangnis zu entkommen.

Es begann an einem dunklen, truben Sonntag. Vormittags regnete es, und der Regen hielt den ganzen Tag an und trommelte auf das Dach und gegen die Fenster des Hauses, bis Jill glaubte, sie wurde verruckt werden. Sie war in ihrem Schlafzimmer, las und versuchte, das eintonige Klopfen der Regentropfen aus ihren Gedanken zu verbannen, als die Nachtschwester hereinkam. Sie hie? Ingrid Johnson. Sie war steif und nordisch.

»Die Kochplatte oben funktioniert nicht«, meldete sie. »Ich muss in die Kuche hinunter, um Mr. Temples Essen zu kochen. Konnten Sie ein paar Minuten bei ihm bleiben?«

Jill fuhlte die Missbilligung in der Stimme der Schwester. Sie fand es seltsam, dass eine Frau die Nahe des Krankenbettes ihres Mannes mied. »Ich werde mich um ihn kummern«, sagte Jill.

Sie legte das Buch weg und ging durch die Diele zu Tobys Krankenzimmer. Als sie den Raum betrat, drang ihr der bekannte Gestank in die Nase. Augenblicklich wurde ihr ganzes Bewusstsein von den Erinnerungen an jene langen, furchterlichen Monate uberflutet, als sie um Tobys Rettung gekampft hatte.

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