Michael Morettis Lebensstil, an deren Ende der Moretti-Proze? erwahnt wurde. Camillo Stela sa? in Leavenworth hinter Gittern, wahrend Michael Moretti frei herumlief. Der Artikel erinnerte die Leser daran, wie Jennifer Parker den Fall zum Platzen gebracht hatte, der fur Moretti Gefangnis oder elektrischen Stuhl bedeutet hatte. Jennifers Magen kribbelte, als sie den Artikel las. Der elektrische Stuhl? Sie selber hatte Moretti mit Freuden unter Strom gesetzt.
Die meisten ihrer Klienten waren unbedeutend, aber die Erfahrungen, die sie sammelte, waren unbezahlbar. Im Laufe der Zeit lernte Jennifer jeden Raum im Gerichtsgebaude an der Centre Street kennen - gena u wie die Leute, die diese Sale bevolkerten.
Wenn einer ihrer Mandanten wegen Einbruchs, Diebstahls, Prostitution oder Drogenmi?brauchs verhaftet wurde, setzte sie sich in Bewegung, um die Kautionsfrage zu regeln, und Feilschen gehorte dazu.
»Die Kaution wird auf funfhundert Dollar festgesetzt.«
»Euer Ehren, der Angeklagte verfugt nicht uber soviel Geld. Wenn das Gericht die Kaution auf zweihundert Dollar heruntersetzt, kann er wieder arbeiten und seine Familie ernahren.«
»Einverstanden. Zweihundert.«
»Danke, Euer Ehren.«
Jennifer war ein vertrauter Gast des Leiters der Beschwerdestelle, an die Kopien aller Verhaftungsberichte gesandt wurden.
»Sie schon wieder, Parker. Um Himmels willen, schlafen Sie eigentlich nie?«
»Hallo, Lieutenant. Einer meiner Klienten wurde wegen Landstreicherei hopsgenommen. Konnte ich den Arrestzettel sehen? Sein Name ist Connery. Clarence Connery.«
»Geben Sie mir einen Tip, Schatzchen. Warum tauchen Sie hier um drei Uhr nachts auf, um einen Landstreicher zu verteidigen?« Jennifer gr inste. »Das hilft mir, sauber zu bleiben.«
Sie war allmahlich mit den nachtlichen Schnellverfahren vertraut, die in Raum 218 des Centre-Street- Gerichtsgebaudes abgehalten wurden. Es war eine ubelriechende, uberfullte Welt mit einem ganz eigenen Geheimslang, der Jennifer am Anfang verwirrt hatte. »Parker, Ihr Klient ist wegen Ebewan dran.«
»Wegen was ist er dran?«
»Ebewan. Wie Einbruch, Brechen, Eindringen, Wohnung, Bewaffnet, Absicht zu toten, Nachts. Mitgekommen?«
»Mitgekommen!«
»Ich vertrete Mi? Luna Tarner.«
»Jesus Christus!«
»Wurden Sie mir mitteilen, wie die Anklage lautet?«
»Einen Moment, ich mu? ihre Karteikarte suchen. Luna Tarner. Das ist ein Fruchtchen... da haben wir's schon. Pross. Geschnappt von der SOZUVE, da unten.«
»Was fur eine Fee?«
»Sie sind neu hier, was? SOZUVE ist die Sondereinheit zur Verbrechensbekampfung. Pross ist gleich Prostituierte, und da unten hei?t sudlich der 42. Stra?e. Capito?«
»Capito.«
Nachtverfahren deprimierten Jennifer. Menschliches Strandgut flutete in das Gericht, angespult auf dem Sandstrand der Justiz.
Jede Nacht wurden mehr als hundertfunfzig Falle verhandelt. Da erschienen Huren und Transvestiten, abgewrackte Saufer und Drogensuchtige, Puertoricaner, Mexikaner, Juden und Iren, Griechen und Italiener, und sie waren angeklagt der Vergewaltigung, des Diebstahls, wegen illegalen Waffenbesitzes, Rauschgiftdelikten, Korperverletzung oder Prostitution. Und sie alle hatten etwas gemeinsam: sie waren arm. Sie waren arm, vom Leben besiegt und hoffnungslos. Sie waren der Abschaum, die Ausgesto?enen, die die Uberflu?gesellschaft vergessen hatte. Ein gro?er Teil von ihnen kam aus Central Harlem, und weil in den Gefangnissen kein Platz mehr war, wurden sie, mit Ausnahme der wirklich schweren Falle, mit einer Geldstrafe belegt und entlassen. Sie wurden zuruckgesto?en auf die Stra?en von Morningside und Manhattan, wo auf dreieinhalb Quadratmeilen zweihundertdreiunddrei?igtausend Neger, achttausend Puertoricaner und ungefahr eine Million Ratten hausten. Die Mehrheit von Jennifers Klienten bestand aus Leuten, die von der Armut, dem System und ihrem eigenen Charakter zugrunde gerichtet worden waren. Es waren Leute, die sich schon seit langem aufgegeben hatten. Jennifer stellte fest, da? die Angste dieser Menschen ihr Selbstvertrauen starkten. Sie fuhlte sich ihnen nicht etwa uberlegen. Sie konnte sich selber beim besten Willen nicht als leuchtendes Beispiel fur gro?e Erfolge anfuhren, und doch bestand zwischen ihr und ihren Klienten ein gro?er Unterschied: sie wurde niemals aufgeben.
Ken Bailey stellte Jennifer Pater Francis Joseph Ryan vor. Pater Ryan war Ende Funfzig, ein energischer, vitaler Mann mit krausem, grauschwarzem Haar, das um die Ohren leicht gelockt war und standig die Hand eines Friseurs zu benotigen schien.
Jennifer mochte ihn auf Anhieb. Hin und wieder, wenn eins seiner Pfarrkinder verschwunden war, erschien Pater Ryan bei Ken und nahm seine Dienste in Anspruch. Ohne Ausnahme trieb Ken den verirrten Ehemann, die verlorengegangene Frau oder die ausgebrochenen Kinder wieder auf. Eine Rechnung wurde dabei weder gestellt noch bezahlt. »Ich betrachte das als Anzahlung auf den Himmel«, erklarte Ken.
Eines Nachmittags, als Jennifer allein war, sah Pater Ryan zur Tur herein.
»Ken ist nicht da, Pater Ryan. Er kommt heute auch nicht mehr.«
»Eigentlich wollte ich mit Ihnen sprechen, Jennifer«, sagte Pater Ryan. Er setzte sich auf den unbequemen alten Holzstuhl vor Jennifers Schreibtisch. »Ein Freund von mir hat ein kleines Problem.«
Genauso begann er immer, wenn er einen Anschlag auf Ken vorhatte. »Ja, Pater?«
»Eine der alteren Frauen aus meiner Gemeinde hat Arger mit der Sozialversicherung. Sie erhalt ihre Rente nicht mehr, seit sie in mein Viertel gezogen ist. Irgendein verdammter Computer -moge er in der Holle verrosten! - hat ihre ganzen Daten verloren.«
»Ich verstehe.«
»Ich wu?te, da? ich mich auf Sie verlassen kann.« Pater Ryan stand auf. »Ich furchte, Sie werden nicht viel dabei verdienen. Gar nichts, um genau zu sein.«
Jennifer lachelte. »Keine Sorge. Ich werde versuchen, die Sache in Ordnung zu bringen.«
Sie hatte gedacht, es wurde sie vielleicht einen oder zwei Anrufe kosten, aber tatsachlich dauerte es drei Tage, bis der Computer die neuen Daten gespeichert hatte.
Einen Monat spater tauchte Pater Ryan in Jennifers Buro auf und sagte: »Ich belastige Sie nur ungern, meine Liebe, aber ein Freund von mir hat ein kleines Problem. Und ich furchte, er hat kein...« Er zogerte. »... Geld«, riet Jennifer.
»Ah, so ist es. Genau. Aber der arme Bursche braucht dringend Hilfe.«
»In Ordnung. Schie?en, Sie los!«
»Er hei?t Abraham Wilson. Er ist der Sohn eines meiner Pfarrkinder. Abraham sitzt in Sing Sing, lebenslanglich. Er hat einen Spirituosenladen uberfallen und den Besitzer getotet.«
»Wenn er verurteilt worden ist und seine Strafe absitzt, verstehe ich nicht, wie ich ihm helfen konnte, Pater.« Pater Ryan seufzte. »Das ist auch nicht Abrahams Problem.«
»Was dann?«
»Vor ein paar Wochen hat er einen weiteren Mann getotet -einen Mitgefangenen namens Raymond Thorpe. Jetzt wollen sie ihn wegen Mordes vor Gericht stellen und die Todesstrafe fordern.«
Jennifer hatte etwas uber den Fall gelesen. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat er den Mann zu Tode geprugelt.« »So hei?t es.«
Jennifer griff nach Block und Bleistift. »Wissen Sie, ob es irgendwelche Zeugen gab?«
»Ich furchte, ja.«
»Wie viele?«
»Oh, hundert oder mehr. Es geschah im Gefangnishof, mussen Sie wissen.«
»Schreckliche Geschichte. Und was soll ich tun?«
»Abraham helfen«, sagte Pater Ryan schlicht. Jennifer legte den Bleistift wieder aus der Hand. »Pater, Abraham kann nur einer helfen - Ihr Bo?.« Sie lehnte sich zuruck. »Wenn er den Gerichtssaal betritt, sprechen schon drei Punkte gegen ihn: Er ist schwarz, er ist bereits einmal des Mordes fur schuldig befunden worden, und er hat einen weiteren Mann vor hundert Zeugen getotet. Ich sehe nicht den geringsten Ansatz fur eine Verteidigung. Wenn der andere Haftling ihn bedroht hat, hatte er die Warter bitten konnen, ihm zu helfen. Statt