Jennifer ging zu Abraham Wilson und setzte sich neben ihn. »Guten Morgen, Abraham.«

Er sah sie an und sagte: »Dachte nich', da? Se komm'n wurd'n.«

Jennifer dachte an ihren Traum. Sie blickte ihm in die kleinen Augen und sagte: »Sie wu?ten, da? ich hier sein wurde.« Er zuckte gleichgultig mit den Schultern. »Is' so oder so egal. Die krieg'n mich, Baby. Die verurteil'n mich weg'n dem Mord, und dann mach'n se 'n Gesetz, dasses legal is', wenn se mich in Ol koch'n, und dann koch'n se mich in Ol. Das wird nie 'n Proze? hier. Das wird 'ne Show. Hamm Se Ihr Popcorn mit?«

Am Tisch des Anklagers entstand Unruhe, und Jennifer sah Staatsanwalt Di Silva neben einer Armee von Assistenten Platz nehmen. Er blickte Jennifer an und lachelte. Jennifer fuhlte Panik in sich aufsteigen.

Ein Gerichtsdiener rief: »Alles aufstehen«, und Richter Lawrence Waldman trat aus seinem Ankleidezimmer herein. »Der Ehrenwerte Richter Lawrence Waldman.« Der einzige, der sich weigerte, aufzustehen, war Abraham Wilson. Jennifer zischte ihm zu: »Stehen Sie auf!«

»Eins geschissen, Baby. Die muss'n schon komm'n un' mich hochzieh'n.«

Jennifer nahm seine riesige Hand in die ihre. »Hoch mit Ihnen, Abraham. Wir werden sie schlagen!« Er betrachtete sie nachdenklich, dann erhob er sich gemachlich.

Richter Waldman nahm auf der Richterbank Platz. Die Zuschauer lie?en sich wieder auf ihren Stuhlen nieder. Der Gerichtsdiener reichte Waldman den Proze?kalender. »Das Volk des Staates von New York gegen Abraham Wilson, angeklagt des Mordes an Raymond Thorpe.«

Normalerweise hatte Jennifer sich instinktiv dafur entschieden, bei einer solchen Verhandlung schwarze Geschworene auszusuchen, aber bei Abraham Wilson war sie sich nicht sicher. Wilson gehorte nicht wirklich zu ihnen. Er war ein Abtrunniger, ein Killer, eine ›Schande fur ihre Rasse‹. Sie wurden vielleicht noch eher dazu neigen, ihn zu verurteilen, als Wei?e. Das einzige, was Jennifer tun konnte, bestand darin, die Jury von offensichtlichen Heuchlern freizuhalten. Aber Heuchler machten keine Reklame fur sich selber. Sie verheimlichten ihre Vorurteile, warteten still auf ihre Gelegenheit zur Rache.

Am Ende des zweiten Tages hatte Jennifer von ihrem Recht, Geschworene abzulehnen, zehnmal Gebrauch gemacht und es damit erschopft. Di Silva hatte keinen einzigen Einspruch erhoben. Unter den letzten zur Befragung eingeladenen, moglichen Geschworene n befanden sich ein Privatdetektiv, ein Bankmanager und die Mutter eines Arztes. Jetzt begriff Jennifer, da? Di Silva sie hereingelegt hatte, denn sie hatte keine Chance zum Einspruch mehr. Der Detektiv, der Manager und die Arztmutter wurden auf der Geschworenenbank sitzen. Die ganze gute Gesellschaft.

Robert Di Silva stand auf und gab seine einleitende Darlegung des Falles.

»Wenn das Hohe Gericht -«, er wandte sich an die Jury, »und Sie meine Damen und Herren Geschworenen gestatten, so mochte ich Ihnen allen zunachst dafur danken, da? Sie Ihre wertvolle Zeit geopfert haben, um dieser Verhandlung beizuwohnen.« Er lachelte freundlich. »Ich wei?, wie lastig es sein kann, als Geschworener seinem Land zu dienen. Sie alle haben einen Beruf und Familien, die Ihrer Aufmerksamkeit bedurfen.«

Er tut, als sei er einer von ihnen, dachte Jennifer, der dreizehnte Geschworene.

»Ich verspreche Ihnen, Ihre Zeit und Geduld so kurz wie nur moglich in Anspruch zu nehmen. Es handelt sich wirklich um einen au?erst einfachen Fall. Der Mann an dem Tisch dort ist der Angeklagte - Abraham Wilson. Der Angeklagte wird vom Staat New York beschuldigt, im Gefangnis von Sing Sing einen Mithaftling, Raymond Thorpe, ermordet zu haben. Es bestehen keine Zweifel an seiner Schuld. Er hat gestanden. Mr. Wilsons Rechtsbeistand wird auf Selbstverteidigung pladieren.«

Der Staatsanwalt wandte sich um, warf einen Blick auf die riesige Gestalt Abraham Wilsons, und die Augen der Geschworenen folgten ihm automatisch. Jennifer konnte die Reaktion auf ihren Gesichtern sehen. Sie zwang sich, auf Di Silvas Worte zu achten.

»Vor einer Reihe von Jahren haben zwolf Burger, Manner und Frauen wie Sie, sich dafur entschieden, Abraham Wilson in ein Zuchthaus bringen zu lassen. Bestimmte juristische Paragraphen erlauben mir leider nicht, mit Ihnen das Verbrechen zu diskutieren, das Wilson damals begangen hat. Andererseits erlauben Sie mir wohl, Ihnen zu versichern, da? die Geschworenen aufrichtig uberzeugt waren, Abraham Wilson einzusperren, wurde ihn daran hindern, weitere Verbrechen zu begehen. Tragischerweise hatten sie sich in diesem Punkt geirrt. Denn selbst hinter Gittern war Abraham Wilson fahig, zu morden, seinen Blutdurst zu stillen. Inzwischen wissen wir endlich, da? es nur einen einzigen Weg gibt, Abraham Wilson daran zu hindern, da? er weiter totet. Er mu? hingerichtet werden. Es wird Raymond Thorpe nicht wieder zum Leben erwecken, aber es kann das Leben der Manner retten, die sonst vielleicht die nachsten Opfer des Angeklagten werden konnen.«

Di Silva ging am Geschworenenstand entlang, sah jedem Geschworenen in die Augen. »Ich habe vorhin erwahnt, da? dieser Fall nicht sehr viel Zeit kosten wurde. Jetzt will ich Ihnen erklaren, warum ich das gesagt habe. Der Angeklagte dort, Abraham Wilson, hat kaltblutig einen Mann ermordet. Er hat den Mord gestanden. Aber selbst, wenn er nicht gestanden hatte, so verfugen wir uber hundert Zeugen, die gesehen haben, wie er kaltblutig diesen Mord beging. Ich verabscheue Mord - ganz gleich aus welchen Motiven - genauso wie Sie. Manchmal aber werden Morde aus Grunden begangen, die wir wenigstens verstehen konnen. Stellen Sie sich vor, jemand bedroht mit einem Messer einen Ihrer Lieben - Ihr Kind, Ihren Ehemann oder Ihre Frau. Nun, falls Sie zufallig einen Revolver bei sich hatten, konnte es passieren, da? Sie abdruckten, um das Leben Ihrer Lieben zu retten. Sie und ich wurden eine solche Handlungsweise vielleicht nicht entschuldigen, aber wir konnten sie sicherlich verstehen. Oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen, wenn Sie mitten in der Nacht von einem Einbrecher geweckt werden, der Ihr Leben bedroht, und Sie hatten eine Chance, Ihr Leben zu retten, und mu?ten ihn dafur toten - nun, ich denke, wir alle konnen verstehen, wie so was passieren mag. Deswegen waren wir aber noch keine Kriminellen oder schlechte Menschen, nicht wahr? Wir haben in der Hitze des Augenblicks gehandelt.« Di Silvas Stimme wurde hart. »Kaltblutiger Mord ist dagegen etwas ganz anderes. Einem menschlichen Wesen das Leben zu nehmen, ohne auch nur die Entschuld igung eines Angstgefuhls oder einer leidenschaftlichen Reaktion zu haben, dieses Leben nur fur Drogen oder Geld oder wegen des reinen Vergnugens am Toten...«

Geschickt und absichtlich beeinflu?te er die Jury gegen Abraham Wilson, aber er uberschritt seine Grenzen nicht, um Jennifer keine Handhabe zu geben, wegen eines Formfehlers einen fehlerhaft gefuhrten Proze? nachweisen oder Revision beantragen zu konnen.

Jennifer beobachtete die Gesichter der Geschworenen. Robert Di Silva hatte sie in der Tasche, ohne jeden Zweifel. Sie stimmten jedem seiner Worte zu. Sie schuttelten den Kopf, nickten oder zuckten zusammen. Es fehlte nur noch, da? sie applaudiert hatten. Er war ein Dirigent, und die Jury war sein Orchester. Jennifer hatte noch nie etwas Ahnliches erlebt. Jedesmal, wenn der Staatsanwalt Abraham Wilsons Namen erwahnte - und er erwahnte ihn in beinahe jedem Satz -, blickten die Geschworenen automatisch den Angeklagten an. Jennifer hatte Wilson eingeblaut, auf keinen Fall zur Jury hinuberzusehen. Immer und immer wieder hatte sie ihm eingescharft, uberall hinzuschauen, nur nicht zu den Geschworenen, denn die Herausforderung, die er ausstrahlte, konnte einen rasend machen. Zu ihrem Entsetzen stellte Jennifer jetzt fest, da? seine Blicke geradezu am Geschworenenstand klebten und sich tief in die Augen der Jurymitglieder bohrten. Aggression schien aus ihm hervorzuquellen. Leise sagte Jennifer: »Abraham...« Er reagierte nicht.

Der Staatsanwalt naherte sich dem Ende seiner Ausfuhrungen. »Die Bibel sagt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Das ist Rache. Der Staat verlangt nicht nach Rache. Er verlangt Gerechtigkeit. Gerechtigkeit fur den armen Mann, den Abraham Wilson kaltblutig - kaltblutig - ermordet hat. Ich danke Ihnen.«

Der Staatsanwalt nahm wieder Platz.

Als Jennifer aufstand, um sich an die Geschworenen zu wenden, konnte sie ihre Ablehnung und Ungeduld spuren. Sie hatte Bucher uber Anwalte gelesen, die fahig waren, die Gedanken der Geschworenen zu lesen, und sie war skeptisch gewesen. Jetzt nicht mehr. Die Botschaft der Jury an sie war klar und deutlich. Die Geschworenen hatten ihren Mandanten bereits schuldig gesprochen, und jetzt vergeudete Jennifer nur noch ihre Zeit und hielt sie im Gericht fest, wo sie doch langst drau?en wichtigeren Beschaftigungen nachgehen konnten, wie ihr Freund, der Staatsanwalt, sehr richtig erkannt hatte. Jennifer und Abraham Wilson waren der Feind. Sie holte tief Luft und sagte: »Wenn Euer Ehren gestatten«, ehe sie sich wieder den Geschworenen zuwandte. »Meine Damen und Herren, es gibt nur deshalb Gerichte, und wir sind nur deshalb heute alle hier, weil das Gesetz in seiner Weisheit erkannt hat, da? jeder Fall zwei Seiten hat. Wenn man hort, wie der Staatsanwalt meinen Mandanten angreift, wie er ihn bereits schuldig spricht, ohne sich dabei auf das Urteil einer Jury - auf Ihr Urteil - stutzen zu konnen, dann mu?te man fast einen gegenteiligen Eindruck gewinnen.« Sie blickte in die Gesichter der Geschworenen, suchte nach einem Zeichen der Sympathie oder Zustimmung, aber es gab keines. Sie zwang sich fortzufahren. »Staatsanwalt Di Silva hat einen Satz immer und immer wieder benutzt ->Abraham Wilson ist schuldig<. Das ist eine Luge. Richter Waldman wird Ihnen erklaren, da? ein Angeklagter so lange unschuldig ist,

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