bis ein Richter oder eine Jury das Gegenteil befindet. Und deswegen sind wir alle hier, um diese Frage zu klaren, nicht wahr? Abraham Wilson wird beschuldigt, einen Mithaftling in Sing Sing umgebracht zu haben. Aber Abraham Wilson hat nicht fur Geld oder Rauschgift getotet. Er totete, um sein eigenes Leben zu retten. Sie werden sich so gut wie ich an die geschickten Beispiele erinnern, mit denen der Staatsanwalt den Unterschied zwischen kaltblutigem Mord und Totschlag im Affekt erklart hat. Um Totschlag im Affekt handelt es sich, wenn Se jemanden, den Sie lieben, beschutzen oder wenn Sie sich Ihrer Haut wehren. Abraham Wilson hat getotet, um sich selber zu schutzen, und ich sage Ihnen hier und jetzt, da? jeder von uns hier im Gerichtssaal unter denselben Umstanden genauso gehandelt hatte.
Der Staatsanwalt und ich stimmen in einem Punkt uberein: Jeder Mensch hat das Recht, sein eigenes Leben zu schutzen. Wenn Abraham Wilson sich anders verhalten hatte, als er es getan hat, ware er jetzt tot.« Jennifers Stimme klang aufrichtig. Ihre leidenschaftliche Uberzeugung hatte sie alle Nervositat vergessen lassen. »Ich bitte jeden von Ihnen, eines nicht zu vergessen: nach den Gesetzen dieses Staates mu? die Anklage uber jeden Zweifel hinaus beweisen, da? Raymond Thorpes Tod nicht in einem Akt der Selbstverteidigung herbeigefuhrt wurde. Und bevor dieser Proze? vorbei ist, werden wir Ihnen klare Beweise dafur liefern, da? Thorpe getotet wurde, damit er meinen Mandanten nicht umbringen konnte. Ich danke Ihnen.«
Die Parade der Zeugen der Anklage begann. Robert Di Silva hatte keine Moglichkeit au?er acht gelassen. Seine Leumundszeugen fur Raymond Thorpe umfa?ten einen Geistlichen, Gefangniswarter und ein paar Mithaftlinge. Einer nach dem anderen bestiegen sie den Zeugenstand und bestatigten den tadellosen Charakter und die friedliche Veranlagung des Getoteten.
Jedesmal, wenn der Staatsanwalt mit einem Zeugen fertig war, wandte er sich an Jennifer und sagte: »Ihr Zeuge.« Und jedesmal antwortete Jennifer: »Kein Kreuzverhor.«
Sie wu?te, da? es keinen Sinn hatte, die Leumundszeugen in ein schiefes Licht zu rucken. Als sie fertig waren, hatte man denken konnen, da? Raymond Thorpe nur um ein Haar der Heiligsprechung entgangen war. Die Warter, von Di Silva sorgfaltig gelenkt, sagten aus, Thorpe sei ein Mustergefangener gewesen, der durch Sing Sing gewandelt war und eine Spur von guten Taten hinter sich gelassen hatte, immer auf dem Sprung, seinem Nachsten zu helfen. Die Tatsache, da? Raymond Thorpe des Bankraubs und der Vergewaltigung uberfuhrt war, schien nur ein verschwindend kleiner Makel an einem ansonsten vollkommenen Charakter zu sein. Jennifers ohnehin auf schwachen Beinen stehende Verteidigung wurde durch die Beschreibung von Thorpes Au?erem zusatzlich erschuttert. Er war ein schwachlich gebauter Mann und kaum einen Meter sechzig gro? gewesen. Robert Di Silva ritt auf dieser Tatsache herum und lie? sie die Geschworenen niemals vergessen. Er schuf ein plastisches Bild davon, wie Abraham Wilson den kleineren Mann brutal und bosartig angefallen, seinen Kopf gegen eine Zementmauer des Gefangnishofes geschmettert und damit seinen sofortigen Tod verursacht habe. Wahrend Di Silva sprach, hingen die Augen der Geschworenen an dem Kolo? am Angeklagtentisch, der jeden in seiner Umgebung wie einen Zwerg erscheinen lie?.
Der Staatsanwalt sagte: »Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, was Abraham Wilson dazu veranla?te, diesen harmlosen, unbewaffneten kleinen Mann...« Und plotzlich tat Jennifers Herz einen Sprung. Eines der Worte, die Di Silva gesagt hatte, gab ihr die Chance, die sie so verzweifelt brauchte.
»... wir werden vielleicht nie wissen, was den Angeklagten zu seinem bosartigen Uberfall hingerissen hat, aber wir wissen mit Sicherheit, meine Damen und Herren, der Grund ist nicht darin zu suchen, da? der Ermordete eine Bedrohung fur Abraham Wilson dargestellt hatte.« Er wandte sich an Richter Waldman. »Euer Ehren, wurden Sie den Angeklagten bitten, aufzustehen?«
Richter Waldman blickte Jennifer an. »Hat der Vertreter der Verteidigung irgendwelche Einwande?« Jennifer ahnte, was nun folgen wurde, aber sie wu?te, da? jeder Einwand sich nur nachteilig auswirken wurde. »Nein, Euer Ehren.«
Richter Waldman sagte: »Wurde der Angeklagte bitte aufstehen.«
Abraham Wilson blieb einen Moment lang mit trotzigem Gesicht sitzen; dann richtete er sich langsam zu seiner vollen Gro?e auf.
Di Silva sagte: »Unter den Anwesenden befindet sich ein Gerichtsdiener, Mr. Galin, der genau die Gro?e des ermordeten Mannes hat. Mr. Galin, wurden Sie sich bitte neben den Angeklagten stellen?«
Der Gerichtsdiener ging zu Abraham Wilson und stellte sich neben ihn. Der Gro?enunterschied zwischen den beiden Mannern war absurd. Jennifer wu?te, da? sie wieder ausgetrickst worden war, aber sie konnte nichts dagegen unternehmen. Der optische Eindruck war nie mehr wegzuwischen. Der Staatsanwalt betrachtete die beiden Manner fur eine Weile, dann sagte er, beinahe flusternd, zu der Jury: »Selbstverteidigung?«
Der Proze? lief schlechter als in Jennifers wildesten Alptraumen. Sie konnte spuren, wie ungeduldig die Geschworenen das Ende der Verhandlung erwarteten, damit sie ihren Schuldspruch abgeben konnten.
Ken Bailey sa? unter den Zuschauern, und wahrend einer Pause konnte Jennifer ein paar Worte mit ihm wechseln. »Kein leichter Fall«, meinte Ken teilnahmsvoll. »Ich wu nschte, du hattest nicht gerade King Kong als Mandanten. Jesus, sein Anblick allein genugt schon, um jeden vor Angst zittern zu lassen.«
»Ich kann nichts dafur.«
»Du kennst den alten Witz: Er hatte zu Hause bleiben konnen. Wie kommst du mit unserem geschatzten Staatsanwalt aus?«
Jennifer lachelte ihn freudlos an. »Mr. Di Silva hat mir heute morgen eine Botschaft zukommen lassen. Er beabsichtigt, mich aus dem Berufsstand zu fegen.«
Als die Parade der Zeugen der Anklage voruber war und Di Silva die Beweisaufnahme abgeschlossen hatte, stand Jennifer auf und sagte: »Ich bitte Mr. Howard Patterson in den Zeugenstand.«
Der stellvertretende Direktor von Sing Sing stand widerstrebend auf und ging zum Zeugenstand. Alle Augen hingen an ihm. Robert Di Silva beobachtete gespannt, wie Patterson vereidigt wurde. Sein Verstand raste, berechnete alle Moglichkeiten. Er wu?te, da? er den Proze? gewonnen hatte. Seine Siegesrede war bereits vorbereitet. Jennifer wandte sich an den Zeugen: »Wurden Sie den Geschworenen bitte ein paar Informationen uber sich geben, Mr. Patterson?«
Staatsanwalt Di Silva sprang auf. »Der Staat verzichtet auf den Hintergrund des Zeugen, um Zeit zu sparen, und wir kommen uberein, da? Mr. Patterson der stellvertretende Direktor von Sing Sing ist.«
»Ich danke Ihnen«, sage Jennifer. »Ich glaube, die Jury sollte daruber informiert werden, da? Mr. Patterson unter Strafandrohung vorgeladen werden mu?te und da? er ein unfreiwilliger Zeuge ist.« Sie wandte sich an Patterson. »Als ich Sie bat, sich aus freien Stucken hier einzufinden und fur meinen Mandanten auszusagen, haben Sie sich geweigert. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Wurden Sie der Jury erklaren, warum Sie vorgeladen werden mu?ten?«
»Mit Vergnugen. Ich hatte mein ganzes Leben mit Mannern wie Abraham Wilson zu tun. Sie sind geborene Unruhestifter.«
Robert Di Silva lehnte sich grinsend in seinem Stuhl vor, die Augen auf die Gesichter der Geschworenen geheftet. Er flusterte dem Assistenten neben sich zu: »Jetzt werden Sie Zeuge, wie sie selber ihren Kopf in die Schlinge legt.« Jennifer sagte: »Mr. Patterson, Abraham Wilson steht nicht vor Gericht, weil er ein Unruhestifter ist. Es geht um sein Leben. Waren Sie nicht bereit, einem menschlichen Wesen zu helfen, das zu Unrecht eines Kapitalverbrechens angeklagt ist?«
»Wenn es zu Unrecht angeklagt ware, ja.« Die Betonung auf zu Unrecht lie? einen wissenden Ausdruck auf den Gesichtern der Geschworenen erscheinen.
»Schon vor diesem Fall wurden Menschen innerhalb von Gefangnismauern getotet, nicht wahr?«
»Wenn Sie Hunderte gewalttatige Menschen in einer kunstlichen Umgebung einsperren, entwickelt sich ganz automatisch eine au?erordentliche Feindseligkeit und...«
»Nur ja oder nein bitte, Mr. Patterson.«
»Ja.«
»Wurden Sie sagen, da? es fur die Morde, die Sie in Ihrer Praxis erlebt haben, eine Vielzahl von Motiven gab?«
»Nun, ich nehme es an. Manchmal...«
»Ja oder nein, bitte,«
»Ja.«
»War jemals Selbstverteidigung der Grund fur einen dieser Morde im Gefangnis?«
»Nun, manchmal...« Er bemerkte den Ausdruck auf Jennifers Gesicht. »Ja.«