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Jennifer bereitete sich auf Abraham Wilsons Verhandlung vor, wie sie sich noch nie im Leben auf etwas vorbereitet hatte. Sie verbrachte endlose Stunden uber Gesetzbuchern, informierte sich uber Verfahrensweisen und Verteidigungsstrategien. In langen Sitzungen versuchte sie, ihrem Mandanten naherzukommen und alle Informationen zu sammeln, die sie kriegen konnte. Es war kein leichtes Unterfangen. Wilson war von Anfang an gehassig und sarkastisch. »Woll'n Se was von mir wiss'n, Schatzchen? Mit zehn hab' ich zum erst'nmal gefickt. Wie alt war'n Sie?« Jennifer zwang sich, seinen Ha? und seine Verachtung zu ignorieren, denn sie merkte, da? sich dahinter tiefe Furcht verbarg. Und so lie? Jennifer nicht locker. Sie wollte wissen, wie Wilsons Kindheit gewesen war, sie fragte ihn nach seinen Eltern und den Erfahrungen, die aus dem Jungen einen Mann geformt hatten. Im Verlauf einiger Wochen wurde aus Wilsons Widerstand Interesse, und das Interesse wich Faszination. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Anla? gehabt, uber sich selber nachzudenken - was fur ein Mensch er war und warum.

Jennifers bohrende Fragen erweckten Erinnerungen, einige davon nur unangenehm, andere unertraglich schmerzhaft. Wahrend der Sitzungen, in denen Jennifer Wilson uber seinen Vater ausfragte, der ihn regelma?ig brutal verprugelt hatte, konnte es passieren, da? Wilson ihr befahl, ihn allein zu lassen. Dann stand sie auf und ging, aber sie kehrte immer wieder zuruck.

Vorher hatte Jennifer schon wenig Privatleben gehabt, nun hatte sie gar keines mehr. Wenn sie nicht bei Abraham Wilson war, hielt sie sich im Buro auf, sieben Tage in der Woche, vom fruhen Morgen bis weit nach Mitternacht, und studierte alles, was sie uber Mord und vorsatzlichen oder unbeabsichtigten Totschlag finden konnte. Nachdem sie Hunderte von Gerichtsentscheidungen, Prazedenzfallen und Verhandlungsprotokollen analysiert hatte, beschaftigte sie sich in erster Linie damit, wie man die Anklage in Totschlag umandern konnte.

Abraham hatte den Mann nicht vorsatzlich getotet. Aber wurde eine Jury das glauben? Vor allem Geschworene aus der Umgebung? Die Nachbarn von Sing Sing ha?ten die Straflinge in ihrer Mitte. Jennifer setzte sich fur eine Verlegung des Gerichtsortes ein, und die wurde gewahrt. Der Proze? wurde in Manhattan stattfinden.

Dann mu?te sie eine wichtige Entscheidung treffen: sollte sie Abraham Wilson in den Zeugenstand rufen? Er erweckte einen durch und durch negativen Eindruck, aber wenn die Geschworenen die Geschichte aus seinem eigenen Mund horten, konnte sie das vielleicht fur ihn einnehmen. Das Problem bestand darin, da? sie damit der Anklage die Moglichkeit gab, Wilsons Vergangenheit und die Liste seiner Straftaten aufzurollen, darunter den Mord, fur den er bereits verurteilt war. Sie fragte sich, welchen seiner Assistenten Di Silva gegen sie ins Feld schicken wurde. Er verfugte uber ein halbes Dutzend qualifizierter Manner, die Mordanklagen vertraten, und Jennifer machte sich mit ihren Techniken vertraut. Sie verbrachte soviel Zeit wie moglich in Sing Sing, besichtigte den Schauplatz des Mordes, sprach mit Abraham, den Wartern und interviewte Dutzende von Haftlingen, die Thorpes Tod miterlebt hatten.

»Raymond Thorpe hat Abraham Wilson mit einem Messer angegriffen«, sagte Jennifer. »Einem gro?en Fleischermesser. Sie mussen es doch bemerkt haben.«

»Ich? Ich habe kein Messer gesehen.«

»Sie mussen. Sie standen direkt daneben.«

»Lady, ich hab' wirklich nichts gesehen.« Niemand wollte in die Geschichte verwickelt werden.

Manchmal nahm Jennifer sich die Zeit fur eine richtige Mahlzeit, aber meistens schlang sie hastig ein Sandwich am Imbi?stand des Gerichtsgebaudes herunter. Sie begann, Gewicht zu verlieren und unter Schwindelanfallen zu leiden. Ken Bailey machte sich Sorgen. Er fuhrte sie zu ›Forlini's‹ gegenuber dem Gericht und bestellte eine ausgiebige Mahlzeit fur sie. »Beabsichtigst du, dich umzubringen?«

»Naturlich nicht.«

»Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?«

»Nein.«

Er betrachtete sie und sagte: »Wenn du einen Funken Verstand hast, la?t du die Finger von dem Fall.«

»Warum?«

»Weil du die reinste Tontaube sein wirst. Jennifer, ich hore doch, was auf der Stra?e gesprochen wird. Die Presse macht sich schon in die Hose, so wild ist sie darauf, sich wieder auf dich einzuschie?en.«

»Ich bin Rechtsanwaltin«, sagte Jennifer storrisch. »Abraham Wilson hat ein Recht auf einen fairen Proze?, und ich werde mich darum kummern, da? er einen bekommt.« Sie bemerkte den besorgten Ausdruck in Ken Baileys Gesicht. »Keine Sorge, soviel Aufmerksamkeit wird der Proze? auch wieder nicht bekommen.«

»Ach nein? Wei?t du, wer die Anklage vertreten wird?«

»Nein.«

»Robert Di Silva.«

Jennifer betrat das Gerichtsgebaude am Eingang Leonard Street und bahnte sich ihren Weg durch die Menschen, die sich durch die Wandelhalle walzten, vorbei an uniformierten Polizisten, wie Hippies gekleideten Kriminalbeamten und Anwalten mit Aktentaschen. Sie ging auf den gro?en, kreisformig angelegten Informationstisch zu und nahm dann den Aufzug in den sechsten Stock. Ihr Ziel war das Buro des Staatsanwalts. Seit ihrem letzten Zusammentreffen mit Robert Di Silva war beinahe ein Jahr vergangen, und Jennifer freute sich nicht gerade auf das Wiedersehen. Sie beabsichtigte, ihn daruber zu informieren, da? sie Abraham Wilsons Verteidigung niederlegte.

Es hatte Jennifer drei schlaflose Nachte gekostet, eine Entscheidung zu treffen. Den endgultigen Ausschlag hatte die Uberlegung gegeben, da? in erster Linie die Interessen ihres Klienten berucksichtigt werden mu?ten. Normalerweise ware der Fall Wilson nicht wichtig genug gewesen, da? Di Silva sich selber darum kummerte. Der einzige Grund fur die Aufmerksamkeit des Staatsanwalts lag daher in Jennifers Erscheinen vor Gericht. Di Silva wollte Rache. Er wollte ihr eine Lehre erteilen. Und so blieb ihr keine andere Wahl, als sich von Wilsons Verteidigung zuruckzuziehen. Sie konnte nicht zulassen, da? er hingerichtet wurde, nur weil sie einmal einen Fehler begangen hatte. Wenn sie nicht mehr mit dem Fall zu tun hatte, wurde Robert Di Silva vielleicht nachsichtiger mit Wilson umgehen. Sie war hier, um Abraham Wilsons Leben zu retten.

Es war ein seltsames Gefuhl, die Vergangenheit noch einmal zu durchleben, als sie im sechsten Stock ausstieg und auf die Tur mit dem Schild Staatsanwalt, Staat von New York zuging. Dahinter sa? dieselbe Sekretarin am selben Tisch wie damals. »Ich bin Jennifer Parker. Ich habe eine Verabredung mit...«

»Sie konnen gleich hineingehen«, sagte die Sekretarin. »Der Staatsanwalt erwartet Sie.«

Robert Di Silva stand hinter seinem Schreibtisch, kaute auf einer nassen Zigarre herum und gab zwei Assistenten Instruktionen. Er verstummte, als Jennifer eintrat. »Ich hatte gewettet, Sie wurden nicht kommen.«

»Ich bin da.«

»Ich dachte, Sie hatten den Schwanz eingezogen und langst die Stadt verlassen. Was wollen Sie?«

Vor seinem Schreibtisch standen zwei Stuhle, aber er forderte Jennifer nicht auf, Platz zu nehmen.

»Ich bin hier, um mit Ihnen uber meinen Mandanten zu sprechen, Abraham Wilson.«

Robert Di Silva setzte sich, lehnte sich in seinem Stuhl zuruck und gab vor, nachzudenken. »Abraham Wilson... ach ja. Das ist der Killernigger, der einen Mann im Gefangnis zu Tode geprugelt hat. Es sollte Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, ihn zu verteidigen.« Er warf seinen beiden Assistenten einen Blick zu, und sie verlie?en den Raum. »Nun, Frau Kollegin?«

»Ich mochte uber einen Rechtseinwand sprechen.« Robert Di Silva betrachtete sie mit ubertriebenem Erstaunen. »Sie meinen, Sie sind hier, um einen Handel abzuschlie?en? Sie setzen mich in Erstaunen. Ich dachte, da? jemand mit Ihrem gro?en juristischen Talent fahig ware, Wilson aus dem Stand heraus zu einem Freispruch zu verhelfen.«

»Mr. Di Silva, ich wei?, es sieht wie ein offen zutage liegender Fall aus«, begann Jennifer, »aber es gibt mildernde Umstande. Abraham Wilson war -« Staatsanwalt Di Silva unterbrach sie. »Lassen Sie es mich Ihnen mit juristischen Ausdrucken erklaren, die auch Sie verstehen konnen, Frau Kollegin. Sie konnen Ihre mildernden Umstande nehmen und sie sich in den Arsch stecken!« Er sprang auf, seine Stimme zitterte vor Wut. »Mit Ihnen

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