dessen hat er das Recht in die eigene Hand genommen. Auf der ganzen Welt gibt es keine Jury, die ihn nicht verurteilen wurde.«
»Er ist immer noch ein menschliches Wesen. Konnten Sie nicht wenigstens mit ihm sprechen?«
Jennifer seufzte. »Ich rede mit ihm, wenn Sie wollen, aber ich verspreche Ihnen nichts.«
Pater Ryan nickte. »Ich verstehe. Es konnte vielleicht ziemlich viel Wirbel verursachen.«
Sie hatten beide denselben Gedanken. Abraham Wilson war nicht der einzige, der den Aufschlag gegen sich hatte.
Sing Sing liegt in der Nahe von Ossining, drei?ig Meilen oberhalb von Manhattan am ostlichen Ufer des Hudson River. Jennifer nahm den Bus. Sie hatte mit dem stellvertretenden Direktor telefoniert, und er hatte dafur gesorgt, da? sie mit Abraham Wilson, der in Einzelhaft gehalten wurde, sprechen konnte.
Wahrend der Busfahrt fuhlte Jennifer eine Entschlossenheit, die sie lange nicht mehr gespurt hatte. Sie war auf dem Weg nach Sing Sing, um einen des Mordes verdachtigten Mandanten zu treffen. Fur einen solchen Fall hatte sie studiert, darauf hatte sie sich vorbereitet. Zum erstenmal in ihrem Leben fuhlte sie sich wie ein Rechtsanwalt, und dennoch wu?te sie, da? sie unrealistisch war. Sie fuhr nicht nach Sing Sing, um einen Mandanten zu sprechen, sondern um einem Mann mitzuteilen, da? sie ihn nicht vertreten konnte. Sie konnte es sich nicht leisten, in das Rampenlicht eines solchen Prozesses zu treten, wenn sie keine Chance hatte zu gewinnen. Abraham Wilson wurde jemand anderen finden mussen, der seine Verteidigung ubernahm.
Ein schabiges Taxi brachte Jennifer von der Busstation zur Strafanstalt. Sie klingelte am Seiteneingang, und ein Warter offnete die Tur, suchte ihren Namen auf seiner Liste und fuhrte sie dann zum Buro des stellvertretenden Direktors. Der stellvertretende Direktor war ein gro?er, stammiger Mann. Sein Haar war militarisch kurzgeschnitten und das Gesicht von Akne entstellt. Er hie? Howard Patterson. »Ich bin fur alles dankbar, was Sie mir uber Abraham Wilson erzahlen konnen«, begann Jennifer.
»Falls Sie Trost suchen, hier werden Sie keinen finden.« Patterson streifte das Dossier auf dem Schreibtisch vor ihm mit einem Blick. »Wilson hat praktisch sein ganzes Leben im Gefangnis verbracht. Mit elf wurde er geschnappt, als er Wagen stahl, mit dreizehn wegen eines Raububerfalls verhaftet. Mit funfzehn wurde er wegen Vergewaltigung hopsgenommen, mit achtzehn war er bereits Zuhalter und verbu?te wenig spater eine Haftstrafe, weil er eins seiner Madchen ins Krankenhaus gebracht hatte...« Patterson blatterte im Dossier. »Was immer Sie wollen, hier ist es - Messerstecherei, bewaffneter Raububerfall und als Kronung ein fetter Mord.«
Es war eine deprimierende Aufzahlung.
»Besteht auch nur die leiseste Moglichkeit, da? Abraham Wilson Raymond Thorpe nicht getotet hat?« fragte Jennifer.
»Vergessen Sie das. Wilson ist der erste, der seine Tat zugibt, aber es wurde nicht den geringsten Unterschied bedeuten, wenn er alles abstritte. Wir haben hundertzwanzig Zeugen.«
»Kann ich Mr. Wilson sehen?«
Howard Patterson stand auf. »Sicher, aber Sie vergeuden Ihre Zeit.«
Abraham Wilson war das ha?lichste menschliche Wesen, das Jennifer je gesehen hatte. Er war pechschwarz. Seine Nase schien mehrmals gebrochen zu sein. Er hatte kleine, unstete Augen, und ihm fehlten die Vorderzahne. Sein Gesicht trug die Narben zahlreicher Messerstechereien. Er war ungefahr einen Meter neunzig gro? und von bulliger Statur. Er bewegte sich schleppend, denn er hatte riesige, flache Fu?e. Wenn Jennifer Abraham Wilson in einem Worte hatte beschreiben mussen, sie hatte ihn bedrohlich genannt. Sie konnte sich gut vorstellen, wie dieser Mann auf Geschworene wirken wurde.
Abraham und sie sa?en in einem mit allen Sicherheitsvorkehrungen ausgestatteten Besuchszimmer, ein dickes Drahtnetz zwischen sich. An der Tur stand ein Warter. Wenn Jennifer noch die geringsten Zweifel gehabt hatte, ob sie diesen Fall nicht doch ubernehmen sollte, so waren sie jetzt, bei Abraham Wilsons Anblick, weggefegt worden. Sie sa? ihm nur gegenuber, aber sie spurte, wie der Ha? aus ihm hervorstromte. Jennifer sagte: »Mein Name ist Jennifer Parker. Ich bin Rechtsanwaltin. Pater Ryan bat mich, Sie aufzusuchen.«
»Dieser gottverdammte, verfickte Apostel!« spie Wilson durch das Drahtnetz und bespruhte Jennifer dabei mit Speichel.
Ein wundervoller Anfang, dachte sie. Mit Bedacht verzichtete sie darauf, sich den Speichel vom Gesicht zu wischen. »Brauchen Sie etwas, Mr. Wilson?«
Wilson bedachte sie mit einem zahnlosen Grinsen. »Einen Weiberarsch, Baby. Ham Se Lust?«
Sie reagierte nicht. »Wollen Sie mir erzahlen, was hier passiert ist?«
»He, meine Lebensgeschichte krieg'n Se nich' umsonst, da muss'n Se was ausspuck'n. Die verkauf ich noch an'n Film. Vielleicht spiel' ich selber die Hauptrolle.« Die Wut, die aus ihm hervorquoll, war angsteinflo?end. Jennifer wollte nichts wie heraus aus diesem Raum. Der stellvertretende Direktor hatte recht gehabt. Sie vergeudete ihre Zeit.
»Ich furchte, da? ich nichts fur Sie tun kann, Mr. Wilson, wenn Sie mir nicht helfen. Ich habe Pater Ryan versprochen, da? ich wenigstens mit Ihnen reden wurde.« Wieder grinste Wilson sein za hnloses Grinsen. »Machtig toll von dir, Schatzchen! Wulste dir das mit' in Arsch nich' noch mal uberleg'n?«
Jennifer stand auf. Sie hatte genug. »Hassen Sie eigentlich jeden?«
»Sag dir was, Puppe - du kriechs' in meine Haut, un' ich kriech' in deine, un' dann klopp'n wir Spruche uber Ha?.« Jennifer stand da, starrte in das ha?liche schwarze Gesicht, verdaute, was Wilson gesagt hatte, und setzte sich dann langsam wieder hin. »Wollen Sie mir Ihre Seite der Story erzahlen, Abraham?«
Er bohrte seine Augen wortlo s in die ihren. Jennifer wartete, erwiderte den Blick und fragte sich, wie man sich in dieser schwarzen, narbenubersaten Haut fuhlen mochte. Sie uberlegte, wie viele unsichtbare Narben die Seele dieses Mannes wohl hatte.
Das Schweigen dauerte lange. Schlie?lich sagte Abraham Wilson: »Ich hab' den Hundesohn gekillt.« »Warum?«
Er zuckte mit den Schultern. »Der Mutterficker ging mit dies'in gro?'n Fleischerdolch auf mich los un'...«
»Erzahlen Sie mir keine Geschichten. Haftlinge wandern nicht mit Fleischermessern herum.«
Wilsons Gesicht verfinsterte sich, und er sagte: »Zieh Leine, Lady. Ich hab' nich' um deine Hilfe gebet'n.« Er stand auf. »Un' la? dich hier nicht' mehr blick'n, verstanden! Ich bin'n beschaftigter Mann.«
Er wandte ihr den Rucken zu und ging zu dem Warter. Eine Sekunde spater hatten beide den Raum verlassen. Damit hatte es sich. Wenigstens konnte Jennifer Pater Ryan jetzt sagen, da? sie mit Wilson gesprochen hatte. Mehr vermochte sie nicht zu tun.
Ein Warter fuhrte sie aus dem Gebaude. Sie uberquerte den Gefangnishof in Richtung Haupttor und dachte an Abraham Wilson und ihre Reaktion auf ihn. Sie mochte den Mann nicht, und deshalb tat sie etwas, wozu sie kein Recht hatte: Sie richtete ihn. Sie hatte ihn bereits schuldig gesprochen, obwohl er noch keinen Proze? gehabt hatte. Vielleicht hatte Thorpe ihn wirklich angegriffen, naturlich nicht mit einem Messer, aber mit einem Stein zum Beispiel. Jennifer blieb stehen und zogerte. Ihr Instinkt riet ihr, nach Manhattan zuruckzufahren und Abraham Wilson zu vergessen. Statt dessen drehte sie um und ging noch einmal zum Buro des stellvertretenden Direktors.
»Wilson ist ein harter Fall«, sagte Howard Patterson. »Wenn die Voraussetzungen es zulassen, ziehen wir Rehabilitierung der Bestrafung vor, aber in seinem Fall haben wir keine Chance. Das einzige, was Wilson beruhigen kann, ist der elektrische Stuhl.«
Was fur eine erschreckende Logik, dachte Jennifer. »Er hat mir erzahlt, der Mann, den er getotet hat, hatte ihn mit einem Fleischermesser angegriffen.«
»Das kann stimmen.«
Die Antwort verwunderte sie. »Was meinen Sie damit? Wollen Sie behaupten, ein Haftling konnte hier im Gefangnis an ein Messer kommen? Ein Fleischermesser?« Howard Patterson zuckte mit den Schultern. »Mi? Parker, in diesen Mauern befinden sich zwolfhundertvierzig Haftlinge, und einige von ihnen sind au?erst erfinderisch. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.«
Patterson fuhrte Jennifer einen langen Korridor hinunter an eine verschlossene Tur. Er offnete die Tur mit einem Schlussel aus einem gro?en Bund und schaltete das Licht an. Jennifer betrat einen kleinen, kahlen Raum mit eingebauten Regalen. »Hier bewahren wir die Bonbondose der Gefangenen auf.« Er ging zu einem gro?en Kasten und offnete den Deckel.
Unglaubig starrte Jennifer in den Kasten. Dann blickte sie Howard Patterson an und sagte: »Ich mochte noch einmal mit meinem Mandanten sprechen.«