Michael Moretti und sein Schwiegervater beendeten ihr Fruhstuck auf Antonio Granellis Farm in New Jersey. Michael las den Artikel uber Jennifer Parker.
Er blickte auf und sagte zu seinem Schwiegervater: »Sie hat es schon wieder geschafft, Tony.«
Antonio Granelli schob sich einen Loffel Ruhrei in den Mund. »Wer hat was schon wieder geschafft?«
»Diese Anwaltin. Jennifer Parker. Sie ist ein Naturtalent.« Antonio Granelli grunzte. »Ich mag den Gedanken nicht, da? Frauen fur uns arbeiten. Frauen sind schwach. Du wei?t nie, was ihnen gerade einfallt.«
Michael sagte vorsichtig: »Du hast recht. Eine Menge Frauen sind unberechenbar, Tony.«
Es lohnte sich nicht, seinem Schwiegervater zu widersprechen. Solange Antonio Granelli lebte, war er gefahrlich; aber wenn er ihn betrachtete, wu?te Michael, da? er nicht mehr lange warten mu?te. Der alte Mann hatte eine Reihe leichter Schlaganfalle hinter sich, und seine Hande zitterten. Er hatte Schwierigkeiten beim Sprechen, und beim Gehen brauchte er einen Stock. Seine Haut erinnerte an trockenes, gelbes Pergament. Er war saft- und kraftlos geworden. Der Mann, den die FBI-Agenten zum Staatsfeind Nummer eins erklart hatten, war ein zahnloser Tiger. Sein Name hatte zahllose Mafiosi in Angst und Schrecken versetzt, ihre Witwen mit Ha? erfullt. Jetzt sahen nur noch wenige Menschen Antonio Granelli von Angesicht zu Angesicht. Er versteckte sich hinter Michael, Thomas Colfax und ein paar anderen, denen er vertraute. Michael war noch nicht zum Oberhaupt der Familie ernannt worden, aber es war nur eine Frage der Zeit. »Drei-Finger-Brown« Lucchese war der machtigste der funf Mafia-Hauptlinge an der Ostkuste gewesen, dann Antonio Granelli und bald... Michael konnte es sich leisten, Geduld zu haben. Er hatte einen weiten, weiten Weg hinter sich gebracht, seit er als frecher, unverdorbener Junge vor den wichtigsten Dons von New York gestanden und mit einem brennenden Stuck Papier in der Hand geschworen hatte: »So werde auch ich verbrennen, wenn ich die Geheimnisse der Cosa Nostra verrate.«
Jetzt, beim Fruhstuck mit dem alten Mann, sagte er: »Vielleicht konnten wir die Parker fur kleine Sachen gebrauchen. Nur, um zu sehen, wie sie sich anstellt.« Granelli zuckte mit den Schultern. »Sei vorsichtig, Mike. Ich mochte nicht, da? Fremde mit Familiengeheimnissen zu tun haben.«
»La? mich nur machen.«
Michael erledigte den Anruf noch an diesem Nachmittag. Als Cynthia verkundete, Michael Moretti sei am Telefon, brach eine Flut unangenehmer Erinnerungen uber Jennifer herein. S ie konnte sich nicht vorstellen, warum Moretti sie anrufen sollte.
Aus Neugier nahm sie den Horer ab. »Was wollen Sie?« Die Scharfe in ihrer Stimme verbluffte Michael. »Ich mochte Sie treffen. Ich glaube, wir sollten uns einmal unterhalten.«
»Woruber, Mr. Moretti?«
»Nichts, was ich gern am Telefon erklaren wurde. Ich kann Ihnen nur soviel verraten, Mi? Parker - es handelt sich um etwas, das sehr in Ihrem Interesse lage.« Jennifer sagte schroff: »Ich kann Ihnen auch etwas verraten, Mr. Moretti. Nichts, was Sie tun oder sagen, konnte mich auch nur im geringsten interessieren.« Und sie knallte den Horer auf.
Michael Moretti sa? an seinem Schreibtisch und starrte den stummen Horer in seiner Hand an. Er fuhlte einen Aufruhr in sich, aber es war nicht Wut oder Zorn. Er war nicht sicher, um was es sich handelte, und er war nicht sicher, da? er es mochte. Er hatte Frauen sein Leben lang benutzt, und sein gutes Aussehen und seine angeborene Skrupellosigkeit hatten ihm mehr willige Betthaschen verschafft, als er aufzahlen konnte.
Grundsatzlich verachtete Michael Moretti Frauen. Sie waren zu weich. Sie hatten keinen Verstand. Rosa, zum Beispiel. Sie ist nicht mehr als ein kleiner Hund, der tut, was man ihm sagt, dachte er. Sie halt mein Haus in Ordnung, kocht fur mich, fickt mich, wenn ich gefickt werden will, und halt den Mund, wenn ich ihn ihr verbiete. Michael hatte nie eine Frau mit Verstand gekannt, eine Frau, die den Mut hatte, ihm zu trotzen. Jennifer Parker hatte es gewagt, ihn einfach abzuhangen. Was hatte sie noch gesagt? Nichts, was Sie tun oder sagen, konnte mich auch im geringsten interessieren. Michael Moretti dachte daruber nach und lachelte vor sich hin. Sie irrte sich. Er wurde ihr zeigen, wie sehr sie sich irrte. Er lehnte sich zuruck und dachte daran, wie sie im Gericht ausgesehen hatte, an ihr Gesicht, an ihren Korper. Er fragte sich plotzlich, wie sie wohl im Bett war. Eine Wildkatze, vielleicht. Er stellte sich ihren nackten Korper unter dem seinen vor, wie sie sich gegen ihn wehrte. Er hob den Horer ab und wahlte eine Nummer.
Als sich am anderen Ende eine Madchenstimme meldete, sagte er: »Zieh dich aus. Ich bin auf dem Weg zu dir.«
Als Jennifer auf dem Ruckweg vom Mittagessen ins Buro die Third Avenue uberquerte, ware sie beinahe von einem Lastwagen uberfahren worden. Der Fahrer trat auf die Bremsen, und das Heck des Lasters schlug aus und verfehlte sie nur um Haaresbreite.
»Herr im Himmel, Lady!« schrie der Fahrer. »Warum passen Sie nicht auf, wohin, zum Teufel, Sie gehen!« Jennifer horte uberhaupt nicht hin. Sie starrte die Aufschrift am Heck des Lasters an. Nationwide Motors Corporation. Noch lange, nachdem der Lastwagen aus ihrem Gesichtskreis verschwunden war, stand sie da und starrte ihm nach. Dann drehte sie sich um und eilte zuruck ins Buro.
»Ist Ken da?« fragte sie Cynthia. »Ja, in seinem Buro.« Sie ging zu ihm. »Ken, konntest du die Nationwide Motors Corporation uberprufen? Wir brauchen eine Liste aller Unfalle, in die ihre Laster in den letzten funf Jahren verwickelt waren.«
»Das wird eine Weile dauern.«
»Nimm LEXIS.« LEXIS war der Zentralcomputer des Justizministeriums.
»Willst du mir nicht sagen, worum es geht?«
»Ich bin noch nicht sicher, Ken. Es ist nur eine Ahnung. Ich lasse es dich wissen, wenn etwas dabei herausgekommen ist.« Sie hatte etwas im Fall Connie Garrett ubersehen, dem Fall des Madchens, das als vierfach Amputierte den Rest ihres Lebens verkruppelt verbringen mu?te. Der Fahrer mochte einen tadellosen Ruf gehabt haben, aber wie stand es mit den Wagen? Vielleicht war doch noch jemand verantwortlich zu machen. Am nachsten Morgen legte Ken Bailey einen Bericht auf ihren Schreibtisch. »Wohinter du auch immer her bist, es sieht so aus, als hattest du ins Schwarze getroffen. Die Nationwide Motors Corporation war in den letzten funf Jahren in funfzehn Unfalle verwickelt, und einige ihrer Laster mu?ten aus dem Verkehr gezogen werden.«
Jennifer spurte, wie sie von Aufregung erfa?t wurde. »Was war mit ihnen los?«
»Ein Defekt im Bremssystem, der das Heck des Wagens ausscheren lie?, wenn die Bremsen heftig getreten wurden.« Es war das Heck des Lasters, das Connie Garrett getroffen hatte.
Jennifer rief eine Konferenz mit Dan Martin, Ted Harris und Ken Bailey ein. »Wir gehen im Fall Connie Garrett vor Gericht«, verkundete sie.
Ted Harris starrte sie durch seine Milchflaschenbrille an. »Warte mal, Jennifer, ich habe das uberpruft. Sie hat die Berufung verloren. Sie werden uns res judicata um die Ohren schlagen.«
»Was ist res judicata?« wollte Ken Bailey wissen. Jennifer erklarte: »Das ist im Zivilrecht, was zweifache Straffalligkeit im Strafrecht bedeutet. Es hei?t, da? irgendwann ein Schlu?punkt beim Prozessieren erreicht sein mu?.« Ted Harris fugte hinzu: »Wenn in einem bestimmten Fall einmal ein endgultiges Urteil gefallt worden ist, kann er nur unter ganz bestimmten Umstanden wieder aufgerollt werden. Wir haben keine Grunde fur eine Wiederaufnahme.«
»Doch, haben wir. Wir verlangen eine zwangsweise Aufdeckung.«
Das Prinzip der zwangsweisen Aufdeckung lautete: Gegenseitige Kenntnis aller von beiden Parteien gesammelten relevanten Tatsachen ist unerla?lich fur einen einwandfreien Proze?. »Der Angeklagte in diesem Sinn ist Nationwide Motors. Sie haben vor Connie Garretts Anwalt Informationen geheimgehalten. Das Bremssystem ihrer Laster weist einen Defekt auf, den sie nicht zu Protokoll gegeben haben.« Sie sah ihre beiden Assistenten an. »Ich glaube, wir sollten so vorgehen...«
Zwei Stunden spater sa? Jennifer bei Connie Garrett. »Ich mochte einen neuen Proze? anstrengen. Ich glaube, wir haben etwas in der Hand.«
»Nein.«
»Nein - was?«
»Nicht noch einen Proze?.«
»Connie -«
»Sehen Sie mich an, Jennifer. Sehen Sie mich genau an. Ich bin ein Kruppel. Jedesmal wenn ich in den Spiegel schaue, kann ich sehen, wie ich auf andere Menschen wirke.« Connie Garrett schuttelte den Kopf. »Nein. Ich kann das nicht noch einmal durchstehen.«
Beschamt und erschuttert sa? Jennifer auf ihrem Stuhl. Wie hatte sie nur so gefuhllos sein konnen?