Freien, kletterte, lief herum und fuhr auf seinem Dreirad durch den Garten. Jennifer nahm ihn mit in den Zoo und zum Marionettentheater. Sie gingen am Strand spazieren und sahen sich gemeinsam ein Festival mit Filmen der Marx Brothers in Manhattan an. Danach nahmen sie Eiscremesodas im neunten Stock von Bonwit Teller zu sich. Joshua war ein Gefahrte geworden. Zum Muttertag lernte er das Lieblingslied von Jennifers Vater - Shine On, Harvest Moon - auswendig und sang es ihr vor. Es war der ruhrendste Moment ihres Lebens.
Es ist wahr, dachte sie, wir erben die Welt nicht von unseren Eltern; wir leihen sie uns von den Kindern aus.
Joshua ging in den Kindergarten und hatte Freude daran. Abends, wenn Jennifer nach Hause gekommen war, setzten sie sich vor den Kamin und lasen gemeinsam. Jennifer las Fachzeitungen fur Anwalte, und Joshua sah sich seine Bilderbucher an. Jennifer beobachtete ihren Sohn, wie er auf dem Boden lag, die Augenbrauen zusammengezogen vor Konzentration, und plotzlich wurde sie wieder an Adam erinnert, und es war immer noch wie eine offene Wunde. Sie fragte sich, wo er sein und was er tun mochte. Was er, Mary Beth und Samantha tun mochten.
Es gelang Jennifer, Privatleben und Beruf auseinanderzuhalten, die einzige Verbindung zwischen beiden war Ken Bailey. Er brachte Joshua Spielzeug und Bucher mit, widmete ihm seine Zeit, und war, in gewisser Hinsicht, ein Ersatzvater. An einem Sonntagnachmittag standen Jennifer und Ken in der Nahe des Baumhauses und sahen Joshua zu, der den Stamm hinaufkletterte.
»Wei?t du, was er braucht?« fragte Ken. »Nein.«
»Einen Vater.« Er wandte sich an Jennifer. »Sein wirklicher Vater mu? ein schoner Schei?kerl sein.«
»Bitte, Ken, nicht!«
»Entschuldige. Es geht mich ja auch nichts an. Schlie?lich ist es Vergangenheit. Ich mache mir mehr Sorgen um die Zukunft. Es ist nicht normal, da? du allein wie eine...«
»Ich bin nicht allein. Ich habe Joshua.«
»Daruber spreche ich nicht.« Er nahm Jennifer in die Arme und ku?te sie zartlich. »O verdammt, Jennifer, es tut mir leid...«
Michael Moretti hatte Jennifer ein dutzendmal zu erreichen versucht. Sie rief nicht zuruck. Einmal hatte sie geglaubt, sie habe ihn in der letzten Reihe sitzen sehen, als sie vor Gericht als Verteidigerin auftrat, aber als sie wieder hinsah, war er verschwunden.
35
An einem spaten Nachmittag, als Jennifer gerade das Buro verlassen wollte, sagte Cynthia: »Ein Mr. Clark Holman ist am Telefon und mochte Sie sprechen.«
Jennifer zogerte, dann sagte sie: »Okay, stell ihn durch.« Clark Holman war ein Anwalt der Legal Aid Society, die sich der Menschen annahm, die juristischen Beistand brauchten, aber aus irgendwelchen Grunden nicht in der Lage waren, ihn sich auch zu beschaffen.
»Es tut mir leid, da? ich Sie belastigen mu?, Jennifer«, sagte er, »aber wir haben hier einen Fall, mit dem sich niemand beschaftigen will, und ich wu?te es wirklich sehr zu schatzen, wenn Sie uns aushelfen konnten. Ich wei?, wie beschaftigt Sie sind, aber...«
»Wer ist der Angeklagte?«
»Jack Scanion.«
Als sie den Namen horte, klingelte es bei Jennifer sofort. Er war seit zwei Tagen auf den Titelseiten aller Zeitungen. Jack Scanion wurde beschuldigt, ein vierjahriges Madchen entfuhrt und Losegeld erpre?t zu haben. Er war nach einer Phantomzeichnung identifiziert worden, die die Polizei nach den Angaben von Augenzeugen der Entfuhrung angefertigt hatte. »Warum ich, Clark?«
»Scanion hat um Sie gebeten.«
Jennifer blickte auf die Uhr an der Wand. Sie wurde zu spat zu Joshua kommen. »Wo ist er jetzt?«
»Im Metropolitan-Gefangnis.«
Jennifer traf eine schnelle Entscheidung. »Ich gehe zu ihm und spreche mit ihm. Treffen Sie die Vorbereitungen, bitte.«
»Gut. Tausend Dank. Ich schulde Ihnen einen Gefallen.« Jennifer rief Mrs. Mackey an. »Ich komme heute etwas spater.
Geben Sie Joshua sein Essen und sagen Sie ihm, er soll aufbleiben, bis ich da bin.« Zehn Minuten spater war Jennifer auf dem Weg.
Kidnapping war fur sie das scheu?lichste aller Verbrechen, vor allem, wenn ein hilfloses, kleines Kind entfuhrt wurde; aber jeder Beschuldigte hatte ein Recht darauf, da? man ihn anhorte, ganz egal, wie schrecklich sein Verbrechen gewesen war. Das war der Grundstock des Rechts: Gerechtigkeit fur die Gro?en wie fur die Kleinen.
Jennifer wies sich an der Pforte aus, und ein Warter fuhrte sie zum Besuchszimmer fur Anwalte. Er sagte: »Ich hole Ihnen Scanion.«
Einige Minuten spater wurde ein dunner, gutaussehender Mann von Ende Drei?ig mit einem blonden Bart und feinem, blondem Haar in den Raum gebracht. Er sah beinahe aus wie Jesus Christus.
Er sagte: »Ich danke Ihnen, da? Sie gekommen sind, Mi? Parker.« Seine Stimme war weich und sanft. »Danke, da? Sie sich um mich kummern.«
»Setzen Sie sich.«
Er nahm einen Stuhl gegenuber von Jennifer. »Sie haben darum gebeten, da? ich Sie aufsuche?«
»Ja. Obwohl ich glaube, da? nur Gott mir helfen kann. Ich habe eine Dummheit begangen.«
Sie betrachtete ihn voll Abscheu. »Sie nennen es eine ›Dummheit‹, wenn jemand ein vierjahriges Madchen kidnappt und fur Lo segeld festhalt?«
»Ich habe Tammy nicht wegen des Losegelds entfuhrt.«
»Oh? Warum haben Sie sie dann entfuhrt?« Nach einer langen Pause begann Jack Scanion zu sprechen. »Meine Frau, Evelyn, starb im Kindbett. Ich habe sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Wenn es auf Erden je eine Heilige gegeben hat, dann sie. Evelyn war keine sehr starke Frau. Der Doktor riet ihr, kein Baby zu bekommen, aber sie wollte nicht horen.« Er blickte verlegen zu Boden. »Es - es ist vielleicht schwer zu verstehen fur Sie, aber sie sagte, sie wolle es auf jeden Fall, weil es so ware, als hatte sie dann noch mehr von mir.«
Wie gut Jennifer das verstand.
Jack Scanion hatte aufgehort, zu sprechen, er schien in Gedanken weit fort. »Sie bekam das Baby?«
Jack Scanion nickte. »Sie starben beide.« Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. »Eine Zeitlang, dachte ich - dachte ich, da? ich... Ich wollte ohne sie nicht weiterleben. Ich fragte mich immer wieder, wie unser Kind wohl geworden ware. Ich stellte mir vor, wie es gewesen ware, wenn sie am Leben geblieben waren. Ich versuchte, die Uhr zuruckzudrehen bis zu dem Moment, bevor Evelyn...« Er hielt inne, seine Stimme klang tranenerstickt. »Ich fand Rettung bei der Bibel. Denn siehe, ich habe dich vor eine offene Tur gestellt, die niemand schlie?en kann. Dann, vor ein paar Tagen, sah ich ein kleines Madchen auf der Stra?e. Es spielte. Es war, als sei Evelyn wiedergeboren worden. Sie hatte ihre Augen, ihr Haar. Sie blickte zu mir auf und lachelte, und ich - ich wei?, es klingt verruckt, aber ich hatte das Gefuhl, als lachelte Evelyn mich an. Ich mu? vollig den Verstand verloren haben. Ich dachte: Dies ist die Tochter, die Evelyn bekommen hatte. Dies ist unser Kind.« Jennifer bemerkte, wie sich seine Fingernagel in die Handballen gruben.
»Ich wei?, es war falsch, aber ich habe sie mitgenommen.« Er blickte Jennifer in die Augen. »Ich hatte dem Kind um nichts in der Welt etwas angetan.«
Jennifer beobachtete ihn scharf, achtete auf einen falschen Ton. Es gab keinen. Scanion war ein verzweifelter Mann. »Was ist mit der Losegeldforderung?«
»Ich habe kein Losegeld verlangt. Geld war etwas, das ich zuletzt gewollt hatte. Ich wollte nur die kleine Tammy.«
»Irgend jemand hat aber ein Losegeldforderung geschickt.«
»Die Polizei behauptet, ich war es, aber ich war's nicht.« Jennifer sa? ihm gegenuber und versuchte, die losen Enden zusammenzufugen. »Wann erschien die Nachricht uber die Entfuhrung in den Zeitungen? Bevor oder nachdem Sie von der Polizei festgenommen wurden?«