»Das ist richtig.« Jennifer wandte sich an Richter Barnard. »Euer Ehren, ich kann mir nicht vorstellen, da? das ein Mann ist, den Sie hinrichten wurden.« Di Silva sagte unerwartet: »Ich stimme Ihnen zu.« Jennifer blickte ihn uberrascht an.

Di Silva holte einige Papiere aus einer Aktentasche. »Ich mochte Sie etwas fragen«, sagte er. »Wie wurden Sie es finden, wenn man diesen Mann hinrichtete?« Er las aus einem Dossier vor. »Frank Jackson, Alter 38. Geboren in Nob Hill, San Francisco. Vater Arzt, Mutter eine Dame der Gesellschaft. Mit vierzehn geriet Jackson in eine Drogengeschichte, rannte von zu Hause fort, wurde in Haight-Ashbury aufgegriffen und nach Hause zuruckgebracht. Drei Monate spater brach Jackson in die Klinik seines Vaters ein, stahl alle Drogen, die er kriegen konnte, und rannte weg. In Seattle aufgegriffen wegen Besitzes und Handels mit Drogen, in eine Besserungsanstalt gesteckt, mit achtzehn entlassen und einen Monat spater wegen eines bewaffneten Raububerfalls mit Totungsabsicht erneut aufgegriffen...«

Jennifer fuhlte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Was hat das mit Jack Scanion zu tun?«

Earl Osborne bedachte sie mit einem frostigen Lacheln. »Jack Scanion ist Frank Jackson.«

»Das glaube ich nicht.«

Di Silva sagte: »Dieses Dossier kam vor einer Stunde vom FBI herein. Jackson ist ein Hochstapler und psychopathischer Lugner. Im Verlauf der letzten zehn Jahre ist er von Zuhalterei uber Brandstiftung bis zu bewaffnetem Raububerfall wegen fast allem verhaftet worden. Er hat eine Zuchthausstrafe in Joliet abgesessen. Vor funf Jahren wurde er vom FBI unter dem Verdacht einer Entfuhrung festgenommen. Er hat ein dreijahriges Madchen gekidnappt und Losegeld gefordert. Der Korper des kleinen Madchens wurde zwei Monate spater in einem Waldstreifen gefunden. Dem Bericht des Leichenbeschauers zufolge war der Korper bereits zum Teil verwest, aber es lie? sich dennoch feststellen, da? er uber und uber mit kleinen Messerwunden bedeckt war. Das Madchen war vergewaltigt worden - von einem Sadisten.« Jennifer fuhlte sich plotzlich krank.

»Jackson wurde aufgrund der Tricks eines ausgekochten Verteidigers freigesprochen.« Di Silvas Stimme war voller Verachtung, als er sagte: »Und diesen Mann wollen Sie frei herumlaufen lassen.«

»Kann ich bitte das Dossier sehen?«

Schweigend reichte Di Silva es ihr, und Jennifer begann zu lesen. Es war Jack Scanion, daran konnte kein Zweifel bestehen. Ein Erkennungsfoto der Polizei war an das Dossier geheftet. Er war damals junger gewesen und hatte keinen Bart gehabt, aber es konnte kein Mi?verstandnis geben. Jack Scanion - Frank Jackson - hatte sie von A bis Z belogen. Er hatte seine ganze Lebensgeschichte erfunden, und Jennifer hatte jedes Wort geglaubt. Er war so uberzeugend gewesen, da? sie nicht einmal Ken Bailey damit beauftragt hatte, seine Geschichte zu uberprufen.

Richter Barnard fragte: »Kann ich das einmal sehen?« Jennifer gab ihm das Dossier. Der Richter uberflog es und sah Jennifer an. »Nun?«

»Ich lege die Verteidigung nieder.« Di Silva hob in gespielter Uberraschung die Augenbrauen.

»Sie schockieren mich, Mi? Parker. Sie haben immer gesagt, da? jeder das Recht auf einen Anwalt hat.«

»Das hat auch jeder«, antwortete Jennifer gleichmutig, »aber ich habe ein einfaches Prinzip: Ich verteidige niemanden, der mich belugt. Mr. Jackson wird sich einen anderen Anwalt suchen mussen.«

Richter Barnard nickte. »Das Gericht wird dafur sorgen.« Osborne sagte: »Ich mochte, da? die Freilassung auf Kaution sofort widerrufen wird, Euer Ehren. Ich halte es fur zu gefahrlich, ihn frei herumlaufen zu lassen.«

Richter Barnard wandte sich an Jennifer: »Im Augenblick sind Sie noch sein Anwalt, Mi? Parker. Haben Sie irgendwelche Einwande?«

»Nein«, sagte Jennifer fest. »Keine.«

Richter Barnard sagte: »Ich werde die Freilassung auf Kaution aufheben.«

Richter Lawrence Waldman hatte Jennifer fur diesen Abend zu einem Wohltatigkeitsessen eingeladen. Sie fuhlte sich nach den Ereignissen des Nachmittags so ausgelaugt, da? sie lieber nach Hause gegangen ware und einen ruhigen Abend mit Joshua verbracht hatte, aber sie wollte den Richter nicht enttauschen. Sie wechselte die Garderobe im Buro und traf Richter Waldman im Waldorf Astoria, wo das Essen stattfand. Es war ein Galaereignis mit einem halben Dutzend Hollywoodstars auf der Buhne, aber Jennifer konnte es nicht genie?en. Ihre Gedanken waren woanders. Richter Waldman hatte sie beobachtet und fragte: »Stimmt irgend etwas nicht, Jennifer?«

Sie brachte ein Lacheln zustande. »Nein, nur ein geschaftliches Problem, Lawrence.«

Und wirklich, was ist das fur ein dreckiges Geschaft? dachte Jennifer, wo man mit dem Abschaum der Menschheit zu tun hat, mit Killern, Kidnappern und Sadisten! Sie beschlo?, da? es genau der richtige Abend war, um sich zu betrinken. Der Oberkellner naherte sich der Tafel und flusterte in Jennifers Ohr: »Entschuldigen Sie, Mi? Parker, ein Anruf fur Sie.« Jennifer horte eine innere Alarmglocke. Au?er Mrs. Mackey wu?te niemand, wo sie sich aufhielt. Sie konnte nur anrufen, weil mit Joshua etwas nicht stimmte.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Jennifer. Sie folgte dem Oberkellner in ein kleines Buro neben dem Foyer. Sie hob den Horer auf, und die Stimme eines Mannes flusterte: »Du Hure! Du hast mich reingelegt!« Jennifer fuhlte, wie sie zu zittern begann. »Wer ist da?« fragte sie.

Aber sie wu?te es.

»Du hast die Bullen auf mich gehetzt, damit sie mich schnappen.«

»Das stimmt nicht. Ich...«

»Du hast versprochen, mir zu helfen.«

»Ich werde Ihnen helfen. Wo sind...«

»Du verlogene Fotze.« Seine Stimme wurde so leise, da? sie ihn kaum verstehen konnte. »Dafur wirst du bezahlen. O ja, du wirst bezahlen!«

»Warten Sie einen Augen...«

Das Telefon war stumm. Ein eisiger Schauer durchlief Jennifer. Sie hatte eine Gansehaut am ganzen Korper. Irgend etwas war grauenhaft schiefgelaufen. Frank Jackson alias Jack Scanion war entwischt, und er gab Jennifer die Schuld an dem, was vorgefallen war. Woher hatte er wissen konnen, wo sie sich befand? Er mu?te ihr gefolgt sein. Vielleicht wartete er in diesem Augenblick drau?en auf sie...

Jennifer versuchte, ihr Zittern zu kontrollieren, nachzudenken, herauszufinden, was passiert sein konnte. Jackson hatte die Polizei anrucken sehen und war weggerannt. Oder vielleicht hatten sie ihn verhaftet, und er war danach erst entwischt. Aber das Wie war nicht wichtig. Wichtig war, da? er ihr an allem die Schuld gab.

Frank Jackson hatte schon einmal getotet, und er konnte wieder toten. Jennifer ging auf die Damentoilette und blieb dort, bis sie wieder ruhig war. Als sie sich unter Kontrolle hatte, kehrte sie an den Tisch zuruck.

Richter Waldman warf nur einen Blick auf ihr Gesicht. »Was, um Himmels willen, ist passiert?« Jennifer gab ihm einen kurzen Bericht. Er war besturzt. »Allmachtiger! Wollen Sie, da? ich Sie nach Hause begleite?«

»Ich schaffe es schon, Lawrence. Wenn Sie nur dafur sorgen, da? ich sicher zu meinem Wagen gelange, dann schaffe ich es schon.«

Sie schlupften unbemerkt aus dem gro?en Ballsaal, und Richter Waldman blieb bei Jennifer, bis der Portier ihren Wagen gebracht hatte.

»Sind Sie sicher, da? ich Sie nicht begleiten soll?«

»Danke, ich bin uberzeugt, da? die Polizei ihn noch vor dem

Morgengrauen festnimmt. Es gibt nicht viele Leute, die ihm ahnlich sehen. Gute Nacht.«

Jennifer fuhr los und achtete darauf, da? ihr niemand folgte. Als sie dessen sicher war, bog sie auf den Long Island Expressway und fuhr nach Hause.

Immer wieder blickte sie in den Ruckspiegel, behielt die Wagen hinter ihr im Auge. Einmal fuhr sie an den Stra?enrand, lie? den gesamten Verkehr vorbei und fuhr erst weiter, als die Stra?e hinter ihr leer war. Jetzt fuhlte sie sich wohler. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis die Polizei Frank Jackson aufgriff. Inzwischen hatten sie wahrscheinlich schon eine Gro?fahndung nach ihm eingeleitet.

Jennifer bog in ihre Auffahrt. Grundstuck und Haus, die hellerleuchtet hatten sein mussen, lagen in volliger Dunkelheit. Jennifer sa? im Wagen, starrte unglaubig das Haus an, und in ihrem Kopf begann eine Alarmglocke zu schrillen. Sie stie? die Autotur auf und rannte zur Eingangstur. Sie war nur angelehnt. Einen Augenblick erstarrte Jennifer zur Salzsaule, von Entsetzen gelahmt, dann stolperte sie in die Halle. Ihr Fu? stie? gegen etwas Warmes und Weiches, und sie keuchte erschrocken. Sie schaltete das Licht ein. Max lag auf dem blutgetrankten Teppich. Die Kehle des Schaferhundes war von einem Ohr zum anderen durchtrennt. »Joshua!« Der Schrei verhallte. »Mrs. Mackey!« Jennifer lief von Raum zu Raum, drehte alle Lichter an und rief die Namen ihres Sohnes und der

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