denn wo die Sonne aufgeht, wird das Meer zu brodeln beginnen. So steht es auf den alten Tafeln.'
Sie horten ihn schweigend an. Er war ein Sklave und sein Leben kein Sandkorn wert, aber niemand getraute sich, ihn zu beruhren.
Ein Jungling spannte den Bogen. Doch als er scho?, entglitt die Waffe seiner Hand. Der Pfeil streifte den Sklaven nur am Bein. Aus der Wunde sickerte Blut. Als die Atlantisburger das Blut sahen, begriffen sie, da? ein ganz gewohnlicher Mensch vor ihnen stand, ein Sklave, der dreifach gegen das Gesetz versto?en hatte.
Da warfen sie sich schweigend, mit wutverzerrten Gesichtern auf ihn, als konnte sein Tod sie von der Furcht vor ihrem unvermeidlichen Untergang befreien, als ware nur er zum Sterben verdammt, doch sie selber durften hoffen, ihrem Schicksal zu entgehen.
Diejenigen aber, die Sklaven waren wie er, ruhrten sich nicht von der Stelle. Wie hatten sie ihm helfen sollen ohne Waffen?
Zu seinen Fu?en leuchtete Meer. Das schaumende Wasser leckte an den Felsen. Von oben wirkten die Wellen winzig wie gekrauselter Sand.
Und er sturzte sich hinab. Wer ganz vorn stand, sah, wie sein schwarzer Kopf aus den Fluten auftauchte, dann wieder verschwand, sich erneut an der Oberflache zeigte, aber schon von der Kuste abgetrieben wurde.
Schlie?lich kam der Abend. Die Sonne wurde platt wie eine Scheibe. Sie beruhrte den Horizont. Ihre Strahlen glitten uber die Wasserflache. Bis die Dunkelheit hereinbrach, erkannten die Atlantisburger auf den blutroten Wellen einen schwarzen Punkt, der bald hinter einem Schaumkamm verschwand, bald wieder auftauchte und immer kleiner wurde.
Dort, wo der Sklave hinschwamm, gab es keine Insel. Nur Meer, nichts als Meer.
Endlich sank die Nacht herab.'
Jurka legte das Heft beiseite.
„Und wie geht es weiter?' fragte Petka ungeduldig.
„Hat er sich gerettet?'
„Das wei? ich auch nicht. Daruber steht hier nichts.'
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Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Jurka war auf allerlei Fragen gefa?t. Es gab vieles, was einem keine Ruhe lie?. Er wu?te das aus Erfahrung.
„Wo hast du das Heft her?' erkundigte sich Dimka.
„Ich habe es gefunden. Auf der Stra?e. Ja, wo kommt es her? Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht ist ein Schriftsteller vorbeigegangen, der es verloren hat?'
Dimka lachte. „Schriftsteller? Bei uns? Was soll ein Schriftsteller in Ust-Kamensk? Die Mucken zahlen?'
„Da hast du recht', erwiderte Jurka nachdenklich. „Aber dort, in Atlantis, mu? es herrlich gewesen sein. Die Insel, das Meer. Ein Leben! Wahrscheinlich kann man dort das ganze Jahr uber baden. Wi?t ihr, ich hatte ja alles schon gelesen. Es kam mir sehr komisch vor. Was denn, dachte ich, fruher sollen die Menschen so edel und kuhn gewesen sein? Einer ist sogar vom Felsen gesprungen und losgeschwommen. Ich habe es nicht geglaubt.'
Dimka wunschte sich: „In diesem Land mochte ich auch leben, aber mit einem Maschinengewehr. Das ware schon. Stellt euch vor, ich wurde die Burschen mit ihren Speeren auf zweihundert Meter rankommen lassen und sie dann mit einer Garbe empfangen. Nach dem Sieg ware ich bei ihnen Zar oder was Ahnliches.'
,,Ja, du wurdest einen prachtigen Zaren abgeben', sagte Petka mit Uberzeugung. „Fruher dachte ich immer: An wen erinnert er mich nur? Heute wei? ich es. An einen Zaren.'
„Das stimmt aber nicht', protestierte Dimka verwirrt. „Ich bin ein ganz anderer Schlag. Wenn es nach mir gegangen ware — ich hatte alle Sklaven befreit und danach eine Art Kommunismus errichtet.'
Wieder schwiegen die Jungen eine Zeitlang. Sie waren seit langem befreundet. Haufig gab es Streit zwischen ihnen. Bisweilen verkrachten sie sich auch. Diesmal waren sie alle von demselben Gedanken beseelt, sahen die gleichen bunten und lichten Bilder. In ihrer Phantasie entstand eine erstrebenswerte Welt voll schoner, kuhner Menschen.
Vor undenkbar langer Zeit ist Atlantis aus dem Meer aufgetaucht und spater wieder darin versunken. Es hat den Menschen ein jahrtausendealtes Ratsel aufgegeben. In Legenden wird dieses Land verherrlicht, in Liedern besungen. Manche von ihnen sind gleichfalls tausend Jahre alt. So ist es nun mal mit vergangener Schonheit. Sie bleibt ewig schon.
„Kann es denn nicht auch sein, da? die Insel heute noch da ist? Vielleicht hat sie bisher nur keiner entdeckt?' meinte Petka schlie?lich.
„Am besten, wir suchen den, der das Heft verloren hat', au?erte Dimka. „Er wei? es sicherlich. Naturlich mu?ten wir vorher alles abschreiben. Besorgst du das, Jurka?'
„Schon, das kann ich machen', willigte Jurka ein.
„Aber die Hauptsache wi?t ihr noch gar nicht.' Vor Aufregung richtete er sich hoch und blickte seine Freunde gro? an.
Dann erzahlte er ihnen von dem Menschen, der im Eis eingefroren war, und von dem gro?en Meer, das sich vor vielen, vielen Jahren in dieser Gegend erstreckt hatte. Dabei geriet er derma?en in Eifer, da? er mit den Armen fuchtelte. Jurka war von der Wahrheit seiner Worte uberzeugt. Diese Uberzeugung strahlte auf Petka und Dimka uber. Sie glaubten ihrem Freund, weil sie wunschten, da? er recht hatte. Atlantis schien in greifbare Nahe geruckt zu sein. Es war, als brauchte man nur die Hand auszustrecken, um das Marchenland zu beruhren.
Vor ihnen lag eine Stra?e, die zu neuen Entdeckungen und unerhortem Ruhm fuhrte.
VII
Die Tunguska ist ein rei?ender, in seinem engen Felsenbett muhsam gebandigter Flu? mit wunderbar klarem Wasser.
Das orangefarbene Boot bewegte sich nach Osten, stromauf. Ware es in die entgegengesetzte Richtung gefahren, hatte ein Betrachter aus der Ferne meinen konnen, dort schaukele ein Stuck Apfelsinenschale auf den Wellen. Zur Linken und Rechten sprangen steile Felswande empor. An gunstigen Stellen zogen die Jungen das Boot mit einem Schlepptau gegen die Stromung. Wo dies nicht moglich war, griffen sie zu den Rudern.
Sie ruderten im Takt und zogen gemeinsam, aber Petka war Kapitan. Niemand hatte ihn auf diesen Posten gestellt. Es hatte sich von selbst ergeben. Wer sollte Kapitan sein, wenn nicht er?
Sie kamen nur langsam voran. Auf das erste bucklige Kap folgte das zweite, dann das dritte, so ging es weiter, und eins sah immer wie das andere aus.
Im Boot lagen eine zerrissene Zeltbahn mit Flicken aus Sackleinen, zwei Kessel, drei Angeln, ein Beutel mit Lebensmitteln. Au?erdem ein zerlocherter Rettungsring, der die halb verwischte Aufschrift „Sach...' trug. Wenn man ihn schuttelte, rieselten schwarze Korkstuckchen heraus. Doch neben dem mit Wasserfarbe bemalten Wimpel, der im Bug an einer Stange flatterte, war es gerade dieses altersschwache Ungeheuer von Rettungsring, das den Kahn erst zu einem richtigen Schiff machte.
Auf beiden Seiten des Flusses lagen blaulich schimmernde Hugel. Lautlos uber die Ufer gleitende Wolkenschatten wischten den goldenen Glanz vom Laub der Baume. Weit und breit kein Hundegebell, kein Laut, kein Rauchfahnchen.
Wer auf einen Hugel klettert und sich umschaut, hat den Eindruck, da? der Himmel am Horizont zur Erde sinkt, um eine riesige, mit Sonnenschein und hei?er Sommerluft gefullte Schale herauszuschneiden, und es scheint, man selber stande im Mittelpunkt dieses unerme?lichen Gefa?es.
Jeder Schrei, der uber den Flu? hallt, bricht sich an den schwarzen und braunen Felsen. Wenn er als Echo zuruckkommt, ist einem, als ware er inzwischen um die Welt geflogen.
Wahrend der ersten Tageshalfte genossen die Jungen ihre Freiheit in vollen Zugen. Es ging laut und frohlich zu. Samtliche bekannten Lieder wurden gesungen. Sogar der „Kapitan' verga? zeitweilig, die Stirn zu runzeln, hupfte wie die andern munter am Ufer entlang oder stand im Boot, reckte sich und stie? ubermutige Schreie aus.