Was er in den Sommertag hineinrief, war nicht besonders klug, dafur aber ungewohnlich laut: „Wir fahren! Hurra! Setzt die Segel! Richt't euch!'
Ringsum dehnte sich still und endlos die Taiga. Nein, dieses Stuck Erde konnte selbst durch das Triumphgeheul des „Kapitans' nicht aus dem ewigen Schlummer geschreckt werden. Dafur war die Taiga zu gro?.
Dann kam der Zeitpunkt, wo die Bootsinsassen mude wurden. Jurka hatte Schwielen an den Handen. Er bewegte die Ruder nur noch mit Widerwillen, als hielte er zwei verendete Katzen zwischen den Fingern. Dimka hatte sich die Schulter an dem Schlepptau wundgescheuert, Petka das Schienbein an einem Stein aufgeschlagen. Wenn es so weiterging, wurde in zwei, drei Tagen keiner mehr eine heile Stelle am Korper haben. Doch bekanntlich stellen sich dergleichen Beschwerden nur am Anfang ein. Die Hande mu?ten sich mit Hornhaut bedecken, die Beine geschickter werden.
„Na, dann wollen wir mal essen, was?' schlug Dimka vor, in einem Ton, der keinen Zweifel daran lie?, da? er uberhaupt nicht hungrig war, nur furchtete, die Lebensmittel konnten verderben.
„Da hat er recht', meinte Jurka und horte gleich zu rudern auf. „Komm, Petka, wir werfen Anker.'
Petka erwiderte nichts, spie uber Bord und legte sich in die Riemen. Rudern kann er, das mu? man ihm lassen, kraftvoll, mit weit nach hinten federndem Oberkorper, und wenn er die Holzer hochzieht, tanzen hinter dem Heck noch lange Zeit kleine trichterformige Strudel auf dem Wasser.
„Billige Kraftmeierei', brummte Dimka mi?billigend. „Vor uns brauchst du nicht so anzugeben. Wir verstehen selber was von der Sache.'
„Wer ist hier der Kapitan? Ich?'
„Wer sonst?'
„Na also. Wir waren uns einig, da? bis vierzehn Uhr gerudert wird. Es ist erst zwolf. Wenn wir uns jetzt schon auf die Vorrate sturzen, werden wir nicht weit kommen.'
Die Meuterei war niedergeschlagen. Doch bald machte Petka selber schlapp. „Schon', erklarte er eine halbe Stunde spater, „legen wir an. Ich bin kein Arbeitsvieh, das fur euch alle schuftet.'
Er steuerte in eine kleine Bucht. Als das Boot festgemacht war, krochen die Jungen auf die glatten, hei?en Steine. Es war eine windgeschutzte Stelle. Weiter oben dehnte sich ein Waldstuck. Die Luft schien zu brodeln. Sie war zum Schneiden dick. Wie durchsichtige Saulen standen die Sonnenstrahlen im Wasser. Zwischen den Steinen huschten blitzende kleine Fische umher.
Jurka war sofort entflammt. „Wollen wir nicht angeln?' schlug er vor.
„Nein, erst essen', sagte Dimka mit einem Seufzer.
Petka nahm die Axt, bog das Gestrupp auseinander und kroch ans Ufer.
„Petka, wohin?' rief Dimka hinterher. „Komm, wir gehen lieber in die Taiga, wenn du Feuer machen willst.'
„In der Taiga ist es zu schattig. Dort fressen uns die Mucken auf. Ich hole trockene Zweige. Schale inzwischen Kartoffeln.'
Den Reisighaufen errichteten sie auf einer Felsplatte. In den Kessel wanderten die geschalten Kartoffeln, eine Handvoll Graupen, ein Stuck Wurst. Das Feuer begann zu prasseln. Ru? farbte den Behalter schwarz. Jurka nahm einen Loffel und schopfte den schmutzigen Schaum von der brodelnden Bruhe.
Als die Suppe gar war, wurde der Kessel auf einen Stein gesetzt. Die Jungen hockten sich dazu. Jeder brach ein Stuck Brot ab. Dann loffelten sie das gelbliche, nach Rauch riechende und sehr wohl schmeckende Etwas andachtig aus dem Behalter.
„Jetzt mu? abgewaschen werden', sagte Petka nach beendeter Mahlzeit.
„Versteht sich', stimmte Dimka zu. Dann streckte er sich auf seiner Steinplatte aus.
Jurka war etwas genauer. Er meinte: „Ich bin auch dafur, aber am besten besorgen wir das immer abends. Wir kochen ja doch noch mal.'
Erst jetzt spurten alle drei, wie im Korper die Muskeln schmerzten.
Das Leben eines Reisenden ist schwer. Um so angenehmer empfindet er es, wenn die Stunde kommt, wo er auf dem Rucken liegen kann, um dem hastigen Gemurmel des Wassers zu lauschen und sich bewu?t zu werden, da? er sein eigener Herr ist. Uber ihm spannt sich der unendliche Himmel, gewaltig und klar, und scheint zu erklingen. Es ist wie das Rauschen einer Muschel: bald leiser, bald lauter. Endlich fallen dem Reisenden die Augen zu. Eine Hand schiebt sich daruber, um sie vor der Sonne zu schutzen.
„So la?t sich's aushalten', stellte Jurka fest. „Meinetwegen mu?te immer Sommer sein. Ach, ich wollte, da? ich laufen und fahren konnte, wohin ich gern mochte. Wenn ich gro? bin, sehe ich mir die Welt an. Ein Jahr werde ich arbeiten, ein Jahr unterwegs sein, immer abwechselnd.'
„Was du dir fur Schwachheiten einbildest', lie? sich Petka vernehmen. „Wenn du erwachsen bist, ist es mit dem Reisen Essig. Ich gehe nur bis zur siebenten Klasse. Dann werde ich Fischer. Das hei?t also, fur mich sind das die letzten Ferien.'
„Du wolltest doch auf eine Fliegerschule?'
„Ich wollte. Aber geht's danach? Meiner Mutter wird es ziemlich sauer. Au?erdem habe ich noch Senka am Hals. Der ist erst sechs.'
„Warten wir mal ab', meinte Dimka schlafrig, ,,ob wir nicht tatsachlich etwas finden. Vielleicht eine alte Stadt, oder wenn nicht das, wenigstens einen Sto?zahn von einem Elefanten. Dann kriegen wir eine Pramie. In diesem Fall gehe ich in die Karpaten. Dort gibt es Obst wie Sand am Meer.'
„Ich wurde auch nicht hierbleiben', murmelte Petka, „aber mit meinen Leuten hatte ich es naturlich schwerer. Ach, Kinder, ist das Leben langweilig in Ust-Kamensk, stimmt's? Woanders sind die Menschen besser. Wer in der Literatur ein bi?chen bewandert ist, wei?, wie schon es auf der Welt sein kann. Niemand kommt auf den Gedanken, uber uns ein Buch zu schreiben. Das ware ja auch — uberlegt mal: uber unser Nest und unser Leben.'
„Es durfte schwerfallen', bestatigte Jurka.
„Das will ich meinen. Ach', fuhr Petka fort, „wir wohnen eben am Ende der Welt, zwar in einer sogenannten Stadt, aber Industrie gibt's bei uns nicht. Blo? Fische und Holz. Einmal in der Woche kommt ein Dampfer. Naturlich auch nur im Sommer. Und der Winter dauert ein halbes Jahr. Sag mal, Dimka, wo liegen eigentlich deine Karpaten?'
Dimka blieb ihm die Antwort schuldig. Das war kein Wunder. Er schlief schon.
Petka fand keine Ruhe. Vom vielen Reden war er sonst kein Freund, der draufgangerische und wahrheitsliebende „Kapitan'. An diesem Nachmittag aber empfand er besonders deutlich, wie verganglich der Sommer und diese Stille waren. Ein Jahr noch, dann hatte er die siebente Klasse beendet. Dann wurde der „Ernst des Lebens' beginnen. Mit den schonen Ferien war es ein fur allemal vorbei.
Petka hatte beizeiten gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen. „In der Fliegerschule wurden sie mich nicht nehmen', sann er. „Ich bin hundertprozentig gesund, das stimmt. Aber man mu? die zehnte Klasse beendet haben. Oder ob man woanders blo? den Abschlu? der siebenten braucht? Jurka, horst du?'
Doch Jurka war gleichfalls eingeschlafen. Er lag, eine Wange auf den hei?en Fels gepre?t, mit schwei?feuchter Stirn neben Dimka.
Petka stand auf, ergriff die Schopfkelle und schaufelte das Wasser aus dem Boot.
Das Mittagsschlafchen erstreckte sich auf anderthalb Stunden. Als die Freunde erwachten, hockte Petka auf einem Stein im Flu?. Neben ihm zappelten die Fische, die er inzwischen gefangen hatte.
„Sie bei?en wohl an?'
„Und wie! Dreizehn habe ich schon. Zum Abendbrot gibt's Fischsuppe. Putzen mu?t ihr die Biester selber.'
„Typisch', emporte sich Dimka. „Er angelt und hat sein Vergnugen. Die Arbeit machen wir. Fische fangen ist kein Kunststuck. Das kann jeder.'
Petka zog die Angel ein.
„Zeit fur die Ruckfahrt.'
„Haben wir denn schon genug?'
„Alle holst du sowieso nicht raus', erwiderte Petka gesetzt. „Gegen Abend mussen wir zu Hause sein. Sonst lassen sie uns nicht mehr fort. Schlu? fur heute. Abfahrt!'
Wieder schaukelte auf dem Flu? das Boot, das von fern aussah wie ein Stuck Apfelsinenschale.
Es war schon kurz vor sechs, als hinter einer Biegung die von einem Steingurtel umgebene Insel