„Vielleicht begegnen wir uns nicht noch einmal.'
„Auf Wiedersehen', sagten sie wie aus einem Munde.
„Alles Gute, ihr Helden. Ich werde Lena erzahlen, da? ihr hiergewesen seid.'
Er zog die Brauen zusammen, als sei ihm plotzlich noch etwas eingefallen, und sagte: „Ihr mu?t verstehen, der Professor war der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Sie ist noch nicht allzulange blind, erst anderthalb Jahre. Seitdem sparen Vater und Tochter fur die weite Reise. Eine Mutter hat Lena nicht mehr, und der Vater arbeitet hier, um mehr zu verdienen. Im Herbst wollten sie fahren.'
„Daraus wird nun nichts.' Petka starrte finster vor sich hin.
„Sie werden trotzdem fahren. Ein Mensch ist gestorben, aber sein Werk lebt', entgegnete Sergej Michailowitsch zuversichtlich. „Da sind die Schuler, da ist die Klinik. Nur liegen die Dinge bei Lena etwas schwierig. Begreift ihr, was es hei?t, die Hoffnung zu verlieren? Lena hat an den Professor geglaubt. Versteht ihr? Nicht an sein Werk, sondern an ihn personlich. Sie wu?te: In Odessa lebt ein Professor Filatow, er wird mich binnen eines Monats gesund machen. Nun gibt es diesen Professor nicht mehr. Sie kann sich gar nicht beruhigen. Wir sind schon ganz ratlos.'
Die besondere Warme, mit der Sergej Michailowitsch dieses „wir' aussprach, verriet den Jungen, da? Lenas Leid das Leid aller war. Offenbar mu?te das so sein, wenn man viel umherzog und ein an Schwierigkeiten reiches Leben fuhrte. Die Leute waren gewohnt, den Schmerz wie das Brot miteinander zu teilen.
„Und ihr, meine Herren Reisenden, habt ihr es noch weit heute?' fragte Sergej Michailowitsch.
„Den Flu? rauf. Werden schon sehen.'
„An den Stromschnellen vorbei?'
„Ja.'
„Ihr denkt wohl, da? ihr dort das Gesuchte findet?'
„Lena?' fragte Petka. „Atlantis.' Jurka horchte auf.
„Atlantis?'
„Madchen konnen nichts fur sich behalten', meinte Dimka. „Ich habe es gleich gesagt. Da sieht man, was ein Versprechen wert ist. Sie wollte es keinem erzahlen.'
Sergej Michailowitsch lachte. „Ich bin so gut wie keiner. Bei mir geht das zu einem Ohr rein, zum andern raus. Allerdings werdet ihr Atlantis in dieser Gegend kaum finden. Das liegt im Atlantischen Ozean, im Gebiet der Azoren. Obgleich sich die Gelehrten bis heute nicht einig sind, wo sie nun wirklich suchen sollen. Die einen vermuten es im Mittelmeer, andere im Schwarzen Meer, manche sogar im Eismeer.'
„Und hier keiner?' fragte Jurka enttauscht.
„Hier?' Sergej Michailowitsch blinzelte. Er blickte den Jungen aufmerksam an und meinte frohlich: „Ausgeschlossen ist es nicht. Macht nur schon die Augen auf. Hauptsache, ihr verirrt euch nicht. Sonst mu?t ihr nachher noch gesucht werden. Da, das schenke ich euch.'
Er hielt ihnen einen Kompa? hin.
„Danke, damit sind wir versorgt.'
„Mit so etwas nicht.'
Es war ein Kompa? wie eine Uhr. Er hing an einem Riemen. Nein, so etwas hatten sie tatsachlich nicht aufzuweisen.
„Dann lebt wohl. Vielleicht lauft ihr mir noch einmal uber den Weg. Schonen Dank fur Lena.'
„Wieso fur Lena?'
„Wenn ihr alter seid, werdet ihr es verstehen.'
Sergej Michailowitsch gab jedem von ihnen die Hand. Dann ging er davon.
Wenige Minuten spater war die Kette der Arbeiter in der Taiga verschwunden. Die Stimmen klangen schwacher und verhallten schlie?lich. Dafur horte man jetzt andere Gerausche: das Rauschen des hohen Grases, das Knarren der Baumstamme, frohliches Vogelgezwitscher.
Die Gedanken der Jungen begleiteten alle, die fortgezogen waren, Wege und Pfade verschmahend, quer durch den Wald.
,,Wollen wir nicht leise hinterhergehen?' schlug Petka vor. „Vielleicht ist es gar nicht schlimm.'
„Hinterhergehen?' fragte Dimka argwohnisch.
„Na ja.'
„Und Atlantis?' gab Jurka zu bedenken.
„Der braucht jetzt kein Atlantis', meinte Dimka, „der braucht nur...' Er bi? sich auf die Lippen.
Petka hatte schon die Fauste geballt. Er musterte den Freund, hart und ohne Wimper zucken, wie ein Erwachsener. Da? er nichts sagte, nur mit den Augen sprach, machte seine Drohung besonders gefahrlich. Dimka ahnte, da? er in diesem Kampf haushoch unterliegen wurde.
„Wir wollten zusammen Atlantis suchen', sagte er kleinlaut, „das war vereinbart.' Petka machte eine scharfe Kehrtwendung und ging zum Boot.
Es wehte ein kuhler Wind. Der Flu? glich einem gegen den Strich gebursteten Teppich. Graue Wolkenfetzen segelten uber den Himmel. Vorzeichen eines nahenden Unwetters. Vor den Stromschnellen nahm die Stromung zu. Die Jungen mu?ten sich haufiger beim Rudern ablosen. Der Bug zerteilte das Wasser. Niedrige Wellen rasten gegen die Wande des Bootes und zerschellten. Auf dem Flu? zeigten sich trichterformige Strudel. Mitunter hatten die Jungen das Gefuhl, jemand sa?e unter der Oberflache, hielte zum Schabernack die Ruder fest und zoge daran.
Dann sahen sie die Stromschnellen. Davor lagen schaumgekronte Steine. Nur in der Mitte des Flu?bettes gab es eine schmale Rinne. Die aufgewuhlten Wassermassen walzten sich tosend hindurch.
Die Jungen kletterten ans Ufer. Sie waren barfu? und rutschten auf den glitschigen Steinen aus, schleppten aber unentwegt das Boot.
„Zuruck ist es ein Kinderspiel', verkundete Petka. Die Tunguska tobte so laut, da? er schreien mu?te. „Los, runter zur Fahrrinne!'
Jurka und Dimka wiegten bedenklich die Kopfe. Sie hatten nichts gegen Abenteuer, aber mit den Stromschnellen war nicht zu spa?en. An dieser Stelle waren schon Kutter gekentert und Menschen ertrunken. „Das Wasser ist gestiegen', schrie Petka. „Wir mussen uns beeilen.'
Weiter oben hatte es geregnet. Der Flu? schien zu garen. Er trat uber die Ufer. Unaufhorlich schwollen die Fluten, rissen morsche, um die Achse kreiselnde Baumstamme mit in die Ferne. Am Unterlauf stauten sich die Nebenflusse. Auch hinter den Schnellen war die Stromung so stark, da? die Jungen noch lange treideln mu?ten.
Der Wind nahm zu. Vom hohen Ufer aus peitschte er das brodelnde Wasser und trieb es empor.
Die Jungen kampften gegen den Sturm und gegen die Stromung. Endlich hatten sie genug, zogen das Boot aufs Trockene, kletterten die Boschung hoch und gingen durch die Taiga.
XII
Der Sturm heulte in der Taiga. Er tobte pausenlos, mit unverminderter Gewalt, als ware am Ozean ein Tor aufgesprungen und das hatte einen noch nie dagewesenen Durchzug verursacht.
Schmutzige Schwaden flatterten niedrig uber die Kronen der Baume dahin. Die Kiefern, die auf der Nordseite kahl waren, winkten ihnen mit krummen Zweigen nach. Alles gehorchte dem Sturm — nur die Sonne nicht; sie glomm matt durch die Wolken und schien ein Stuckchen weiter nach Norden geruckt zu sein.
Noch nie hatten sich die Jungen so lange in der Taiga aufgehalten. Es war unwegsam, alles andere als gemutlich. Nicht einmal einen Pfad gab es. Stellenweise stand der Wald so dicht, da? die alten Baume nicht zu Boden sturzen konnten, sondern an den Asten ihrer Nachbarn hangenblieben und in dieser Lage langsam verfaulten. Auf den Lichtungen wuchs trockenes Gras. Wenn der Sturm uber die Halme strich, brachte er sie zum Klingen. Durchs Dickicht irrten blaue Schatten. Weiter entfernt wirkte die Taiga wie erstarrt. In dieser Reglosigkeit lag etwas Ewiges, Bedruckendes.
Die Jungen waren in der Nahe geboren und aufgewachsen. Sie kannten die Taiga, furchteten sie nicht, wu?ten, da? sie aus Baumen, Gras, Gestrupp besteht, da? alles, was in ihr Nase und Ohren besitzt, vor einem Menschen die Flucht ergreift. Nur dem Geduldigen und Behutsamen zeigt sich der Wald, wie er wirklich ist. Angst