verspurten die Jungen also nicht. Nie waren sie auf den Gedanken gekommen, da? ihnen etwas zusto?en konnte.
Sie wanderten nach Norden, bahnten eine Gasse durch das Gras, das sich hinter ihnen wieder schlo?. Naturlich ging es nur langsam voran. Aber schweigend drangen sie unverdrossen vorwarts, bis ihnen schien, da? sie bereits lange unterwegs waren und den Flu? weit hinter sich gelassen haben mu?ten. In Wahrheit hatten sie zwei Kilometer zuruckgelegt. Dimka stohnte. „Nun laufen wir schon eine Ewigkeit durch die Taiga, und der Erfolg ist gleich Null.'
„Du hast wohl gedacht, da? dir alles in den Scho? fallt?' fragte Petka.
„Mir knurrt der Magen.' Dimka konnte einem auf die Nerven fallen. „Und die Kartoffeln haben wir im Boot gelassen. Die Graupen ebenfalls. Wenn es regnet, sind sie hin. Bin dafur, da? wir umkehren.'
Sie waren alle seit langem mude und hungrig, nur hatte sich bisher niemand eine Blo?e geben wollen. Als Dimka zu reden anfing, fuhlten sich die beiden anderen erleichtert.
Sie waren durchaus dafur, eine Rast einzulegen, lie?en sich, wo sie standen, umsinken und verharrten einige Minuten ausgestreckt, schweigend im Gras. Zum erstenmal hatte Jurka das Gefuhl, mit dem Spiel gehe es bald zu Ende, obwohl er noch meinte, das Suchen mu?te eine Freude sein, wenn man wenigstens von Zeit zu Zeit einen kleinen Erfolg sahe. Petka dagegen bedauerte, da? sie nicht doch nach Osten gewandert waren. Bei einem pausenlosen Marsch durch die Taiga hatten sie die Expedition vielleicht eingeholt. Er stellte sich vor, wie er zu Lena sagen wurde, sie musse unbedingt nach Odessa fahren, da Hoffen und Suchen immer noch besser seien, als untatig herumzusitzen. Dimka aber dachte an die Karpaten. Wie es hie?, gab es dort sogar im Winter Obst, soviel das Herz begehrte. Weiter wu?te er nichts von dieser verlockenden Gegend, nicht einmal, wo er sie auf dem Atlas suchen sollte.
Sie lagen mude im Gras. Jeder hing seinen Gedanken nach. Auf einmal merkten alle, da? etwas nicht stimmte. Sie spitzten die Ohren. War das ein komisches Knacken und Knistern, als kribbele, als wimmele der ganze Wald.
Nachdem Petka „guckt mal!' geschrien und nach oben gezeigt hatte, sahen auch Dimka und Jurka die Eichhornchen, die uber ihnen von Ast zu Ast turnten, unzahlig viele, in verschiedenen Tonungen: rostbraune, rotlich schimmernde, fuchsige mit dunklen Schwanzen, dunkelbraune mit Langsstreifen auf den Rucken. Es war, als habe der Wind diese riesige Herde hergetrieben. Gewandt, mit sicheren Sprungen wechselten die Tiere von Baum zu Baum. Wo der Abstand sehr gro? war, glitten sie spiralig den Stamm hinab, liefen ein Stuck auf ebener Erde, hastig in den Bewegungen, nervos, scheinbar ziellos und doch in eine Richtung. Sie alle folgten dem gleichen Wunsch, recht bald den Flu? zu erreichen.
Eine Eichhornchenwanderung in diesem Ausma? hatten die Jungen noch nicht erlebt. Sie sprangen auf die Fu?e.
Sogleich gabelte sich der Strom der wandernden Tiere, huschte links und rechts an dem Hindernis vorbei, ohne einen Augenblick im rasenden Lauf innezuhalten.
„Sie fliehen', flusterte Dimka. „Wovor haben sie Angst?'
„Sind das viel!' staunte Jurka.
Wenige Sekunden spater brach ein Elch durchs Dickicht, schwer beladen mit seinem Geweih, lautlos. Die Jungen wurdigte er keines Blickes, tat, als waren es Baume und keine Menschen.
Petka und seine Freunde kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie waren schrecklich aufgeregt. Der Wald gab seine Geheimnisse preis. Eine unbekannte Kraft hatte sich der Tiere bemachtigt, ein Zauber, der gro?er sein mu?te als die Furcht vor den Menschen.
„Was haben sie nur?' fragte Petka. Es war die letzte Frage. Sie spurten Brandgeruch, sahen auch bald den Rauch, der uber die Baume quoll, dunn und durchsichtig zuerst. Kurze Zeit darauf verschwammen die Umrisse der Stamme.
Dort, woher der Wind kam, brannte es. Noch stand der Fluchtweg offen. Aber die Jungen schritten dichter an das Feuer heran. Sie wollten den Brand sehen, bevor sie umkehrten.
Je weiter sie vorruckten, desto dichter wurde der Rauch. Der Wind zerwuhlte die Nadelbuschel der Baume. Darunter regte sich kein Luftchen. In einer Senke standen die Schwaden wie Wasser in einem See. Die Freunde wateten hindurch. Sie waren froh, als sie eine hoher gelegene Stelle erreichten. Zu ihren Fu?en schwieg alles. Dieses Schweigen hatte mit der geheimnisvollen Stille, die sonst im Wald herrschte, nicht das geringste gemein. In weitem Umkreis war die Taiga von ihren Bewohnern verlassen. Blauer Rauch hing in der Luft, schwebte um die Baume, die wie betaubt die Zweige hangen lie?en, zum Umfallen schwach, teilnahmslos.
Die Jungen erwarteten, einen emporspruhenden Funkenregen zu sehen, eine lodernde Feuersbrunst, die boshafte Munterkeit um sich fressender Flammen, deren Anblick bange machte und frohlich zugleich. Doch sie sahen nichts als Rauch. Anfangs waren sie enttauscht. Dann wurde ihnen unheimlich. Der Rauch schien die Welt zu fullen. Er war uberall, wohin sie sich wandten. Die wei?lichen Schwaden und der still in den Bodensenken stehende Nebel nahmen kein Ende.
„Jetzt kriegen mich keine zehn Pferde weiter', erklarte Jurka.
Sie blieben stehen.
„Ich habe schon Ohrensausen von dem Qualm', jammerte Dimka.
Petka uberlegte.
,,Na gut', sagte er dann, „dort vorn gibt's sicher auch nichts anderes zu sehen.'
Es sollte ein ehrenvoller Ruckzug werden, kam jedoch ganz anders, als die Jungen gedacht hatten. Kaum waren sie umgekehrt, begann die Nebelwand zu schwanken. Der Rauch quoll uber die Niederungen hinaus, die Streifen und Schwaden gerieten in Bewegung. Zuerst vermuteten die Jungen, der Wind, der sich gelegt hatte, kame wieder auf und fegte erneut durch den Wald. Dann bemerkten sie, da? in allem, was geschah, ein gewisses System lag, als hatte jemand die Bewegungen aufeinander abgestimmt. Nun wurde klar: Der Rauch war zum Angriff ubergegangen. Er drang von allen Seiten auf die Jungen ein.
Die hatten auf einmal gro?e Eile und zogen es vor zu rennen, Schulter an Schulter, um einander nicht zu verlieren, denn was jetzt jeder von ihnen am meisten furchtete, war, alleingelassen zu werden.
Als Dimka strauchelte, versuchte er sich zu fangen, schlug aber der Lange nach hin. Seine Freunde liefen weiter, zwei, drei Schritte, nicht mehr, doch Dimka kam es vor, als hatten sie sich, wahrend er auf dem Boden lag, unendlich weit und auf alle Ewigkeit von ihm entfernt.
„Halt', schrie er, „Petka, Jurka!' Die Freunde blieben stehen.
Dimka, der sich hochgerappelt hatte, kam schnaufend heran. „Ihr Esel', schrie er, „habt ihr nicht gesehen, da? ich gefallen bin?'
„Brulle nicht!' wies ihn Petka zurecht. „Haben wir dich im Stich gelassen? Du siehst doch, da? wir warten.'
Sie liefen weiter.
Vor ihnen war die Welt in wei?en, bitter schmeckenden Nebel getaucht. Unmoglich, noch einmal anzuhalten. Die Angst beherrschte sie vollkommen und jagte einen wie den andern unerbittlich vorwarts, aufs Geratewohl, dorthin, wo es heller wurde.
Noch rannten sie zu dritt. Dann kam die Stelle, wo Jurka abbog.
Er lief zwei, drei Meter zur Seite, weil die Krone eines umgesturzten Baumes ihm den Weg versperrte. Nicht eine Sekunde lie? er die Kameraden aus dem Auge — bis sein Fu? ins Leere trat und er in eine Mulde sturzte. Seine Finger spurten die trockene, weiche Taigaerde. Jurka hatte sich nicht weh getan. Er befand sich in einem Zustand, wo man keinen Schmerz mehr empfindet.
Im Nu war er wieder auf den Beinen und schrie in den truben, grauen Nebel, der uber ihm schwamm: „Hier bin ich. Wartet, ich klettere raus.'
Niemand antwortete.
Da warf er sich verzweifelt auf den steil ansteigenden Boden. Unter seinen Sohlen gab die Erde nach. Er rutschte, lief noch tiefer herab, um unten nach einem Ausweg zu suchen, rannte, was die Krafte hielten, aber die Mulde nahm kein Ende.
Als das Wasser aufspritzte, wurde ihm bewu?t, da? er in einem Bach stand. Er fuhlte seine Einsamkeit, begriff: Ich bin allein — allein im brennenden Wald. Grund genug, um zu weinen. Das hatte er vielleicht auch getan, ware die Zeit nicht zu kostbar gewesen. Da er nicht verweilen durfte und es bergab leichter war, folgte er dem Lauf des Baches. So wahlte er durch Zufall, aus keinem anderen Grunde, als um es bequemer zu haben, die