Sie fuhlte sich einsam. Vor einer Stunde war Ljoschas Zelt zusammengeklappt. Ljoscha hatte das sehr lustig gefunden. Gelacht hat er, dachte Lena emport. 

Professor Filatow ist tot, alles ist stehengeblieben, kalt und still geworden, er aber hat gelacht.

Die anderen hatten in Ljoschas Lachen eingestimmt. 

Da hatte sich Lena zutiefst gekrankt gefuhlt, mit keinem mehr sprechen wollen und die Einsamkeit gesucht. 

„Von mir aus', flusterte sie wieder und legte in diese Worte alles hinein, was sie empfand: ihren Arger uber den Wind, der auf dem Dach mit dem Sperrholz klapperte, ihren Zorn auf Ljoscha — und auf Sergej Michailowitsch, der den dummen Einfall gehabt hatte, das Lager an einen Ort zu verlegen, wohin Petka und seine Freunde bestimmt nicht zu Besuch kommen konnten. 

Alles war wie verhext auf der Welt. 

Wahrend Lena noch daruber nachdachte, wie schlecht es jetzt war, merkte sie, da? die Barke nicht mehr hin und her gesto?en wurde. Das Brett, das mit dem andern Ende auf dem Ufer lag, polterte gegen die Bootswand und schlug ins Wasser. 

„Von mir aus', wiederholte Lena, diesmal ohne den Sinn der Worte zu erfassen. 

Sie tastete sich an Deck. Was fur eine merkwurdige Stille auf einmal eingetreten war. Die Steine knirschten nicht mehr, der Wind schwieg, die Sperrholzplatte hatte zu klappern aufgehort. Nur die Wellen schwappten noch mit bosem, kurzem Klatschen gegen die Wande.

Lena wu?te, da? die Stromung das Schiff losgerissen hatte, angstigte sich jedoch nicht sonderlich. Sie schwamm auf einem Flu?, nicht im Meer. Uber kurz oder lang mu?te die Barke wieder ans Ufer getrieben werden. Es war alles halb so schlimm.

Wahrend Lena diese Uberlegung anstellte, lie? Sergej Michailowitsch alles stehen und liegen, um am Flu? nach dem Rechten zu sehen. An seiner Seite schritt Ljoscha. Er sollte die Schlafsacke von der Barke holen. Als sie das Ufer erreichten, wunderten sie sich, da? die Barke nirgends zu sehen war. Zunachst glaubten sie, sich in der Stelle geirrt zu haben.

Ljoscha lachte sogar auf. „Eine Fata Morgana', rief er, „und was fur eine! Bei einer gewohnlichen Fata Morgana erblickt man, was gar nicht vorhanden ist. Wie sich zeigt, kann es auch umgekehrt sein. Was sagen Sie dazu, Genosse Vorgesetzter?'

„Das ist keine Fata Morgana', entgegnete Sergej Michailowitsch, der bla? geworden war, und deutete auf das um einen Baumstamm geschlungene Tauende. „Die Stromschnellen, Ljoscha.'

Sie sahen den Flu? hinunter und entdeckten die Barke, die mit der Stromung trieb. Ohne noch ein Wort zu verlieren, setzten sich beide Manner in Bewegung. Die Schuhsohlen quietschten auf dem Sand. Sie rannten mit kurzen Trippelschritten wie auf einer Eisbahn, stolperten uber Steine, fielen hin. Noch wu?ten sie nicht, was zu tun war, sondern folgten einfach dem Drang, naher an die Barke heranzukommen. „

Quer durch die Taiga', keuchte Ljoscha. An dieser Stelle machte die Tunguska einen weiten Bogen. Um den Weg abzuschneiden, schlugen sich die Manner durch dorniges Gebusch. Ihre Hemden gingen in Fetzen. Ein Zweig, den Ljoscha zuruckschnellen lie?, traf Sergej Michailowitsch mitten ins Gesicht. Gut, da? es nicht in die Augen ging, dachte er mechanisch, sonst wurden wir es bestimmt nicht schaffen.

Vollig zerschunden kollerten sie die Boschung hinunter. Am Ufer lag ein Boot. Ohne sich daruber den Kopf zu zerbrechen, wie es an diese Stelle gekommen sein mochte, sprangen sie hinein und stie?en ab.

„Sergej Michailowitsch', schrie Jurka aufgeregt, „wo wollen Sie hin?' 

Erst jetzt gewahrten sie den Jungen, der zusammengekauert im Heckteil hockte.

„Los, raus mit dir!' schrie Sergej Michailowitsch.

Das war leichter gesagt als getan. Die Barke naherte sich den Stromschnellen und das Ruderboot der Barke. Man durfte keine Minute verlieren. Sie wurden entweder zu viert umkommen oder gemeinsam das Ufer erreichen.

Als das kleine, schon bedenklich mit Wasser gefullte Fahrzeug gegen die Barke rannte, war Lena nicht auf Deck. Sergej Michailowitsch angelte nach oben, stie? sich mit den Beinen vom Bootsrand ab und landete mit Schwung auf der Barke. Infolge des Sto?es legte sich das Boot auf die Seite und schopfte noch mehr Wasser. Ein verzweifelter Ruderschlag Ljoschas brachte das Boot wieder an die Barke heran. Abermals schwappte Wasser uber den niedrigen Rand. Ljoscha half Jurka hinaufzuklettern, griff in den Ankerring und schwang sich gleichfalls an Bord. Als Sergej Michailowitsch und Lena aus der Kajute kamen, schaukelte das orangefarbene Boot bereits in gro?er Entfernung.

Die Stromung nahm zu. In rasender Hast jagten die Ufer voruber. Die Stromschnellen waren nicht mehr fern. „Den Anker werfen!' schrie Sergej Michailowitsch. 

Eilfertig packte Ljoscha zu. Der Anker flog uber Bord. Ein Ruck lief durch die Barke. Die Kette spannte sich straff, erschlaffte jedoch gleich wieder. Eine Sekunde spater erschutterte ein erneuter Sto? das Deck. Abermals ri? sich die Barke los und trieb weiter auf die Stromschnellen zu. Der selbstgefertigte Anker scharrte uber den Grund. Er fa?te nicht.

Sergej Michailowitsch stand mit zusammengepre?ten Lippen neben Lena, die spurte, wie seine Hand hart wurde. Im Bug lehnte Ljoscha. Er sprach pausenlos vor sich hin und glich einem Schamanen, der Beschworungsformeln durch die Zahne murmelte. Die Stromung trieb das Boot dichter ans rechte Ufer heran. Dort wurde es flacher, der Grund war steinig. Wiederum straffte sich die Ankerkette. Sie klirrte. Die Barke drehte sich am Ort. Das Wasser sprudelte gegen den Bug. Die Ufer standen still. Schaumflocken huschten vorbei, halb untergesunkene Aste und Zweige. Bis zu den Stromschnellen war es kein Kilometer mehr.

Jeder der vier Menschen an Deck beurteilte die Lage auf seine Weise. Sergej Michailowitsch starrte ernst und finster in die Taiga. Er hoffte auf ein Wunder. Jurka schlo? die Augen, weil er die rei?ende Stromung nicht mehr sehen konnte. Ljoscha fluchte. Lena begriff noch nicht, was vorgefallen war. Tief und dumpf sang die straff gespannte Ankerkette. Der Wind eilte der Stromung zu Hilfe. Nochmals ri? sich die Barke los und trieb etwa funfzig Meter weiter, bis sie wieder stillstand. Ein Kreuz ist das mit dem Anker, dachte Ljoscha, so ein Murks.

„Warum gehen wir nicht an Land?' fragte Lena. „Gleich, Kleine, gleich', antwortete Sergej Michailowitsch eilfertig. „Einstweilen liegen wir vor Anker. Wir mussen uberlegen, an welchem Ufer wir festmachen konnen.' 

Als er sah, da? Jurka eine mi?mutige Grimasse zog, legte er einen Finger auf die Lippen. Das sollte hei?en: Halt mir ja den Mund! Jurka wiegte kraftlos den Kopf. Entsetzt, zugleich voller Hoffnung blickte er Sergej Michailowitsch an. Der wu?te auch keinen Rat. Er winkte den Jungen heran und forderte ihn auf, sich neben Lena zu setzen.

„Warte', raunte er ihm zu, bemuht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, „wir werden uns schon etwas ausdenken.' Danach ging er zu Ljoscha.

„Wie hast du mich blo? gefunden?' fragte Lena erstaunt. „Und wo sind die anderen?'

„Ich — ich kam zufallig vorbei — und — und da sah ich die Barke — und — und da dachte ich, da? du hier bist.'

„Und wo sind Petka und Dimka?'

„Zu Hause', log Jurka. Er dachte: Hauptsache, da? Lena jetzt nichts merkt. Er hatte Angst, schluckte sie aber tapfer hinunter. Immer wieder schlug ihm das Gewissen. Er kam sich schlecht vor, weil er die Freunde »im Stich gelassen hatte. Sein einziger Trost war der Gedanke, da? er einen Teil seiner Schuld tilgen konnte, wenn er jetzt besonders tapfer ware.

„Wir waren im Lager', sagte er schnell und so laut, da? die Furcht nicht durchklang, „trafen dich leider nicht an. Sergej Michailowitsch hat uns einen Kompa? geschenkt. Wenn du in unsere Siedlung kommst, mu?t du mich besuchen. Ich habe einen Freund. Er hei?t Pawel und spielt Gitarre.'

„Warum schreist du so?' fragte Lena.

„Ich habe nun mal ein lautes Organ', erwiderte Jurka.

Im Bug der Barke berieten sich Sergej Michailowitsch und Ljoscha. Jurka sah, da? sich Sergej Michailowitsch bis auf die Turnhose auszog und wieder heruberkam. 

„Lena, Kleine, ich schwimme ans Ufer. Wei?t du wir haben keine Ruder, und das kleine Boot von den Jungen ist langst abgetrieben. Ich werde druben ein Tau befestigen. Die Stromung tragt euch ans Ufer.'

Lena schauderte zusammen. „Das Wasser ist eiskalt.'

„Hei? ist es nicht', gab Sergej Michailowitsch zu, „aber ich werde schon nicht erfrieren. Als Junge habe ich immer brav meinen Lebertran getrunken. Das kommt mir heute zugute.' Er tat sehr aufgeraumt, lachelte sogar.

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