Pawel verzog finster das Gesicht. „Schone Bescherung. Wir mussen sofort hinfahren.'
Der Matrose widersprach. „Wie denn? Bei diesem Sturm? An Rudern ist uberhaupt nicht zu denken.
Au?erdem — was geht es uns an? Soll sich der Wasserschutz darum kummern.'
„Wenn wir es bemerkt haben, geht es uns sehr viel?an.
„Das stimmt ja, im allgemeinen. Aber bei diesem Sturm?'
„Hol die Ruder', befahl der Hafenmeister. Er wollte allein fahren. Der Matrose, der mit den Rudern zuruckkam, kratzte sich den Nacken und trat von einem Fu? auf den andern. Schlie?lich sprang auch er ins Boot.
„Was soll das!' rief Pawel. „Steig aus, ich schaffe das ohne dich.' Er war jetzt heiter, fuhlte sich mutig und stark.
Der Matrose erhob zwar noch Einwande, aber Pawel blieb bei seiner Forderung. Er war der Chef hier. So kam es, da? Pawel ohne den Matrosen fuhr. Auf dem Wasser wurde der Wind starker. Der Hafenmeister hatte Muhe, die Richtung zu halten, obwohl er fast immer nur mit einem Ruder arbeitete. Nichts ist tuckischer als die unberechenbaren Flu?wellen. Sie sind kurz und steil und haben keinen Rhythmus, dem sich das Boot anpassen konnte. Wahrend der Bug einen Wasserkamm durchschneidet, schwappt von hinten ein zweiter heran, schie?t zischend uber das Heck und ergie?t sich auf den Ruderer. Der Wind peitschte die Wasserflache, zerwuhlte die Wellen, trieb einen Tropfenschleier vor sich her. Das Boot baumte sich auf. Ohnmachtig glitten die Ruder durchs Wasser. Beim Zuruckziehen spurte Pawel den hartnackigen Widerstand der Luft. O ja, das war ein Sturm!
Unruhig flatterten die Mowen. Papierschnitzeln gleich jagte der Wind sie uber den Flu?. Mit dem Jackenarmel wischte sich Pawel das Wasser vom Gesicht, blickte den fortstiebenden Tropfchen nach und lachte. Nicht einmal die Mowen kamen gegen diesen Sturm an.
Das schwerste Stuck Arbeit bestand darin, die Boje zuruckzubringen. Zum Gluck wurde die Fahrt jetzt vom Wind begunstigt. Sonst hatte es Pawel nicht geschafft.
Wahrend er den Anker an der Boje befestigte, drang viel Wasser ins Boot, das nur noch trage auf den Wellen schaukelte. Er durfte die Ruder nicht aus den Handen legen. Das Wasser scho? hin und her, druckte bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Als die Boje wieder an ihrer alten Stelle schwamm, nahm Pawel Kurs auf die Anlegestelle. Da geschah es.
Unbemerkt war eine hohe Welle herangewogt. Sie prallte gegen das Boot, baumte sich auf und stand einen Augenblick lang als blasige, durchsichtige Mauer uber dem Hafenmeister. Als sie zusammenfiel, bekam Pawel einen gro?en Schwapp auf die Beine. Das Boot war jetzt so schwer, da? er es nicht mehr richtig steuern konnte. Auch die nachfolgende Welle ergo? sich uber den Rand. Durch den Aufprall wurde der Hafenmeister gegen die Wand geschleudert. Das Boot kenterte.
Ist das Wasser warm, dachte Pawel, als er von einer neuen Welle ein Stuck fortgetragen wurde. Er tauchte hindurch, schwamm zum Boot zuruck, schob sich mit dem Oberkorper auf den Kiel und krallte seine Finger in die glitschigen, wassergetrankten Bretter.
Er hob den Kopf, sah das schwankende Ufer. In der Ferne, hinter vielen zerfetzten Wellen, tanzte die Anlegestelle. Auch jetzt furchtete er sich nicht. Die Wogen lie?en ihm keine Ruhe. Sie rollten heran, schlugen ihm ins Gesicht, ergossen sich auf seine Schultern. Verzweifelt, unter Aufbietung aller Krafte, hielt er sich fest, aber die Finger erlahmten allmahlich. Pawel war kein guter Schwimmer. Er pre?te die Wangen gegen das rauhe Holz, hoffte, da? man ihn vom Ufer aus bemerken und hereinholen werde. Endlich fand er in einer Fuge Halt. Nun war ihm wohler. Er richtete sich mit dem Atmen nach den Wellen und brauchte, wenn sie uber ihn hinwegschossen, kein Wasser mehr zu schlucken.
Nahte noch immer keine Hilfe? Er hob den Kopf und erblickte das einzige Boot in Ust-Kamensk, das einen apfelsinenroten Anstrich trug. Es war gleichfalls gekentert. Wenn eine Welle daruber schlug, leuchtete die Farbe auf. Pawel dachte an die hellen Kuppeln von Atlantis, an das verwunderte, zugleich triumphierende Gesicht Jurkas, an die Stange mit dem Wimpel. Doch jetzt war das orangefarbene Boot leer. Hilflos trieb es auf dem Flu?.
Etwas Schreckliches mu?te geschehen sein, ein Ungluck. Er durfte nicht warten, mu?te unverzuglich Menschen auf die Beine bringen, um die Kinder zu suchen.
Aber die Menschen waren am Ufer. Und das Ufer war mehr als einen Kilometer entfernt.
Der Mann, der soeben noch die letzten Krafte angespannt hatte, um nicht vom Boot fortgerissen zu werden, der froh gewesen war, als seine Finger diesen Spalt fanden, loste jetzt den Griff.
Mit Muhe streifte er die Schuhe ab. Sie sanken auf den Grund. Die Jacke folgte ihnen. Und dann schwamm Pawel wie nie zuvor. Er pre?te die Zahne zusammen, schluckte Wasser, blieb mit den Fu?en in den Lochern der zerfetzten Hose hangen — aber er schwamm den Rekord seines Lebens.
Und doch — was waren alle Anstrengungen im Vergleich zu jener Strecke, die es zu bezwingen galt! Trunken schwankte das Ufer mit allem, was darauf stand, nebelhaft verschwommen auf- und niederhupfend, immer starker, immer schneller, bis Pawel nicht mehr wu?te, wo die Wolken waren, wo die zappligen, das Gesicht peinigenden Wellen.
Als er zum letzten Mal emporgehoben wurde, erblickte er einen Kutter, der etwa so weit von ihm entfernt war wie das Ufer. Dann verlie?en ihn die Krafte. Seine Sinne schwanden.
Der Kutter schwankte im Sturm, glitt stundenlang uber den Flu?. Die beiden Boote wurden aufgelesen. Als sich die Nacht herabsenkte, fuhr er zuruck.
XV
Die Stadt Ust-Kamensk hat zwei Leben. Erstens ist sie ein Teil des ganzen Landes. Zeitungen und Radio sorgen dafur, da? dies nicht vergessen wird. Die Zeitungen treffen mit funftagiger Verspatung ein, aber sie werden nicht achtlos in die Ecke geworfen, sondern nach dem Lesen sorgfaltig zusammengefaltet und aufgehoben. Einen Radioapparat gibt es fast in jedem Haus. Trotzdem sitzt man am Ersten Mai nicht daheim im Sessel, sondern steht auf einem offentlichen Platz neben den Lautsprechersaulen, um gemeinsam der Ubertragung aus Moskau zu lauschen. Niemand hat diese Sitte eingefuhrt. Trotzdem folgt ihr jeder. Die Post kommt mit dem Dampfer oder per Flugzeug. Die Flugzeuge sind immer in Eile; kaum gelandet, rollen sie wieder uber die Bahn und steigen auf.
Zweitens aber ist Ust-Kamensk ein Stuck Welt fur sich: Taiga, Wasser, Fische aus dem Jenissej. Gro?e Bedeutung besitzt die Stadt als Umschlagsort fur zahlreiche Lebensmittel und Bedarfsguter, die von hier in Hunderte Dorfchen und Siedlungen wandern. Fur das Eigenleben von Ust-Kamensk gibt es einen besonderen Kalender. Darin hei?t es: „Das geschah zwei Tage vor Ankunft der ,Irtysch'' oder „Erinnerst du dich nicht, als der Elch in die Siedlung kam?' Nach dem diesjahrigen Sommer wird man noch lange Zeit sagen: „Als die Barke der Expedition in den Stromschnellen zerschellte', oder,,Als sich der Lehrer das Gesicht verbrannte.'
Der Einwohner von Ust-Kamensk ist kein Freund vieler Worte. Wahrend der Winterszeit gefriert das Quecksilber in den Thermometern. Der Jenissej spielt mit den Fischerbooten und bringt sie zum Kentern. Schon die einfachen, alltaglichen Verrichtungen erfordern ganzen Einsatz. Dies ist der Grund, weshalb in Ust-Kamensk Vokabeln wie „Mut' oder „Heldentum' unbekannt sind. Wenn hier jemand gelobt werden soll, hei?t es: „Das hat er richtig gemacht.' „Richtig' ist die hochste Auszeichnung, die hier ein Mensch erwerben kann. Von Viktor Nikolajewitsch sagt man seit damals: „Der ist richtig.' Von Sergej Michailowitsch: „Richtig, da? er losgeschwommen ist, sonst waren sie alle umgekommen.'
Von Jurka sprechen die Leute in der gleichen Weise, nur da? sie bei ihm noch hinzusetzen: „So ein Bursche!', weil Jurka ein Junge ist, von dem man schwerlich dasselbe verlangen kann wie von einem Erwachsenen.
An jenem Tage, als er durch die Stromschnellen geschwommen war, suchte Viktor Nikolajewitsch zwei Stunden lang nach den Jungen. Als er aus der Taiga zuruckkehrte, hatte er viele Brandwunden am Korper, seine Kleidung war zerfetzt, die Schuhe befanden sich in einem Zustand, da? man mit Sicherheit sagen konnte, sie wurden nie wieder so schon grau aussehen, wie fruher.
Jurka, in durchna?ter Turnhose und von oben bis unten mit Kratzern bedeckt, war in die Siedlung gelaufen.
Auf der Dienststelle der Miliz traf er Sergej Michailowitsch, der ihn mit sonderbarer, unertraglich ruhiger Brummelstimme empfing: „Was suchst du hier? Scher dich nach Hause, sonst holst du dir einen Schnupfen.'
„Sie sitzen hier rum?' keuchte Jurka au?er sich vor Entrustung. „Und die anderen warten.'