„Warten? Wieso?'
„Na, auf der Tunguska.'
Jetzt war es an Sergej Michailowitsch, sich zu wundern. „Wovon sprichst du?'
Er ist verruckt geworden, dachte Jurka entsetzt, er schlurft hier sein Glas Tee und sieht vollig normal aus, aber er hat etwas abgekriegt.
„Und Sie sitzen hier rum', keuchte er nochmals. „Ich begreife nicht, was du willst', erwiderte Sergej Michailowitsch. „Komm, ich bringe dich nach Hause. Die Aufregung war zuviel fur dich.'
Jurka blickte sich verzweifelt nach allen Seiten um. Als er sah, da? sonst niemand im Raum war, rannte er zur Tur, aber Sergej Michailowitsch erwischte ihn an der Hand und sagte sanft: „Jurka, versuch doch einmal, dich zu erinnern. Ein Hubschrauber ist gekommen, horst du, ein Hubschrauber, der hat euch alle fortgeholt. Vor ein paar Minuten wurde hier angerufen und Bescheid gegeben. Der Hubschrauber hat alle an Bord genommen. Du bist auch im Hubschrauber gewesen. Erinnerst du dich jetzt?'
„Das ist nicht wahr!' rief Jurka. „Ich bin geschwommen. Wir dachten, Sie sind ertrunken.'
Nun begriff Sergej Michailowitsch endlich, was geschehen war. Er lie? Jurkas Hand los und schuttelte ihn an den Schultern. „Ach, so ist das? Jurka sei mir nicht bose, entschuldige. Das konnte ich nicht ahnen.'
Ljoscha und Lena hatte der Hubschrauber tatsachlich aus ihrer mi?lichen Lage befreit. Eineinhalb Stunden spater trieben die Trummer der Barke an Ust-Kamensk vorbei.
Nur den Hafenmeister fand niemand.
Der Matrose, der mit dem Fernglas beobachtet hatte, wie das Boot umschlug und Pawel sich daran festklammerte, rief einen Kutter zu Hilfe. Als der Kutter kam, war es zu spat. Kein Mensch wu?te, weshalb Pawel ertrunken war. Eine halbe Stunde hatte er doch auf dem gekenterten Boot aushalten mussen, selbst bei diesem Sturm. So viel geschah an einem einzigen Tag in Ust-Kamensk, das dort liegt, wo sich zwei machtige sibirische Flusse vereinen.
Auf diesen Tag folgten andere. Sie brachten neue Ereignisse, neue, bedeutsame Entdeckungen. So wird es weitergehen, bis abermals der Winter kommt und mit seinem Schnee das Stadtchen zudeckt, das dann wieder schlafmutzig gahnend auf den Sommer wartet.
Doch zunachst geschah folgendes: Die Eltern empfingen Jurka mit gro?er Freude. Nie im Leben wird seine Mutter die Qualen vergessen, die sie durchstehen mu?te. Wenn sie daran denkt, steigen ihr noch heute hei?e Tranen in die Augen, teils aus Mitleid mit Jurka und sich selber, teils aus Freude daruber, da? noch einmal alles gut gegangen ist, wahrend es doch viel schlimmer hatte auslaufen konnen. Gleich als sie ihren Sohn wiederhatte, wurde ein riesiges Schlo? besorgt. Damit legte sie das orangefarbene Boot an eine schwere Kette. Jurka aber wurde strengstens untersagt, jemals wieder an den Flu? zu laufen, falls er nicht wollte, da? seine Mutter vorzeitig an einem Herzschlag sterbe. Vom Vater erfuhr Jurka, wie Petka und Dimka aus dem brennenden Wald gerettet wurden Drei Tage spater stand Petka unter dem Fenster auf der Stra?e und beschwor den Freund, herauszukommen.
Jurka schuttelte den Kopf. „Das geht nicht, ich bin eingeschlossen.'
Da rieb sich Petka verzweifelt den Hals, was hei?en sollte: Du mu?t kommen, es ist ungeheuer wichtig. Das war zuviel fur Jurka. Er kletterte durchs Fenster. Petka erzahlte ihm, da? Pawel ertrunken sei.
Jurka ging neben dem Freund durch die Stra?e. Alle Hauser waren winzig klein geworden, als betrachtete er sie durch ein umgedrehtes Fernglas. Ohne es zu merken, schlug er die Richtung zu Dimka ein. So war es seit eh und je gewesen: Was sie unternahmen, unternahmen sie zu dritt.
Heute aber meinte Petka geringschatzig: „Den brauchen wir nicht.'
Jurka uberhorte, was der Freund sagte. Seine Gedanken weilten bei Pawel, der ihm ein lieber Kamerad gewesen war. Wie oft hatten sie in seinem Zimmer von gro?en Seefahrten geplaudert, ohne bei diesem unerschopflichen Thema je zu ermuden. Pawel war der einzige Mensch gewesen, der Jurka verstanden und seine verworrenen Plane ernst genommen hatte.
Wortlos kam Dimka durchs Fenster geklettert. Offenbar war er eingeschlossen.
„Schade', lautete seine erste Bemerkung, als er drau?en stand. „Meinst du nicht?'
„Halt ja die Klappe', entgegnete Petka, „dich geht es am allerwenigsten an.'
Dimka zuckte zusammen, schwieg aber, als ware es Petkas gutes Recht, ihm so uber den Mund zu fahren.
Jurka hatte wieder nichts gehort. Vor dem Hauschen am Hafen trafen sie seinen alten Feind, den Matrosen. Zu viert gingen sie die Treppe hoch.
In der Schreibmaschine steckte ein Briefbogen, Pawels engzeilig geschriebenes Gesuch.
„Hier hat er gesessen und getippt, als ich eintrat', erklarte der Matrose. „Es ist nicht seine Maschine. Er hat sie sich geliehen. Wi?t ihr nicht, von wem?'
Jurka spannte den Bogen aus. Er uberflog die ersten vier Zeilen.
„Lies vor', sagte der Matrose. „Das interessiert alle.'
Jurka fand, da? der Matrose recht hatte, und las:
„An den Leiter der Jenissej-Schiffahrtsgesellschaft
Ich wurde im Jahre 1936 im Dorf Maima geboren. Das ist in der Taiga. Um das Ziel der siebenten Klasse zu erreichen, mu?te ich eine Schule besuchen, die funf Kilometer von unserem Dorf entfernt lag. Da ich den festen Willen hatte, etwas zu lernen, versaumte ich im Herbst und bei Schlammwetter keine einzige Stunde, hochstens im Winter bei starkem Frost. Mein Vater hatte eine schlechte Schulbildung genossen, aber er war ein guter Jager. Er brachte mir schon beizeiten das Schie?en bei. Bald traf ich ein Eichhornchen nicht schlechter als ein Erwachsener. Wenn ich durch die Taiga wanderte, dachte ich immer daruber nach, wie es spater sein werde. Sie, Genosse Vorgesetzter, haben fruher bestimmt auch oft uberlegt, welchen Beruf Sie ergreifen sollten.
Ich anderte meine Plane haufig und konnte mich fur nichts richtig entscheiden. Ich wei?, da? man beharrlich auf ein Ziel zusteuern mu?, wenn man etwas erreichen will. Lange Zeit hatte ich jedoch kein festes Ziel. Ich werde gleich erklaren, warum.
Wir lebten in der oden Taiga. Ringsum war nichts als Wald. Hochstens sah man mal einen Dampfer auf dem Flu? oder eine Barke, und bisweilen kam auch ein Flugzeug uber unser Dorf. Naturlich las ich viele Bucher. In der Schule horte ich, da? es verschiedene Staaten gibt. Aber uber das Leben zu horen und zu lesen ist etwas anderes, als alles mit eigenen Augen zu sehen.
Bei uns in der Taiga gibt es Blumen, die wir die ,Unzertrennlichen' nennen. Das tun wir deshalb, weil sie immer paarweise aus einer Wurzel sprie?en, und nie verwelkt eine allein, jedesmal auch die andere. Im Fruhjahr kommen die Unzertrennlichen heraus. Sie bluhen nur kurze Zeit, haben aber einen wunderschonen und kraftigen Duft.
Ich konnte zehn Seiten schreiben, Genosse Vorgesetzter, nur uber diese Blumen. Sie wurden es lesen, aber am Ende doch nicht wissen, wie sie aussehen und riechen oder welche Farbe sie haben. Das ist ein eigenartiger Duft. Wenn man ihn kennenlernen will, mu? man dorthin gehen, wo die Unzertrennlichen wachsen.
Ich denke, da? es mit vielem grad ist wie mit diesen Blumen. So manches hat etwas Besonderes und Einmaliges an sich. Ein Lehrbuch oder eine Unterweisung nutzt da nicht viel. Man mu? es mit eigenen Augen gesehen haben. Ich bin aber in der Taiga aufgewachsen, hab wenig kennengelernt. Im Leben fand ich mich daher schlecht zurecht, ich hatte kein richtiges Ziel.
Als ich das erstemal einen Traktor sah, stand mein Entschlu? fest. Ich mu?te Traktorist werden. Das wei? ich noch wie heute. Dann kamen Geologen ins Dorf, und ich wollte naturlich Geologe werden. So war es stets. Wenn ich etwas Neues kennenlernte, anderte sich mein Berufswunsch. In unserem Land gibt es vielleicht hunderttausend verschiedene Berufe. Wie soll man da den richtigen herausfinden?
Aber es soll doch ein Beruf furs ganze Leben sein. Nach Abschlu? der siebenten Klasse erhielt ich die Moglichkeit, eine Fachschule fur Flu?schiffahrt zu besuchen. Ich fragte meinen Vater, ob ich den Vorschlag annehmen sollte oder nicht. Er sagte: ,Als ich in deinem Alter war, habe ich meine ersten langen Hosen angezogen. Und du willst gleich Kapitan werden. Grunschnabel. Arbeite erst im Kolchos.' Meine Mutter aber sagte: Jawohl, Junge, geh zur Flu?schiffahrt, dort wirst du gut bezahlt.'
Auf der Fachschule hatte ich lauter Einsen und Zweien. Jetzt glaubte ich, den richtigen Beruf gefunden zu haben. Im Sommer kamen wir alle zum Praktikum auf das Motorschiff ,Ural'. Wir fuhren den Jenissej runter bis