Wenka war tief gekrankt. Mit bleichem Gesicht stand er vor Schawrow, hielt den Brief in der ausgestreckten Hand und wiederholte: „Nehmen Sie ihn, nehmen Sie ihn!'

Viel hatte nicht gefehlt und er ware in Tranen ausgebrochen.

Die Fischer merkten, da? etwas nicht stimmte. Sie kamen heran. Mit ernsten Augen betrachteten sie den Jungen und den Mann. Noch begriff niemand von ihnen, was vorging.

„Also gib her!' Schawrow lachte auf. Mit einer schwungvollen Unterschrift bestatigte er den Empfang des Briefes. „Dann ist mein Lohn eben futsch.'

Wenka steckte die Quittung ein. Als er zu seinem Boot ging, rief ihm Schawrow nach: „Hast du das Messer nicht gestohlen? Sonst ruck's raus. Ich werde nachsehen.'

„Paschka, halt die Luft an', wies ihn ein Fischer zurecht. „La? den Wenka in Frieden. — Na, Postbote, weiter hast du nichts?'

Der „Postbote' drehte sich nicht um. Er schuttelte den Kopf.

Inzwischen hatte die Ebbe begonnen. Das Meer war zuruckgegangen. Wenkas Boot lag auf dem Trockenen. Der Junge stemmte eine Schulter gegen den Rand, er schob und stie?, mu?te jedoch einsehen, da? er allein nichts ausrichten konnte. Das Boot ruhrte sich nicht von der Stelle. Bis zum Wasser waren es drei Meter. Da gab er sich geschlagen, kletterte hinein und setzte sich auf die Bank. Immer weiter wich das Meer vom Ufer zuruck. Er kniff die Lippen zusammen und schaute griesgramig zu. Es war wie das unentwegte Vorrucken eines Minutenzeigers — eine Bewegung, die man bemerkt und gleichzeitig nicht bemerkt. Man braucht nur eine Weile die Augen zu schlie?en und dann wieder zu offnen, um zu sehen, da? der Zeiger inzwischen auf den nachsten Strich geruckt ist.

Wahrend Wenka noch seinen Betrachtungen nachhing, rief jemand: „Sonnst dich wohl, Postbote?'

Wenka fuhr herum. Hinter ihm standen zwei Frauen, die er nicht kannte. Sie trugen einen Korb mit Salz, setzten ihn am Strand ab und lachten spottisch. Wenka starrte murrisch vor sich hin. Von der Ebbe uberrascht zu werden ist eine Schande fur jeden Seemann, auch wenn er nichts dafur kann.

Doch die Frauen waren gar nicht so. Sie griffen in die Rudergabeln und schoben das Boot mitsamt dem auf der Bank hockenden „Brieftrager' ins Meer.

„Schonen Dank auch', riefen sie ihm nach. Endlich kam Wenka zu sich. „Ja, schonen Dank', murmelte er verwirrt. Die Frauen hoben lachend den Korb an.

Wieder war da der Pfad, zog wie ein feuriger Schweif hinter dem Boot her. Standig begleitete er Wenka. Der ruderte, ohne sich umzublicken. Die Richtung stimmte, solange die Bootsspur auf dem diamantenen Pfad blieb und es schien, als habe er ihn selber angelegt.

Uber der Hugelkette, die das Ufer saumte, hingen reglose Haufenwolken. Man hatte sie fur eine Fortsetzung des Hohenzuges halten konnen. Von den Hangen ergossen sich Lichtstrome aufs Meer. War das ein Blitzen und Gefunkel uberall! Wenka fand, Menschen wie Schawrow durfte es nicht geben, dann ware die Welt noch schoner.

Drei?ig Meter vom Boot entfernt stie? der Kopf einer Robbe aus dem Wasser. Das Tier blickte Wenka mit scheuen, in ewiger Furcht geweiteten Augen an. „Hier ist ein Brief fur Sie, ich bitte um Ihre Unterschrift!' schrie Wenka hinuber.

Lautlos tauchte der Robbenkopf unter, war plotzlich verschwunden, wie in Nichts aufgelost. Wenka spurte Erleichterung. Er wurde frohlich, als hatte er es Schawrow tuchtig gegeben.

Das Boot fuhr am Ufer entlang. In der Ferne erhob sich eine bewaldete Insel, schien schaukelnd und schwankend auf dem Meer zu treiben. An dieser Stelle wu?te Wenka jedesmal, wieviel Ruderschlage noch zu tun waren.

„Tausendzweihundert', murmelte er vor sich hin und begann zu zahlen: „Eins — und zwei — und drei...'

Als er bei sechshundert angelangt war, blickte er wieder hinuber. Noch immer trennte ihn eine gro?e Strecke von der Insel. Wenkas Bewegungen wurden ruhiger. Er zog die Ruder langsam durch und hielt sie eine Weile in der Luft, bevor er sie erneut ins Wasser senkte.

„Tausendeinhundert und...'

Endlich war zu horen, wie im Rucken die Wellen mit leisem Geplatscher ans Ufer rollten, was bedeutete, da? die Entfernung bis zur Insel noch drei?ig Meter betrug. Jetzt ruderte Wenka hastig, mit kurzen Schlagen.

„Hundertundeins — hundertundzwei...' Bei tausendeinhundertsiebenundneunzig schurrte das Boot uber die Ufersteine. Zufrieden streckte Wenka den schmerzenden Rucken. Das letztemal hatte er sich um zehn Ruderschlage verrechnet.

Er kletterte auf das mit Flechten bedeckte Geroll und wickelte sein Essen aus: zwei mit Steinbutt belegte Butterschnitten — Fruhstuck und Mittagbrot. Er verspeiste beides auf einmal. Wahrend der Mahlzeit lag er auf dem Bauch und spurte, wie die Warme der erhitzten Kiesel durch die Kleidung drang. Mit behaglichem Schmatzen platscherten Wellen gegen die Steine, spritzen an ihnen hoch und wichen zuruck ins Meer. Wenn Wenka die Augen schlo?, war ihm, als zittere und schwanke das Geroll unter seinem Korper gleich dem Boot, mit dem er hergerudert war.

Er hatte gern ein wenig geschlafen, aber dazu war keine Zeit. Um die Mudigkeit abzuschutteln, stand er auf und hupfte mehrere Male an der gleichen Stelle.

Als sich das Boot funfhundert Meter von der Insel entfernt hatte, begann Wenka wieder zu zahlen, allerdings ohne ein einziges Mal den Kopf zu heben und sich zu orientieren. Die Folge war, da? er auf eine ganz zufallige Zahl kam: siebenhundertdreiunddrei?ig.

Der Strand war steinig. Hinter einem schmalen Uferstreifen begann die steile, von Felsblocken ubersate Boschung. Hier gab es keinen Pfad, Wenka mu?te auf allen vieren kriechen und sich an den drahtigen Wacholderbuschen festklammern. Als die hochste Stelle erreicht war, verschnaufte er ein wenig. Dann begann der Abstieg. Um nicht ins Rutschen zu kommen, rannte er von Stein zu Stein.

Vor einem Hauschen — der zeitweiligen Unterkunft einer Feldmesserabteilung — standen mehrere Arbeiter. Als sie Wenka bemerkten, beugte sich einer uber das Dreibeinstativ und richtete das Beobachtungsfernrohr des Theodoliten auf den naher kommenden Jungen.

,,Wir gru?en die Post', rief er. „Aber warum laufst du denn nicht wie ein normaler Mensch?'

 „Wie laufe ich sonst?' fragte Wenka.

 „Guck mal hier durch.'

Wenka stellte sich ans Fernrohr. Anfangs begriff er gar nichts. Himmel und Erde waren vertauscht. Die Wolken segelten unten, die Hugel standen kopf, wie Eiszapfen hingen daran die Tannen. Na, ich danke, dachte Wenka, ich mu? eine sehr komische Figur abgegeben haben.

„Gehen Sie doch auch mal ein Stuck', bat er, „vielleicht bis zu diesem Stein dort.'

„Wir haben das Gehen satt', erwiderte der Arbeiter, der neben dem Fernrohr stand, „seit dem Fruhjahr ziehen wir durch die Gegend. — Fur wen hast du was mitgebracht?' „Fur Lisunow.'

„Also fur mich.'

In Wenkas Hand raschelte ein zerknitterter Brief. Lisunow ri? den Umschlag auf. Beim Lesen schien er allmahlich zu entrucken. Ein unglaubiges Lacheln stahl sich uber sein Gesicht. Wenka befurchtete, auch Lisunow konnte den Brief sogleich zuruckweisen. Auf einmal wurden ihm alle diese Menschen zuwider. Au?erdem war er wutend, weil Lisunow ihn in dieser komischen Stellung gesehen hatte.

Das Lacheln wurde breiter. Lisunow meckerte los, leise zuerst, dann lauter. Schlie?lich ri? er sich die Mutze vom Kopf und schleuderte sie auf die Erde.

„Brieftrager', jubelte er, „was sagst du nun dazu? Ist das nicht wunderbar! Wie soll man es anders nennen?'

„Ein Einschreiben', bemerkte Wenka, um Mi?verstandnissen auf alle Falle vorzubeugen. „Hier mussen Sie Ihren Namen hinsetzen.'

 „Mit meinem Blut werde ich unterschreiben', rief Lisunow. „Kinder, stellt euch vor. Mein Schwesterchen war gerade aus den Windeln raus, und eine Kalte war das. Im Thermometer gefror das Quecksilber. Es war noch Krieg. Der Zug fuhr ab. Meine Schwester kam nicht mit. Wo haben wir nicht hingeschrieben! An den Rundfunk, an die Zeitungen. Alles umsonst. Jetzt ist sie da. Die ,Komsomolka' hat sie gefunden.'

Lisunow ubersturzte sich, als sa?e er im Kino und sollte die Szenen eines vor seinen Augen abrollenden

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