„Red nicht soviel', schimpfte sein Bruder Senja, „komm lieber.'
„Ist das eine Hitze', sagte der andere und stohnte, „zum Umkommen.' Er streifte den Kragen seiner wattierten Jacke zuruck und reckte den Hals.
„Bleib dort, bis du Wurzeln schlagst', sagte Senja und schritt weiter.
Sein Bruder ri? sich die Mutze vom Kopf. „Dann machen wir es eben so', schrie er. „Besser?'
„Besser', knurrte Senja, ohne den Kopf zu wenden. — Sie wanderten bereits drei Stunden durch die Taiga. Im Rucksack schleppte jeder von ihnen acht Kilogramm Mehl. Die Last hatten sie gleichma?ig verteilt, aber ihre Krafte waren unterschiedlich. Der jungere wurde rasch mude und blieb wieder zuruck.
Die Verkaufsstelle auf dem Baugelande, wohin sie von der Mutter nach Mehl geschickt worden waren, hatte zwei Sorten angeboten: wei?es und schneewei?es. Sie hatten das schneewei?e genommen und ihr gesamtes Geld ausgegeben. Hin waren sie mit dem Dampfer gefahren. Zuruck mu?ten sie durch die Taiga laufen.
Der Morgentau war noch nicht verdunstet. Aus jedem Tropfen strahlten kleine Sonnen. Dem jungeren tat es leid, da? sie von den Grashalmen geschuttelt wurden und unter seinen Absatzen verschwanden.
Des langen Schweigens uberdrussig, meinte er: „Senja, hoffentlich geht alles gut. Mutter hat gesagt, wir sollen Mehl zu drei?ig nehmen.'
„Und wir haben funfziger genommen, was ist dabei', erwiderte Senja.
Der jungere hob den Rucksack an. Er rannte einige Schritte, um den Bruder einzuholen. Auf dem nassen Laub rutschte er aus und fiel hin. Der Rucksag schlug ihm in den Rucken. Eine wei?e Wolke stob in die Luft. Die Erde sah aus wie gepudert.
Der Junge lag still, druckte eine Gesichtshalfte ins Gras und beobachtete, wie die Mehlstaubchen sich auf die zitternden Tautropfen setzten, wie sie langsam dunkel wurden. Aufzustehen fehlte ihm die Kraft.
Erst als der Bruder umkehrte, sprang der Kleine hoch. Er guckte an sich herab und schuttelte die Blatter von der Jacke.
„Dich habe ich zum letztenmal mitgenommen. Verstanden?'
Der Kleine prufte schweigend nach, ob die Schnur am Rucksack noch fest sa?, und trottete weiter hinter dem Bruder her. Eine Zeitlang war nichts zu horen als das Rascheln des Laubes und das Knacken der Zweige, die unter den Schuhsohlen zerbrachen.
Allmahlich glattete sich das Gesicht des jungeren, die Sorgenfalten verschwanden. Ein Gedanke beschaftigte ihn. Er lachelte vor sich hin. Schlie?lich hielt er es nicht mehr aus und fragte: „Senja, kannst du mir verraten, warum die Gro?en immer die Kleinen ausschimpfen? Weshalb ist das so? Sag mal.'
Senja antwortete nicht.
Eine halbe Stunde spater erklang es hinter seinem Rucken: „Seeen-jaaa, warte maaal!'
Senja blieb stehen. Er horte das Gerausch eiliger Schritte und hastige Atemzuge. Obwohl der Bruder offensichtlich das Letzte hergab, empfand er beim Anblick des krebsrot angelaufenen Jungen, der mit den Fu?en immer wieder in dem langen Gras hangenblieb, nichts als Zorn. Er war selber erschopft, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Um seine eigene Schwache zu verbergen, tat er besonders barsch.
„Na los', knurrte er, „wird's bald! Oder bist du schon mude?'
„Du hast es gut', keuchte der jungere, „mit deinen Stiefeln. Du kannst lachen. In meinen Schuhen quietscht schon das Wasser. Horst du es?' Aus seiner Stimme klang kein Groll. Die alteren schreien und kommandieren herum. So ist es nun mal, damit mu? man sich abfinden. Der Mensch gewohnt sich an alles.
Senja warf einen Blick auf die nassen Schuhe des Bruders und betrachtete seine derben, gediegenen Lederstiefel. Zum erstenmal, seit sie die Baustelle verlassen hatten, wu?te er nicht, was er sagen sollte.
„Schon', meinte er nach einigem Grubeln, „zieh die Dinger aus. Wir machen uns ein Lagerfeuer.'
Wenige Minuten spater sa?en sie mit ausgestreckten Beinen vor den lodernden Flammen. Wieder suchte der Kleine eine Gelegenheit, mit dem Gro?en ins Gesprach zu kommen.
„Senja', piepste er, „zu Hause wirst du etwas abkriegen. Wenn du nach Tabak riechst, sagt Mutter bestimmt: ,Hauche mich an.' Machst du das?'
Senja, der an einer riesigen, ungeschickt gedrehten Zigarre lutschte, schuttelte unwillig den Kopf. Dabei verschluckte er sich am Rauch.
„Meinetwegen kannst du ruhig qualmen', fuhr der Kleine eifrig fort, „ich verrate nichts. Aber sie wird es selber merken. Senja, stimmt es, da? im Faulgrund die Mucken Lakschejews Kuh aufgefressen haben?'
„Hier gibt's auch genug von den Biestern', erwiderte Senja und stie? eine gewaltige Rauchwolke von sich, bemuht, genau in die Mitte des dichten Mucken-schwarms zu treffen. „Die Kuh haben sie vollig ausgesaugt. Nur die Horner und das Fell sind ubriggeblieben.'
„Die Knochen nicht?'
„Doch, die wahrscheinlich auch. Allerdings hat sie keiner gesehen. Lakschejew selber ist nicht auf den Faulgrund gegangen. Er hat am Rand gestanden und rubergeguckt. Nun sagt er: ,In der Mitte liegen die Horner.' Vielleicht waren es keine Horner, sondern ein trockener Ast.'
„Das ist.auch moglich', gab der Kleine zu. „Jedenfalls ist er seine Kuh los.'
„Auf den Faulgrund wagt sich jetzt keiner. Hochstens bei Sturm. Wenn es windstill ist, geht's einem wie Lakschejews Kuh. Es ist Muckenzeit.'
„Ja, die Mucken schlupfen jetzt aus', bestatigte der Kleine. „Wurdest du dich hintrauen?'
„Ich schon, aber nicht mit dir', brauste Senja wutend auf. „Du lahmer Esel, du', fugte er giftig hinzu.
Der Kleine lie? nicht locker. „Aber allein', fragte er, „allein wurdest du hingehn?'
„Nun halt endlich den Mund. Dein Gequassel regt mich auf', war die Antwort. Senja wollte nicht lugen, doch die Wahrheit zu gestehen, fehlte ihm der Mut. Der Juni ist Muckenmonat. Wenn man auf einen Fleck gerat, wo es schattig und feucht ist, steigt sofort ein dichtes, summendes Knauel auf. So ist es in den Niederungen, im Sumpf, im Purpurweidengestrupp am Flu?. Man kann sich ein Muckennetz uber den Kopf stulpen, die Haut mit Salbe bestreichen, fast in die Flammen kriechen — es hat alles wenig Zweck. Unter den vielen Millionen Insekten, die einem um die Ohren schwirren, finden sich stets Tausende, die weder den bei?enden Rauch, noch den Teergeruch der Salbe, noch die fuchtelnden Arme furchten.
Im Faulgrund gibt es so viele Mucken, da? zu dieser Jahreszeit sogar die Elche einen Bogen darum machen.
„Nein, ich wurde nicht hingehen', gestand der Kleine von sich aus, „nicht fur Geld und gute Worte.'
Senja wurde argerlich. „Vielleicht wollen wir hier ubernachten?' fauchte er. Das Gesprachsthema war eindeutig nicht nach seinem Geschmack.
„Warte, gleich gehen wir', erwiderte der Kleine bereitwillig. „Die Schuhe sind von der Hitze ganz hart geworden, siehst du. Es ist schwer, reinzukommen. Aber schon warm sind sie', fugte er genie?erisch hinzu, wahrend sich seine Fu?e in die Schuhe zwangten, die unmittelbar neben dem Feuer gestanden hatten, „so mu?ten sie bleiben.'
Senja streifte die Tragriemen des Rucksacks uber die Arme, stand auf und ging wortlos weiter. Nach einigen Schritten knickte er ein.
Der Kleine freute sich. „Dich habe ich z
Als er sah, wie sich das Gesicht des Bruders jah veranderte, verstummte er. Er lief hinzu, zog den am Boden Liegenden an der Schulter und flusterte:
„Senja, was hast du?'
Senja stutzte sich mit den Handen und richtete den Oberkorper auf. Von seinem Gesicht wich die Verwunderung. Schreck und Schmerz spiegelten sich in seinen Augen. Langsam sank er vornuber, klammerte sich am Gras fest, das er mitsamt den Wurzeln aus dem Boden ri? und an sich zog.
„Senja', schrie der Kleine entsetzt, „Senja!'
„Das Bein', stohnte Senja.
Er lag jetzt still. Nur die Hande schlossen und offneten sich.
Als der Kleine die Stimme des Gro?en horte, beruhigte er sich ein wenig.
„Klammere dich an', sagte er niederkniend und hielt dem Bruder eine Schulter hin.
„Geh fort', stie? Senja zwischen den Zahnen hervor.
Verzweifelt starrte der jungere auf die hilflos vor ihm ausgestreckte Gestalt. Uber die wirren Haare krabbelten Ameisen, geschaftig, als ware nichts geschehen. Das Bein steckte in einem Bodenloch. Es war eigenartig zur Seite gekrummt. Der Kleine merkte, da? etwas nicht stimmte, und rutschte dichter heran. Er fing an,