das Gras herauszurupfen.
„Geh fort', stohnte Senja, von unertraglichem Schmerz ubermannt.
,,Gleich, Senja, ich grabe nur dein Bein frei. Wenn ich fertig bin, marschieren wir weiter.' Mit den Fingernageln wuhlte der Kleine in dem von Wurzeln verfilzten Boden, der unter der Oberflache trocken und fest war.
Als seine Hande an den Stiefel stie?en, lief ein Zittern durch Senjas Korper, und er straffte sich.
„Wird es jetzt gehen?'
Senja walzte sich auf den Rucken. Er versuchte, sich hinzusetzen. Jede Bewegung bereitete ihm unsagbare Schmerzen.
„Ich kann nicht.' Er stohnte qualvoll. „Geh allein. Ob du es schaffst, Sascha? Hole Hilfe.'
„Versuch's doch noch einmal, Senja. Ich kenne den Weg nicht.'
„Du Esel', schimpfte Senja. „Das Bein ist gebrochen.' Dann wurde seine Stimme wieder ruhig. Mit vielen Pausen sagte er: „Ich habe — einen Kompa? — in der Tasche. Nimm ihn. Der Zeiger — hat eine rote Spitze. Siehst du?'
„Ja, hier.'
„Lauf immer der Pfeilspitze nach, bis du an einen Flu? kommst. Dort schreist du laut um Hilfe. Auf der anderen Seite liegt Baikit. Nur mu?t du immer auf die Richtung achten.'
Die kleine Kapsel mit der zitternden Nadel lag auf Saschas ausgestreckter Hand.
Sascha hatte Angst.
Im Vergleich zu dieser winzigen, unruhig pendelnden Nadel war alles riesenhaft: der Himmel, die Taiga, die Stille.
„Lauf, Sascha', drangte Senja, „lauf. Du wirst es schon schaffen. Mu?t dich nur nach der Kompa?nadel richten.'
Sascha tapste durch die Schneise, warf furchtsame Blicke nach allen Seiten.
„Gib acht, da? du nicht abkommst', rief ihm Senja nach.
Die Baume neigten sich zueinander. Lange hallten die stampfenden Schritte nach. Im Rucken raschelte und knisterte es pausenlos. Die Gerausche breiteten sich nach allen Seiten aus, trafen auf die Stamme, wurden gebrochen zuruckgeworfen. Die Taiga dehnte sich in geheimnisvoller Gro?e. Doch plotzlich schien alles in Bewegung zu geraten, schien sich zu wenden, zu drehen und pfeifend auf den Jungen loszusturmen. Das angespannte Gehor fing jedes Lispeln auf. Sascha begann zu rennen. Er wollte fort, weit fort, um die Gerausche, die von allen Seiten an seine Ohren drangen, nicht mehr horen zu mussen. Ein einziges Mal hielt er inne, um einen Blick auf den Kompa? zu werfen. Er fuhlte, da? die Schultern schmerzten. Die Traggurte schnitten ins Fleisch.
Plump flog der Rucksack gegen einen Baum. Dort war es trocken. Sascha lief weiter. Nach wenigen Schritten drehte er sich um. Sonnenlicht fiel durchs junge Laub, flutete von den bemoosten Hugelchen. In den hellen Strahlen war der Rucksack schwer zu erkennen. Den finde ich nachher nicht wieder, dachte Sascha, das schone Mehl. Er rannte zuruck und streifte die Gurte wieder uber die Schultern.
Endlich ruckten die Baume weiter auseinander. Uber sich erblickte Sascha den Himmel. Weiter vorn lichtete sich der Wald. An seinem Saum flimmerte die warme Luft. Dahinter dehnte sich ein mit Erdhugeln bedeckter gelber Grund. Der Junge wandte den Blick nach links, nach rechts und sah, soweit das Auge reichte, nichts als diese ausgedehnte Flache. Auf dem fettigen Wasser, das zwischen den Hugeln stand, lag truber, lebloser Sonnenschein. Unbeweglich ragten mit schweren, schlaff herabhangenden Blattern die langen Halme des Sumpfgrases aus den Pfutzen. Sascha stand vor dem Faulgrund. Er wu?te es sofort, obwohl er nie zuvor hier gewesen war. Er erkannte ihn an der bleigrauen Tonung des Wassers, an dem leisen Summen, das, wie es hie?, im Juni stets uber dem morastigen Boden schwebte.
Die rote Spitze der Nadel wies direkt auf den Sumpf. Der Junge schuttelte den Kompa?. Unter dem Glas geriet die Nadel in Bewegung, tanzte schwankend nach links und rechts, bis sie in ihrer alten Lage erstarrte. Jetzt drehte Sascha das Gehause vorsichtig. Er hoffte noch immer, die rote Spitze aus der verhangnisvollen Richtung abzulenken. Vielleicht hatte sich die Nadel verklemmt. Wie sollte er, ein achtjahriger Junge, durch den Faulgrund laufen, wo die Horner dieser blodsinnigen Kuh lagen? Aber sosehr er sich anstrengte — die Nadel lie? sich nicht uberlisten, sie zeigte unentwegt in die gleiche Richtung. Sascha sah sich vor die Wahl gestellt, dem Kompa? zu folgen oder seinen Bruder Senja hilflos in der Taiga liegen zu lassen. Er entschied sich fur das erste. Der Boden war weich, federte wie eine Matratze. Bis zu den Knien versank der Junge im Wasser. Neben den Beinen glucksten kleine, fluchtige Blasen an die Oberflache. Der Sumpf seufzte, sog die Schuhe an sich und gab sie nur widerwillig frei. Jeder Schritt wurde zur Qual. Als der Boden endlich fester wurde, ging Sascha schneller. Unablassig vernahm er dieses leise Summen, das eintonig uber dem Sumpf schwebte und von dem man nicht wu?te, ob es aus den Wolken oder aus der Erde drang.
Dick wie Kartoffelschalen legte sich etwas um die Handgelenke. Das stach und schmerzte furchterlich. Sascha wu?te anfangs nicht, da? es Mucken waren. Sie sa?en in dichten, dunklen Trauben, hingen auch an den Sachen und lechzten nach einem Stuckchen blo?er Haut. Der Junge begann zu rennen. Eine graue Wolke schwebte uber seinem Kopf, summend und unruhig durcheinanderwogend. Sie folgte ihm erbarmungslos auf Schritt und Tritt. Dann war der feste Streifen zu Ende. Die Beine versanken wieder im Morast. Der Korper hatte zuviel Schwung. Sascha fiel der Lange nach hin. Butterweich waren die Erdhaufchen unter ihm. Sie gaben bereitwillig nach. Etwas Kaltes heftete sich an die Fersen. Sascha ri? und zerrte. Ringsum geriet der glucksende, breiige Boden ins Schwanken. Der Sumpf hatte ein Opfer gefunden und wollte es nicht wieder hergeben.
Der Junge begann zu weinen. Er dachte an nichts mehr. Die Mudigkeit hatte ihn bezwungen. Er lie? sich umsinken. Tranen rannen ihm die Wangen herab.
In hungrigen Scharen fielen die Insekten uber ihn her, lagen gleich einem dichtgewebten Tuch auf seinem Gesicht. Er spurte schon keinen Schmerz mehr, strich nur mechanisch mit der Hand uber die Haut. Wie klebriger, kalter Brei fielen die zerquetschten Mucken ins Wasser. An ihre Stelle traten andere, sturzten sich gierig auf frei gewordene Stellen.
Sascha stemmte die Fauste gegen den glitschigen Boden, der ihn widerstrebend, zentimeterweise loslie?. Als die Fu?e aus dem Schlick gezogen waren, kroch er ein Stuck auf allen vieren. Dann richtete er sich hoch. Die Traggurte schnitten in die Wattejacke, aber der Rucksack hatte sein Gewicht verloren. Er schien ein Teil der wassertriefenden, am Korper klebenden Kleidung geworden zu sein.
Der Junge offnete die Fauste. Grasbuschel fielen heraus. Der Kompa? war verschwunden.
Da kamen wieder die Tranen.
Sie trubten ihm die Sicht. Er rieb die Augen und durchwuhlte auf dem Bauch den schlammigen Grund unter dem Wasser. Vor seinem Gesicht stiegen Blasen auf. Die Grashalme, die sich zu ihm herabneigten, erschienen ihm gro? wie Baume. Sie verdeckten den Horizont und die Sonne. Jetzt sah er, da? die Stengel an den Randern schartig waren. Der Junge kam sich winzig klein vor. Er wunschte, eine Ameise zu sein, um an den Halmen hochkriechen zu konnen und das ekelhafte Wasser nicht mehr zu spuren.
Als er den Kompa? endlich gefunden hatte, kostete es Muhe, wieder auf die Beine zu kommen. Die Glasscheibe war von lehmigem Wasser bedeckt. Unverandert zeigte die rote Pfeilspitze in die gleiche Richtung.
Der Junge stapfte weiter, taumelnd, unsagbar mude. Wenn er uber einen Erdhugel stolperte, spritzte der Morast.
Nach einer Weile horte es unter den Schuhsohlen zu schmatzen auf. Ein dorniger Zweig streifte seine Wange. Es war angenehm, ein wohltuendes Kratzen auf der juckenden Haut. Er schritt durch biegsames Gestrupp und merkte nicht, da? es die Straucher am Ufer waren. Sein gedunsenes Gesicht mit der straffgespannten Haut glich einem Klumpen Hefeteig. Von den unzahligen Muckenstichen waren die Augen zugeschwollen. Er sah so gut wie nichts mehr.
Die sandige Stelle, auf die er sich setzte, befand sich in unmittelbarer Nahe des Flusses. Er horte eine Sirene und das Rauschen von Wasser. Ein Raddampfer fuhr stromauf. Radiomusik klang heruber, das Stampfen der Maschine, Mannerstimmen. Jedes Wort war deutlich zu vernehmen.
,,In Krasnojarsk nehmen wir ein Flugzeug', brummte selbstsicher ein Ba?. „Von dort geht's weiter nach Sotschi. Palmen, eine Wassertemperatur von neunundzwanzig Grad, Mandarinen frisch vom Baum. Konnen Sie sich das vorstellen?'