Mit den Fingern schob der Junge die Lider hoch. Er sah den Dampfer. An der Reling standen zwei Manner und blickten sich an.

„Heee, Onkel!' rief Sascha.

„Nein, fur Mandarinen ist es noch zu fruh', erwiderte der andere, „die sind erst im Oktober reif.'

„Heee, haaalt!' schrie der Junge und fuchtelte eifrig mit den Armen.

Diesmal horten sie ihn. Die Manner drehten sich um. Einer winkte zuruck. Zischend spritzte eine Welle ans Ufer. Bald war der Dampfer hinter einer Flu?biegung verschwunden.

Gro?e Feuerballe hupften vor Saschas Augen. Alles, was er an diesem Tage erlebt hatte, war wie jahrealte Erinnerungen. Er spurte eine bleierne Schwere in den Gliedern, legte das Gesicht auf den feuchten Sand und dachte mude: Senja ist sicher schon tot. Senja ist tot, Senja ist tot, klopfte das Blut in den Schlafen. Als Sascha den Sinn dieser drei Worte vollig erfa?te, sprang er auf die Fu?e — das hei?t, so schien es ihm: In Wahrheit rappelte er sich muhsam in die Hohe. Es bereitete ihm Muhe, die Jacke aufzuknopfen und mit dem Rucksack zusammen nach hinten auf den Sand fallen zu lassen. Die Hose legte er uber den Rucksack, in dem das Mehl feucht geworden war.

Als er sich ausgezogen hatte und ins Wasser tastete, kam ein mit durchna?tem Heu beladenes Boot um die Straucher gefahren. Die beiden Frauen, die darinsa?en, ruderten muhelos mit der Stromung. Verwundert sahen sie dem Jungen zu.

Er stand bis zum Gurtel im Wasser, beugte den Oberkorper nach vorn, plantschte, ging weiter. Dann begann er zu paddeln, ungelenk, mit den Bewegungen eines Kindes. Sein Kopf fuhr hin und her. Die rechte Hand war geoffnet, die linke zur Faust geballt.

„He, du Wasserratte, nicht so zapplig!' riefen die Frauen. Sascha hob das Gesicht. Die Frauen sahen, da? seine Augen zugeschwollen waren. Als sie ihn ins Boot gezogen hatten, offnete sich seine linke Hand, und der einen Frau fiel ein schwarzer Kompa? aufs Knie.

Am Abend lag Senja bereits im Krankenhaus. Sascha erblickte erst zwei Tage spater die Sonne wieder.

„Warum mu?test du auch durch den Sumpf waten?' fragten ihn die Leute. „Konntest du nicht herumgehen?'

Er erwiderte: „Senja hat gesagt, da? ich die Richtung nicht verlieren darf.'

„Aber da? du schwimmen wolltest! Der Flu? ist dort einen Kilometer breit, stellenweise noch mehr. Wenn du nun ertrunken warst?'

 Sascha runzelte unwillig die Stirn. „Senja hatte gesagt, da? ich die Richtung nicht verlieren darf', wiederholte er ungehalten. „Ich hatte einen Kompa?, und die Nadel zeigte immer geradeaus. Was kann ich dafur, da? ein Kompa? so funktioniert.' 

Mein Freund Stjopka

Es war letzten Sonnabend in der Erdkundestunde, als Stjopka Chokkanen eine Vier bekam. Ich sage: Schuld daran war nur sein loses Mundwerk. Es hei?t, die Finnen sind ein schweigsames Volk. Nun, Stjopka ist Finne, aber mit dem Mund immer voraus. Deswegen sind wir Freunde. Wunderbar, da? er nie um eine Antwort verlegen ist, selbst wenn er sie sich aus den Fingern saugen mu?. Was Stjopka an mir gefallt, ist meine zuruckhaltende Art. Wenn ich schweige oder nur zustimmend murmele, hat er freie Bahn. Dann kann man etwas erleben, denn wie gesagt: Auf den Mund gefallen ist er gerade nicht. Ich werde seit jeher fur meine Bescheidenheit gelobt. Fruher fand ich das schon. Im Laufe der Zeit entwickelte ich mich zu einem so bescheidenen Menschen, da? es mir selbst zuwider ist. Manchmal uberkommt mich die Sehnsucht nach etwas anderem. Dann spinne ich eine Geschichte zurecht, freilich nur fur mich. Nicht selten haben meine Gedanken Format und konnten es mit denen von Chokkanen aufnehmen. Aber in seiner Gegenwart leide ich unter Hemmungen. Daher bleibe ich meistens stumm wie ein Fisch. Was mir an meinem Freund noch gefallt, ist, da? er auf Bestellung fuchsteufelswild wird. Das ist eine ganz besondere Gabe. Wenn wir aus der Schule nach Hause gehen und unterwegs von den Kindern der Touristenstation belastigt werden, lauft er krebsrot an, auf seinem Hals schwillt die Ader. Dann fallt seine Buchertasche in den Schmutz, und mit geballten Fausten geht er auf die Frechdachse los. Die nehmen schleunigst Rei?aus, obwohl es eine Kleinigkeit ware, Stjopka in diesem Zustand k. o. zu schlagen. Wahrend er wie rasend mit den Armen fuchtelt, macht er namlich die Augen zu.

Unsere Freundschaft begann rein zufallig. Wir waren benachbart und lernten uns kennen, das war unvermeidlich. Bald fanden wir Gefallen aneinander. Wir schworen Freundschaft furs Leben, um Freud und Leid in Zukunft redlich miteinander zu teilen. Als Stjopka kurze Zeit danach sieben schmiedeeiserne Haken auftrieb, behielt er drei fur sich, drei schenkte er mir, den letzten warf er in einen Brunnen. Darauf brauchten wir einen ganzen Tag, um den Haken mit Hilfe eines Magneten wieder aus dem Wasser zu fischen, damit er keinem in den Eimer geriet.

Als im Fruhjahr Vaters Bekannter, ein Jager, zu uns kam und bei der Abreise eine halbe Schachtel Patronen liegenlie?, lief ich zu Stjopka. Er stibitzte von seinem Vater eine Flinte. Wir gingen ziemlich tief in den Wald, warfen abwechselnd unsere Mutzen in die Luft und schossen danach. Stjopka erwies sich als der bessere Schutze. Er traf seine Mutze, ich verfehlte mein Ziel. Das war der Grund, weshalb er zu Hause eine Tracht Prugel bezog und ich nicht. Eine Woche lang sprach er kein Wort mit mir.

Ich beneide ihn. Erstens schie?t er besser als ich. Zweitens ist eine Tracht Prugel sehr schnell vergessen, und hinterher tut man den Eltern noch leid. Mich bemitleidet keiner. Wenn meine Eltern mich erziehen wollen, fuhren sie immer Beispiele aus ihrem tugendreichen Leben an. Sie mussen die reinsten Engel gewesen sein. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich ihre ewige Litanei anodet. Wenn sie mir eine Predigt halten, fange ich zu husten an, so raffiniert, da? den Trick niemand merkt. Aber das ist nur Wasser auf ihre Muhle. Gleich fallen sie uber mich her: ,,Du mu?t auch immer ohne Mutze rumlaufen. Da siehst du, wohin das fuhrt. Die Schwindsucht wirst du dir noch holen. Wenn du endlich einsehen wurdest, da? wir nur dein Bestes wollen.'

Meine Meinung hierzu ist: Falls man einem Menschen wirklich gut will, sollte man nicht soviel Aufhebens machen, denn wenn jemand immer wieder dasselbe zu horen kriegt, gewohnt er sich daran, und das ganze Geschrei ist fur die Katz.

Einmal ri? mir die Geduld, und ich platzte heraus: „Erstens nicht die Schwindsucht, sondern hochstens Tuberkulose, und zweitens wird Tbc heutzutage mit Penicillin geheilt. Das ist uberhaupt kein Problem mehr.'

Nun hatte ich mir erst recht den Mund verbrannt und mu?te mir eine Stunde lang anhoren, was fur ein ungehobelter Klotz ich geworden, was eigentlich in mich gefahren sei, fruher ware ich doch die Bescheidenheit in Person gewesen und so weiter. Dieses Gerede uber Bescheidenheit hing mir zum Halse raus. Es war das Schlimmste, was sie mir antun konnten. In meinen Augen ist Bescheidenheit ein viel argeres Ubel als Tuberkulose.

Stjopka ist ein wahres Wunder an Unbescheidenheit. Er tut, was er sich in den Kopf setzt. Kurzlich hat er den Einfall gehabt, sich in Nina Poljanskaja zu verlieben, und es ist ihm gelungen. Die Klasse ist im Bilde, denn seither la?t Stjopka keine Pause verstreichen, ohne das Madchen zu puffen und zu knuffen. Nina aber hat sich ihrerseits in Stjopka verliebt. „Chokkanen', schilt sie ihn aus, „du Esel, la? das sein.' Im Grunde genommen hat sie jedoch gar nichts dagegen. Unsere ganze Klasse beneidet die beiden.

Letzten Sonnabend erwischte Stjopka eine Vier. Er wollte mir einreden, diese schlechte Zensur hatte er wegen der Poljanskaja einstecken mussen. Ich glaube das nicht, sondern bleibe dabei: Schuld hat sein loses Mundwerk.

Gekommen ist es so. Anna Naumowna fragte Stjopka nach der Beschaffenheit der Atmosphare. Er erklarte, da? die Luft unten dicker und oben dunner sei. Die Namen der Luftschichten hatte er vergessen. Anna Naumowna stellte ihm Hilfsfragen. Stjopka wu?te indessen, da? ihm nichts mehr einfallen wurde. Da versuchte er wie gewohnlich zu flunkern und der Lehrerin ein X fur ein U vorzumachen.

Sie fragte nach den Luftschichten, er aber phantasierte: „Jawohl, Anna Naumowna, in der oberen Schicht ist

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