„Komm du lieber', schlagt Sjowka vor, „bei mir geht es schlecht.'
Ich hange den Horer auf den Haken und renne zur nachsten Haltestelle der Stra?enbahn.
Ein Scherz
Als ich die Klasse betrat, sa?en nur wenige Schuler auf ihren Platzen. Die meisten drangten sich um Kostja Radushny, der in einer Ecke stand und etwas erzahlte. Ich wartete an der Tur, und sie zerstreuten sich lachend. Sie zerstreuten sich, das sagt sich leicht her. In Wahrheit war es so: Sie liefen durch die Klasse, versperrten einander den Weg, kletterten uber die Banke und waren redlich darauf bedacht, soviel Larm wie moglich zu machen. In dem schmalen Gang neben den Fenstern organisierten sie ein „Gedrange' wie beim Rugby. Sie schoben und schubsten sich. Nach au?en hin wunschte jeder nichts sehnlicher, als so schnell wie moglich auf seinen Platz zu kommen.
Ich wartete, kannte ja meine Schuler. Die ersten zehn Minuten nach den Ferien gehorten ihnen, da war Narrenfreiheit — nach einem ungeschriebenen Gesetz.
Meine Klasse legte Wert darauf, ihren Kopf durchzusetzen. Warum nicht. Ich hatte mir langst abgewohnt, den unnachgiebigen Prinzipienreiter zu spielen, dem eine Perle aus der Krone fallt, wenn er einmal zehn Minuten verschenkt. Als es soweit war, kamen sie von selbst zur Ruhe.
„Guten Morgen, 6a', gru?te ich. „Guten Morgen, Juri Wassiljewitsch', erwiderte ein Schuler,
„Juri Wassiljewitsch, guten Morgen', ein zweiter, „schonen guten Morgen', ein dritter. Nach langem Durcheinander piepste auf der letzten Bank ein dunnes, aber deutliches Stimmchen: „Juri, guten Morgen, Wassiljewitsch.'
Das war meine Klasse. Kein bi?chen verandert hatte sie sich wahrend der letzten zwei Wochen. Am ersten Tag nach den Ferien narrisch zu gru?en war !hre eigene Erfindung. Sie bildete sich tuchtig was darauf ein.
Ich begann. „Nun, die Ferien sind zu Ende.'
„Die Ferien sind zu Ende', bestatigte Kost ja Radushny mit Grabesstimme.
„Ach ja', jemand auf der ersten Bank seufzte, „zu Ende.'
„Restlos zu Ende', erklang es aus einer Ecke.
„Zu Ende, zu Ende.'
Wahrend sie sprachen, sahen sie mich mit vor Wonne funkelnden Augen an. Keiner versuchte, sich hinter dem Rucken seines Vordermanns zu verstecken. Die Klasse freute sich, da? es nach ihrem Kopf ging. „Schon', sagte ich, „und nun nehmt eure neuen Rechenhefte vor. Wir beginnen heute mit Algebra.'
An den Buchertaschen rasselten die Verschlusse, die Bankdeckel klapperten. Danach wurde es still. Zehn Minuten waren um.
„Bisher hatten wir es stets nur mit Zahlen zu tun. Wenn wir addieren wollten, verfuhren wir folgenderma?en.'
Ich ging an die Tafel und schrieb: 2 + 3 = 5.
„Jetzt stellt euch einmal vor, unsere Additionsaufgabe hie?e nicht 2 + 3, sondern meinetwegen 6 + 8 oder 4 + 5 oder sonstwie, und ich sollte an Stelle der Zahlen eine fur alle diese Aufgaben gultige Formel einsetzen. Wie wurde ich verfahren? Nun, ich konnte zum Beispiel statt der Ziffern Buchstaben verwenden.'
Ich schrieb:
2 ersetzen wir durch a
3 ersetzen wir durch b
Also: 2 + 3 = 5 oder a + b = c.
Die Schuler beugten sich uber ihre Hefte. Nur Kostja nicht. Er galt als gro?ter Witzbold der Klasse und hielt sehr auf seinen Ruf.
Er meldete sich. „Juri Wassiljewitsch, etwas verstehe ich nicht. Wenn Sie schreiben a + b, mu? auf der rechten Seite doch ein anderer Buchstabe auftauchen.'
Ich sah ihn an. „Namlich welcher?' Noch hoffte ich, er wurde den Mund halten und den Erfolg der Stunde nicht gefahrden. Aber wenn es darum geht, die Klasse zum Lachen zu bringen, kennt Kostja kein Erbarmen.
„Ein L', platzte er heraus. Sein Zeigefinger wies auf Anja Melnikowa und Boris Jewremow.
In dem nun einsetzenden Gelachter drohte das letzte Interesse an der algebraischen Wissenschaft unterzugehen. Einer trampelte vor Vergnugen. Anja Melnikowa bekam einen roten Kopf, Boris Jewremow drehte sich zum Fenster um und starrte unverwandt auf das einformige Wei? der zugefrorenen Bucht. Er tat vollig unbeteiligt, aber ich konnte sehen, wie er langsam und unauffallig von Anja abruckte.
Etwas mu?te geschehen. „Radushny', sagte ich, „verla? die Klasse.'
Am nachsten Tag kam seine Mutter. Sie nestelte an dem Rand ihres Tuches und murmelte mit muder Stimme die ublichen Entschuldigungen. Ich stand erst in meinem zweiten Dienstjahr. Es war mir sehr peinlich, von einer immerhin etwas betagten Dame wegen der Verfehlung ihres Sohnes um Verzeihung gebeten zu werden. Als sie wieder ging, war ich heilfroh.
Zwei Tage sa? Radushny wie ein Mauschen. Der Vorfall in der Algebrastunde war bereits vergessen. Am Wochenende rief ich Anja an die Tafel. „Wir haben in unserer ersten Algebrastunde eine Gleichung kennengelernt. Schreib sie an.'
Anja nahm ein Stuck Kreide und begann sehr richtig:
a + b = ...
An dieser Stelle zogerte ihre Hand, eine Sekunde nur, aber das entschied alles.
„L!' flusterte ihr jemand zu.
„Wer war das?'
„Ich.' Radushny fuhr in die Hohe. „Entschuldigen Sie, Juri Wassiljewitsch. Sie haben ja selber gesagt, da? ich mit der Zunge meinen Gedanken voraus bin. Es ist mir nur so herausgerutscht.'
Ich musterte ihn. Er sprach die Wahrheit, es war ihm „nur so herausgerutscht'.
„Vor mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen.'
„Naturlich, Juri Wassiljewitsch', erwiderte Kostja salbungsvoll, „ich verstehe.' Er blickte Anja an und sagte hoflich, allzu hoflich: „Anja, entschuldige bitte. Du auch, Boris. Entschuldigt alle beide.'
Kostja seufzte und machte ein gequaltes Gesicht. Er litt, er triefte vor Reue. In seiner Stimme schwang so viel Zartlichkeit, da? die 6a entzuckt aufheulte.
Anja legte die Kreide in den Kasten und schlich mit gesenktem Blick auf ihren Platz. Sie begnugte sich mit der au?ersten Kante der Bank, als hatte sie Angst, Boris konnte bei?en. Boris wurde rot. Er ballte die Fauste. Ich furchtete, er werde gleich auf Radushny losschlagen.
Unsere 6a, die einhelligste Klasse der Schule, wenn es darum ging, Larm zu machen, hatte noch nicht gelernt, kameradschaftlich zu sein. Sie war vergnugt und lachte. Alles andere hatte keine Bedeutung. Was in Boris Jewremow vorging, merkte keiner. Die Sache mit der Gleichung mu?te auf dem schnellsten Wege aus der Welt geschafft werden, ehe es zu spat war.
„Hort zu, Freunde', sagte ich, als sich das Gelachter etwas gelegt hatte, „wie ihr euch gegenuber Anja und Boris verhaltet, ist ubel.'
Ich hielt eine Rede, eine schwungvolle Rede, und fuhrte aus, da? man auf Gemeinheit mit Gemeinheit antworten kann, auf einen Schlag mit einem Gegenschlag. Was aber soll der tun, uber den sich die anderen lustig machen? Wenn mir jemand in Wort oder Tat zu nahe tritt, werde ich mich wehren. Dem Gelachter ist man