Ich trat ans Fenster und erblickte das wei?e Band der Niwa, die mit Rauhreif bedeckten Drahte der Hochspannungsleitung, auf dem Ufer verschneite Barkassen — das gewohnte Bild. Neu war nur die Gleichung, die auf der Felswand prangte. Gegen den dunklen Untergrund hoben sich die riesigen, fast mannshohen wei?en Buchstaben deutlich ab. A + B = L
Ich drehte mich um. Es wurde mauschenstill im Raum. Am Ausdruck meines Gesichts sahen die Schuler, da? ich nicht geneigt war, ihre Begeisterung zu teilen.
„Von uns war das keiner', brummte jemand.
Da gerieten alle in Bewegung. Sie larmten und schrien, die einen, weil sie sich beleidigt fuhlten, andere vor Emporung, die dritten aus blo?er Freude am Toben.
„Nein, wir waren das nicht.'
„Wir nicht, Juri Wassiljewitsch.'
„Wir wissen auch nicht, wer es war.' „Was konnen wir dafur?'
Ich sah Radushny an. Er grolte gleichfalls. Als sich unsere Blicke trafen, verstummte er, schurzte die Lippen und senkte die Stirn.
Er, dachte ich.
Nach dem Unterricht hielt ich ihn zuruck. Ich war meiner Sache so sicher, da? ich sehr grob mit ihm umsprang. Schmollend, mit gerotetem Kopf stand er vor mir und leugnete alles — da? er die Tafel besudelt hatte, da? er fur die Inschrift auf der Felswand verantwortlich sei. Er besa?e uberhaupt keine Farbe. Bitte schon, ich konnte ihn ja durchsuchen lassen.
„Wer war es dann?' fragte ich.
„Das wei? ich nicht', erwiderte Kostja argerlich, „und wenn ich es wu?te, wurde ich es nicht sagen. Er soll sich selber melden.'
Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.
Eine verzwickte Geschichte. Die Schuler wu?ten anscheinend tatsachlich nichts. Ich war nach wie vor uberzeugt, da? Radushny dahintersteckte. Aber wie sollte ich ihn uberfuhren? Au?erdem bin ich Lehrer und kein Detektiv.
Da war guter Rat teuer. Anja und Boris getrauten sich nicht mehr, miteinander zu sprechen. Die Klasse merkte das sehr schnell, auch mir blieb es nicht verborgen.
Bald trug die Felswand eine neue Inschrift.
A + B = ?
Von der stillen Hoffnung getrieben, wenigstens einen Anhaltspunkt zu finden, machte ich mich eines Abends zum „Fraulein' auf.
Auf der Niwa lag hoher Schnee. Er quoll in die Stiefel. Im Halbdammer reckte sich der machtige Felsen. Von der Seite gelangt man bequem bis zur halben Hohe und kann dann einen schmalen Sims benutzen, der sich waagerecht uber die Wand zieht.
Vorsichtig tat ich den ersten Schritt, die Brust gegen den Stein gepre?t, und suchte mit den Handen Halt. Im Rucken spurte ich die gahnende Leere des Abgrunds.
Der Fels war kalt. Die nackten Finger wurden klamm, aber ich tastete mich weiter. Als der dritte Schritt getan war, stand ich vor dem A. Ich lie? eine Hand sinken und kratzte an der trockenen Farbe. Mein Korper geriet ins Schwanken. Die Wand wich zuruck, Zentimeter nur, aber ich hatte Muhe, das Gleichgewicht wiederzufinden.
Diese wenigen Sekunden waren die schrecklichsten in meinem bisherigen Leben. Als ich den seitlichen Hang wieder erreicht hatte und mit dem Abstieg begann, zitterten mir die Knie, und das Hemd klebte am Rucken. Ich schwitzte trotz der funfundzwanzig Grad Kalte, die an jenem Abend gemessen wurden.
Erst daheim kam mir vollig zu Bewu?tsein, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte. Und der Schopfer dieser Inschrift hatte auch noch Farbtopf und Pinsel halten mussen. Es konnte kein Feigling sein. Radushny! Mein Verdacht schien eine neue Bestatigung gefunden zu haben. Radushny, der weder sich noch andere schonte, wenn er eine Gelegenheit sah, Lorbeeren zu ernten.
Wenige Tage danach traf ich Anja und Boris vor dem Kino. Ich ging auf die beiden zu, um ihnen zu sagen, da? sie den dummen und bosartigen Scherz nicht weiter beachten sollten. Boris hatte mich gesehen. Er wandte sich schroff ab und lief fort.
„Boris', rief Anja, ,,ich habe doch die Karten!'
Boris blieb stehen. Im grunen Licht der Reklame war sein Gesicht bleich und bose.
Er sah ins Leere. „Deine Karten kannst du zerrei?en', heulte er, rannte weiter und war bald um die Ecke verschwunden. Ich betrachtete Anja, die kaum noch die Tranen zuruckhalten konnte. Doch ist es mir nicht gegeben, einen Menschen zu trosten. Wieder stellte ich mich ahnungslos.
Anja und Boris waren ein Herz und eine Seele gewesen, seit der ersten Klasse befreundet. Etwas mu?te geschehen, um dem unbekannten „Kunstler' das Handwerk zu legen.
Ich wandte mich an Bokow. „Kolja, du wei?t offenbar, wer den Unsinn damals an die Tafel geschrieben hat, sicher derselbe Schmierfink, der auch der Urheber dieser Inschrift ist. Wir werden jetzt beide zu diesem Schuler gehen und mit ihm reden. Das ist besser fur ihn. Uber kurz oder lang wird er sich doch verraten.'
Bokow wurde verlegen. Ich verstand das. Nie in meinem Lehrerdasein hatte ich einem Schuler je solche verfangliche Fragen gestellt. Trotzdem beschlo? ich, hart zu bleiben.
„Nun?'
„Juri Wassiljewitsch, ich wei? es nicht.'
„Und das soll ich dir glauben? Du mu?t doch einsehen, da? es einfach gemein ist, sich gegenuber seinen Kameraden so aufzufuhren. Es sind eure Freunde.'
Bokow trat von einem Bein aufs andere. Er zupfte an seinem Hemd und vermied es, mich anzusehen.
Das Gesprach ging ihm offenbar sehr nahe. Schlie?lich bequemte er sich zu folgender Aussage: „Das wei? in der ganzen Klasse keiner. Alle fragen rum, niemand wei? was.'
„Und wer hat das an die Tafel geschrieben?'
„An welche Tafel?'
„Auf den Tafelrand, nach den Ferien.'
„Wissen Sie das wirklich nicht?'
„Nein.'
Bokow schluckte. Uber der Nasenwurzel krochen seine Brauen zusammen. Er dachte angestrengt nach. Es war eine Qual, ihn zu sehen. Ich ging ans Fenster, um es ihm leichter zu machen, mit sich ins reine zu kommen.
„Warum fragen Sie immer mich?' meinte Bokow vorsichtig.
„Das habe ich dir schon erklart. Weil ich den Eindruck habe, da? du Bescheid wei?t.'
„Nein', sagte er nach einer Pause, „ich wei? es auch nicht.'
„Dann geh jetzt. Vergi? unser Gesprach. Verstehst du?'
„Naturlich', rief er erleichtert aus, „naturlich, auf Wiedersehen, Juri Wassiljewitsch.' Nach wie vor stand das wei?e Fragezeichen an der Felswand. Allmahlich wurde die Farbe blasser. Im April war es kaum noch zu erkennen. Am Ersten Mai zogen die Schulklassen durch die Hauptstra?e ans Meer, um dort ein Feuer zu machen. Sie marschierten in Achterreihen, frohlich, larmend, hielten sich bei den Handen. Anja und Boris gingen nebeneinander, sangen Lieder wie alle anderen und warfen feuchte Schneeklumpchen in die vorderen Reihen.