Betten: Sie schliefen, liebten sich, rechneten im Geist den Tagesgewinn nach, weinten, knirschten mit den Zahnen vor Bosheit oder Niedergeschlagenheit … Zwanzigtausend Menschen! Fur einen Beobachter von der Erde hatten sie alle etwas gemeinsam. Wahrscheinlich war es das, da? sie alle fast ohne Ausnahme noch keine Menschen im heutigen Sinn des Wortes waren, sondern Vorstufen, rohe Eisenblocke, aus denen erst die blutigen Jahrhunderte der Geschichte irgendwann einmal den stolzen und freien Menschen schmieden. Sie waren passiv, habsuchtig und unwahrscheinlich egoistisch. In psychologischer Hinsicht waren siefast alle Sklaven – Sklaven des Glaubens, Sklaven ihrer selbst, Sklaven durch machtige Leidenschaften und versklavt durch die Habsucht. Und wenn einer von ihnen durch Zufall zum Herrn geboren wurde oder es im Laufe der Zeit durch Flei? dazu brachte, so wu?te er nicht, was er mit seiner Freiheit anfangen sollte. Er beeilte sich aufs neue, ein Sklave zu werden – ein Sklave des Reichtums, ein Sklave von widernaturlichem Luxus, ein Sklave ausschweifender Freunde und ein Sklave seiner Sklaven. Die gro?e Mehrzahl von ihnen war uberhaupt nicht selber schuld. Sie waren viel zu passiv und viel zu unwissend. Ihre Versklavung grundete sich auf ihre Passivitat und Ignoranz. Die Passivitat und Ignoranz aber fuhrte immer wieder zu ihrer Versklavung. Wenn sie aber wirklich alle aus dem gleichen Holz waren, wurden sie alle die Hande hangen lassen, und es ware nicht die leiseste Hoffnung fur sie. Sie waren aber trotzdem Menschen und Trager von Verstandesfunken. Und so leuchtete auch standig, einmal hier, einmal dort, etwas starker das Feuer einer sehr, sehr fernen, aber unausbleiblichen Zukunft auf. Es leuchtete auf, trotz allem. Trotz ihrer scheinbaren Untauglichkeit. Trotz der standigen Unterdruckung. Obwohl sie mit Fu?en getreten wurden. Obwohl sie niemand auf der Welt brauchte und alle auf der Welt gegen sie waren. Obwohl sie im allerbesten Fall auf ein unverstandiges, herablassendes Mitleid rechnen konnten …
Sie wu?ten nicht, da? die Zukunft vor ihnen lag, da? die Zukunft ohne sie unmoglich war. Sie wu?ten nicht, da? sie in dieser Welt, die von den schrecklichen Gespenstern der Vergangenheit beherrscht ist, als einzige reale Hoffnung auf die Zukunft erscheinen, da? sie ein Ferment sind, ein Vitamin im Organismus der Gesellschaft. Vernichtet diese Vitamine, und die Gesellschaft beginnt zu faulen, sozialer Verfall tritt ein, es erschlaffen die Muskeln, das Augenlicht wird trub, und die Zahne fallen aus. Kein Staat kann sich ohne die Hilfe der Wissenschaften entwickeln. – Er wird von den Nachbarn ausgeloscht. Ohne Kunst und Kultur verliert der Staat die Fahigkeit zur Selbstkritik, gibt den falschen Stromungen Auftrieb, gebiert jeden Augenblick neue Heuchler und Halunken, entfaltet in den Burgern Konsumsucht und Uberheblichkeit und fallt schlie?lich wiederum einem kuhneren Nachbarn zum Opfer. Man kann die Bucherwurmer verfolgen soviel man will, die Tatigkeit der Wissenschaftler unterbinden und die Kunst vernichten: Fruher oder spater wird die Obrigkeit straucheln und zahneknirschend den Menschen alle jene Wege eroffnen, die den machthungrigen Holzkopfen und Ignoranten so verha?t sind. Und wie sehr auch immer diese Grauen Machtigen Bildung und Wissen verachten mogen, sie sind doch letztlich ohnmachtig gegen die objektive historische Notwendigkeit – sie konnen den Lauf der Dinge nur verzogern, nicht aber vollig zum Stillstand bringen. Und wenn sie die Bildung auch furchten und verachten, so gelangen sie trotzdem unausweichlich dazu, sie zu fordern, einfach um sich selbst zu erhalten. Fruher oder spater mussen sie die Grundung von Universitaten und wissenschaftlichen Gesellschaften genehmigen, wissenschaftliche Forschungszentren einrichten, Observatorien und Laboratorien, mussen Kader von Fachleuten schaffen, die sich bereits ihrer Kontrolle entziehen – Menschen mit einer vollig andersgearteten Psyche, mit vollig anderen Anspruchen. Diese Menschen aber konnen nicht existieren – und noch viel weniger ordentlich funktionieren – in der fruheren Atmosphare gemeiner Habsucht, fur Dampfnudelinteressen, in stumpfer Selbstgenugsamkeit und fur ausschlie?lich fleischliche Bedurfnisse. Sie brauchen eine neue Atmosphare – eine Atmosphare allgemeiner und allumfassender Erkenntnis, durchdrungen von kunstlerischer Spannung, sie brauchen Schriftsteller, Maler und Komponisten, und die Grauen Machtigen hier wurden sich auch noch zu diesem Zugestandnis gezwungen sehen. Diejenigen, die sich strauben, werden vom schlaueren Konkurrenten im Kampf um die Macht hinweggefegt; diejenigen aber, die derartige Zugestandnisse machen, schaufeln sich damit – unausweichlich und paradoxerweise – gegen ihren Willen ihr eigenes Grab. Denn todlich fur ignorante Egoisten und Fanatiker ist das Erwachen der Kultur eines Volkes auf allen Gebieten – von den naturwissenschaftlichen Forschungen bis zur Fahigkeit, sich an guter Musik zu erfreuen … Dann aber folgt die Epoche gigantischer gesellschaftlicher Erschutterungen, die von einem vorher nie dagewesenen Aufschwung der Wissenschaft begleitet wird. Und in Verbindung mit dieser Intellektualisierung der Gesellschaft auf breitester Ebene folgt eine Epoche, in der die Grauheit ihre letzten Kampfe liefert, die, an ihrer Grausamkeit gemessen, die Menschheit ins Mittelalter zuruckfuhren. In diesen Kampfen wird die Grauheit zu Fall kommen und in einer Gesellschaft, die vollig frei ist von Klassenunterdruckungen, ganz verschwinden … Rumatas Blick ruhte noch immer auf der im Dunklen erstarrten Stadt. Irgendwo dort in einer stickigen Kammer krummte sich auf seiner armlichen Bettstatt Vater Tarra und lag in Fieberkrampfen, Bruder Nanin aber sa? neben ihm an einem krummbeinigen Tischchen – betrunken, bei guter Laune und boshaft – und vollendete seinen
