auch nicht. Vom Standpunkt des Gesetzes — eines beliebigen Gesetzes — sind wir nichts weiter als eine Bande von Verbrechern, schuldig an Morden,Anschlagen,demVersucheiner Raumschiffentfuhrung, Dokumentenfalschung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und was sonst nicht alles. Nach den Regeln des Kriegsrechts steht uns nicht einmal ein Verfahren zu.«
»Ich hoffe, dass sie die Madchen in Ruhe lassen«, murmelte Semetzki.
»Juri Michailowitsch, wie sind Sie hierhergekommen?«, erkundigte ich mich. »Wo sind Ihre ›Schrecklichen‹?«
»Wir wurden gestern Nacht im Schlaf uberfallen. Das ganze Lager wurde mit Paralysatoren abgedeckt. Opfer gab es nicht.« Semetzki lachelte traurig. »Ich hoffe, dass es keine gab. Und vor drei Stunden, kurz bevor du hierhergebracht wurdest, uberstellte man mich in diese Zelle.«
»Wir standen seit langem unter Beobachtung«, sagte Lion. »Bestimmt, seit wir im Motel aufgetaucht sind.«
»Dieses Madchen von der Rezeption ist auch ein Klon«, erganzte ich. »Aber es sieht ganz so aus, als hatte sie ihr eigenes Bewusstsein behalten…«
»Sie ist nicht nur ein Klon. Sie ist der Klon eines Klons«, warf Stasj ein. »Ich wei? nicht, was fur eine psychische Abweichung das ist, aber die Kopien der Schnee gefallen sich darin, sich auf diese Art und Weise zu vermehren.«
Lion bekam vor Staunen runde Augen.
»So besiedeln sie ja alle Planeten! Verdrangen die normalen Menschen!«
»Das glaube ich nicht.« Stasj schuttelte den Kopf. »Die Machtstrukturen werden von ihnen ausgefullt, das ist schon moglich. Aber Sanitartechniker und Arbeiter verdrangen… warum? Wer will schon Hausmeister sein?«
Er lachelte und machte uberhaupt einen ruhigen Eindruck, dass alle seine Andeutungen uber die Hinrichtung und die Gesetze der Kriegsgerichtsbarkeit ein Scherz zu sein schienen. Eine Sekunde lang glaubte ich, dass mich Stasj nur erschreckte, mich zwang, ihn zu bemitleiden.
Dann jedoch erinnerte ich mich an meine Eltern. Wie frohlich und zu Scherzen aufgelegt sie an ihrem letzten Abend waren.
»Sie streben nach Macht und nichts als Macht«, fuhr Stasj fort. »Alle Klone von Eduard Garlitzki, die Manner wie die Frauen. Macht ist die starkste Droge.«
»Du hast mich schon wieder belogen«, rief ich. »Du wusstest sogar von Garlitzki! Du hast mich belogen, Stasj!«
Und ohne richtig zu verstehen, was ich da tat, stand ich auf, ging zu Stasj… und umarmte ihn.
»Warum umarmst du mich dann, Tikkirej?«, fragte er zartlich.
»Weil du dich nicht aus Versehen versprechen wurdest«, erwiderte ich und hielt meine Tranen zuruck. »Weil… weil alle lugen…«
»Aber nur wenige bedauern ihre Lugen«, meinte Stasj leise. Sein Hand klopfte mir auf die Schulter. »Meine Offenheit hat Grenzen, Tikkirej. Ich darf dem Befehl des Rates nicht zuwiderhandeln, nicht mein gegebenes Wort brechen. Erinnerst du dich, wie der Agent des Inej, Leutnant Karl, starb?«
»Er hie? Karl?«, fragte ich. Meine Augen blieben geschlossen.
»Ja. Ich erinnere mich an die Namen aller, die ich getotet habe… Tikkirej, ich konnte dir nicht eroffnen, dass du ein Klon unseres Gegners bist. Ich hatte es nicht einmal geschafft, es auszusprechen, Tikki.«
»Und jetzt kannst du?«, erkundigte ich mich.
»Jetzt ja.«
»Hat sich etwas verandert? Hangt es mit den Waffenstillstandsverhandlungen zusammen?«
»Ja«, erwiderte Stasj.
Nun jedoch war mir klar, dass er log. Das hatte uberhaupt nichts mit den Verhandlungen zu tun! Es war etwas anderes. Aber Stasj belog gar nicht mich, sondern diejenigen, die uns beobachteten, die jede Abweichung der Stimme, das Zittern eines jeden Muskels, jede aus dem Auge quellende Trane und jeden auf der Stirn erscheinenden Schwei?tropfen analysierten. Er log — und wollte, dass ich es wusste. Nur ich.
Weil noch nicht alles verloren war!
Weil Stasj auch diese Gefangniszelle, meine Tranen und das unbarmherzigeStarrenderUberwachungskameras vorhergesehen hat.
Die Phagen benutzen nie einen endgultigen und favorisierten Plan. Alle ihre Plane ahneln einer Puppe in der Puppe, sind ineinander versteckt, nur dass man selten bis zum Letzten vordringt.
»Stasj, wenn nun das Imperium siegen wurde, was wurde mit den Klonen geschehen?«, wollte ich wissen.
»Mit denen, die nicht am Putsch beteiligt waren — nichts. Diejenigen, die damit einverstanden waren, das Bewusstsein der Matrize zu ubernehmen, wurden unter strenge Bewachung gestellt und das Recht auf Fortpflanzung verlieren.«
»Und mit solchen wie mir?«
»Nichts. Wir wurden sicherlich ein Auge darauf halten. Aber ohne Beschneidung der Rechte.«
»Ich mochte gar keine Macht«, au?erte ich. »Ich mochte lediglich, dass es keinen Krieg gibt. Dass du nicht hingerichtet wirst. Dass Lion, Natascha und alle Madchen freigelassen werden. Dass Semetzki nicht stirbt!«
Semetzki lachte leise. »Das wohl kaum… Wei?t du, wie alt ich bin, mein Junge? So oder so ist es an der Zeit.«
Daruber wollte ich keinen Streit mit ihm.
»Wenn ich die Matrize fragen wurde — konnte sie euch freilassen? Wenn ich einverstanden ware, auf Neu-Kuweit zu bleiben?«
Stasj uberlegte. Nein, eher nicht. Er uberlegte nicht. Er spielte auf Zeit, jetzt verstand ich.
»Versuch es doch!«, riet er.
»Stasj, niemand wird uns laufen lassen!«, rief Alex aus. »Stasj, wie kannst du nur auf so etwas hoffen?«
Der junge Phag hatte nicht verstanden! Nicht einmal er spurte die Intonationen, die ich den Worten von Stasj entnahm. Vielleicht weil Stasj jetzt nur fur mich sprach?
Ich richtete mich auf, nickte Lion zu — der schaute mich perplex an — und schrie in den Raum: »He, ihr! Ich mochte mit meiner Matrize sprechen! Ich mochte mit Adelaide Schnee sprechen! Hort ihr? Ubermittelt ihr schleunigst, dass Tikkirej um ein Treffen bittet!«
Nichts passierte. Und niemand antwortete mir. Aber es verging nicht einmal eine Minute und die Tur der Zelle bewegte sich mit einem leisen Zischen zur Wand. Auf der Schwelle standen zwei Warter mit Kraftfeldpanzerung. Im Korridor warteten weitere.
»Heraus! Alle!«, kommandierte einer der Wachter. Die Stimme, die durch das Kraftfeld der Panzerung drang, war hart und kalt wie bei einem Trickfilmroboter.
»Und wie befehlen Sie meine Fortbewegung?«, fragte Semetzki streitsuchtig. »Gebt den Rollstuhl zuruck! Oder wollt ihr mich auf Handen tragen?«
Der Warter neigte den Kopf, als ob er einer leisen Stimme zuhorte. Er nickte. »Den Rollstuhl bekommen Sie umgehend zuruck.«
»Habt ihr alles uberpruft, keine Bomben gefunden?«, erkundigte sich Semetzki giftig. »Ihr habt ihn doch nicht etwa in seine Einzelteile zerlegt?«
»Das haben wir«, bestatigte der Warter.
»Schreibt mir eine Rechnung, ich werde euch fur die Wartung dieses antiken Stuckes entlohnen«, versprach Semetzki gallig.
Kapitel 6
Als wir durch die Korridore gefuhrt wurden, war ich mir sicher, dass wir uns noch im Kosmodrom befanden. Ein Teil des Weges fuhrte durch eine hermetisch abgeschlossene Rohrgalerie, die sich unter dem Dach der Wartehalle entlangzog. Zwanzig Meter tiefer zeigte sich das Leben voller Larm und Menschen, vollkommen alltaglich. Passagiere mit Koffern, mit Gepackwagen und Taschen. Aufgeregte, lautlos gahnende Kinder wirbelten