Das Auto erreichte die Stra?e, aber zu meiner Uberraschung fuhr Stasj nicht zum Kosmodrom, sondern Richtung Stadt.
»Warum fahren wir dorthin?«, fragte ich erschrocken. Ich wollte nur weg, meinetwegen zuruck zum Karijer, aber weit weg von Neu-Kuweit.
»Ich mochte einen Blick auf den Sultanspalast werfen. Gestern wurde auf meinen Rat hin die Schutzfeldkuppel eingeschalten. Vielleicht konnte sich die Regierung retten. Dann besteht eine Chance, die Flotte zu Hilfe zu rufen.«
»Sie kennen den Sultan personlich?«, fragte ich verwundert.
»Ja.«
»Kapitan Stasj, hei?t das, Sie hatten einfach darum bitten konnen, dass man mir die hiesige Staatsburgerschaft gibt?«
»Ich beschaftige mich nicht mit der Klarung unwichtiger Probleme kleiner Jungs«, erwiderte Stasj mude. »Wenn du glaubst, dass ich wahrend meiner Unterredung mit dem Sultan an deine Existenz gedacht hatte, dann machst du dir etwas vor.«
Ich schwieg, umarmte Lion und hielt ihn fest. Die Stra?e war hervorragend und Stasj ein guter Fahrer, aber er fuhr mit so hoher Geschwindigkeit, dass wir trotzdem von einer Ecke in die andere geschleudert wurden.
»Es gibt da ein Buch, ›Don Quichotte‹«, meinte Stasj plotzlich. »Dessen Held hielt es fur notig, alle Ungerechtigkeiten, die er auf seinem Weg antraf, zu beseitigen. So schlagt zum Beispiel ein boser Meister den kleinen Jungen, der bei ihm in Dienst stand. Also muss Don Quichotte diesen Herrn bestrafen und danach fahrt er weiter. An das, was passieren wird, wenn der Meister wieder mit dem Kind allein ist, daran dachte der naive Ritter nicht. Ist die Analogie verstandlich?«
»Ist der Sultan etwa so bosartig?«
»Nein, aber seine Geheimdienste sind argwohnisch. Da sie mein Vorsto? uberraschte und verwunderte, bedachten sie mich mit einer so gro?en Aufmerksamkeit, dass auch du irgendwann vor Verzweiflung die Wande hochgegangen warst! Und zweitens, ich beschaftige mich nicht…«
»… mit der Klarung unwichtiger Probleme«, beendete ich. »Danke, Kapitan Stasj.«
Wir fuhren in die Stadt. Wohngebiete mit niedrigen, vielleicht zehn- bis zwolfgeschossigen Hausern zogen sich dahin. Scheinbar war hier alles beim Alten — die Stra?enlaternen und Reklametafeln leuchteten, fast alle Fenster waren hell erleuchtet.
Laut rief ich: »Sehen Sie nur, Stasj, hier ist alles in Ordnung!«
Und wirklich, fast in jedem Fenster waren Menschen zu sehen. Sie waren festlich gekleidet, tanzten oder tafelten, unterhielten sich am Kaminfeuer. Sie schmuckten Weihnachtsbaume oder bauten Raketenmodelle zum Tag der Raumfahrt…
Ich schuttelte den Kopf und verstand die Welt nicht mehr.
»Du bist auf einem au?erst zuruckgebliebenen Planeten aufgewachsen, Tikkirej«, sagte Stasj sanft. »Das sind Projektionsfenster, sie kamen vor ungefahr zehn Jahren in Mode. Auf Neu-Kuweit ist fast jedes Haus damit bestuckt. Verstehst du, du zeichnest auf dein Fenster irgendeinen schonen und bedeutenden Feiertag auf, eine Hochzeit, Silvester, Geburtstag, und dann ubertragt dein Fenster abends diese Bilder. Jeder ist bestrebt, seiner Umgebung zu zeigen, wie gut er feiern kann, wie schon und gemutlich es bei ihm ist. Wem es an eigener Phantasie oder an eigenem Konnen mangelt, um eine behagliche Atmosphare zu schaffen, der bestellt die Bilder bei einem Designer.«
»Aha«, meinte ich, »davon habe ich gelesen. Ich habe es schon kapiert. Auf den Stra?en sind weder Menschen noch Autos. Uberhaupt keine. Es konnen ja nicht alle schlafen, stimmt’s?«
Ein Fenster zeigte gerade eine Hochzeit. Eine junge Braut, vielleicht siebzehn Jahre alt, kusste einen ebenso jungen Brautigam. Das ist eigenartig, denn in Wirklichkeit sind sie schon vollig erwachsene Leute, sie konnten Kinder haben, die alter sind als ich, aber ihre Hochzeit geht weiter. Es wird Hochzeit gefeiert… und sie liegen im Bett und sabbern.
»Gefallt dir diese Mode?«, wollte Stasj wissen.
»Nein«, flusterte ich.
»Mir auch nicht. Ich mag nicht einmal das gewohnliche Video, Tikkirej. Auch keine Fotos. Die Erinnerung ist das, was in dir ist.«
Das Auto bog auf eine breite Allee ein und nach weiteren funf Minuten erreichten wir den Sultanspalast. Er war sehr schon und sehr gro?, bestimmt hat nur der Imperator auf der Erde einen gro?eren Palast.
Stasj stohnte leise. Lange und deftig fluchte er in einer unbekannten Sprache — ich verstand nicht ein einziges Wort, aber es gab keinen Zweifel daran, dass er fluchte.
»Uber allen diesen Turmchen und Kuppeln, Tikkirej«, sprach Stasj, »sollte jetzt ein Kraftfeld blinken. Das ist auch schon, auf seine Art. Und ein absoluter Schutz. Ich habe die Aufklarung von Inej unterschatzt.«
Das Auto wendete auf der Mitte der leeren Allee und jagte zuruck.
»Und wenn im Kosmodrom auch alle schlafen?«, fragte ich leise.
»Na, und?«
»Kann man etwa ohne Erlaubnis des Towers losfliegen?«
Stasj lachte unlustig auf. Dann sagte er:
»Die Bedeutung der Worte ›kann‹ und ›kann nicht‹ andert sich in einer kritischen Situation in ihr Gegenteil.«
»Kapitan Stasj, aber warum ist mit uns nichts passiert?«, wagte ich eine Frage zu stellen, die mich bereits seit einer halben Stunde qualte.
»Das wei? ich nicht, Tikkirej. Ich habe einige besondere Fahigkeiten. Du aber bist ein ganz gewohnlicher Junge. Dabei konnte sich der Agent des Inej fur dich nicht unsichtbar machen und die Waffe, mit der sie die Planeten erobern, hat bei dir nicht gewirkt.«
Ich kam mir vor, als hatte man mich mit eiskaltem Wasser ubergossen.
Ich druckte fest die schlaffe, leblose Hand Lions.
Und ich dachte… hatte eigentlich fast gedacht, dass Kapitan Stasj auch mein Freund ware.
In Wirklichkeit erfullt er lediglich eine Aufgabe. Er konnte die Agenten des Inej nicht aufhalten, bringt dafur aber zwei Jungs mit. Einen in der »Phase der Wiedergeburt«, beim anderen blieb die Geheimwaffe des Feindes wirkungslos.
»Wie geht es deinem Freund?«, erkundigte sich Stasj.
»Ganz gut«, erwiderte ich, »er schlaft.«
»Ich werde jetzt die Geschwindigkeit erhohen«, teilte mir Stasj mit, als ob wir noch nicht mit annahernd Tempo 200 dahinjagten, »also halt ihn gut fest, okay?«
Ich antwortete nicht einmal. Aber Lion umarmte ich fester. Die Hauser blitzten auf und entfernten sich, in den erhellten Fenstern wurde getanzt, es a?en und unterhielten sich dieselben Menschen, die bald hilflose Marionetten sein wurden.
Sie wurden sicherlich nicht einmal verstehen, was uberhaupt passiert war.
Kapitel 6
Das Kosmodrom war genauso gespenstisch leer wie die Stadt. Hier stie?en wir allerdings standig auf schlafende Menschen: an der Taxihaltestelle, an den Ein- und Ausgangen und in den Securitywachstuben aus mattem, verdunkeltem Glas.
»Sie sind nicht sofort eingeschlafen«, stellte Stasj fest, nachdem er sich umgeschaut hatte. »Siehst du, nirgends sind gerammte oder beschadigte Autos zu sehen und niemand hat sich beim Hinfallen verletzt. Als ob alle schlafen wollten… und sich eiligst auf den ersten besten Platz gelegt hatten.«
Er hatte Recht. Mir fielen einige Leute auf, die auf dem Fu?gangerweg lagen und ihre Diplomatenkoffer, Taschen oder Aktenkoffer unter den Kopf gelegt hatten. Ein betagter Mann hatte sogar seinen Mantel auf dem Rasen ausgebreitet und aus dem offenen Koffer seine Nachtmutze herausgeholt — ohne sie noch aufsetzen zu konnen. Uber ihn hatte man lachen konnen, wenn das Ganze eine Fernsehkomodie gewesen ware.
Ich eilte Stasj hinterher und sah mich aber um, um mir so viel wie moglich einpragen zu konnte. Warum