unserem Feind fast nichts wusste.

»Ein ganz gewohnlicher Planet.«

Stasj zuckte mit den Schultern. »Ein mittlerer, schwacher als Avalon oder Edem, ungefahr wie Neu-Kuweit. Das Klima ist allerdings schlechter. Aber immer noch im Rahmen der Norm. Inej produziert, Raumschiffe, schurft nach irgendetwas. Sie haben ubrigens auch eine entwickelte Vergnugungsindustrie, stellen virtuelle Fernsehserien her, Seifenopern… die musstest du doch gesehen haben, zum Beispiel ›Auf den Wegen der Gespenster‹.«

»Habe ich nicht gesehen«, bekannte ich, »bei uns wurden wenige Vergnugungsprogramme gekauft. Ist das eine interessante Serie?«

»Ich habe sie doch auch nicht gesehen«, beruhigte mich Stasj, »ich habe eine Arbeit, Tikkirej, nach der mir nicht nach Soaps zumute ist…«

Er verstummte. Richtete seinen Blick auf mich und ich sah zum ersten Mal einen fassungslosen Phagen. Dann sagte ich schnell, um Erster zu sein:

»Die Serien. Sie laufen doch uber den Shunt! Du schlie?t dich an und sitzt da Stunde fur Stunde, jeden Tag. Da werden eine Menge Daten ubertragen.«

»Tikki…«, Stasj schlug mit der Faust auf seine Oberschenkel, »wir haben es herausbekommen! Der Radioshunt ist nur die Startrampe.DasSignalfurdenBeginnder Programmanwendung. Sie schmuggeln das Programm fruhzeitig Monate oder Jahre vor der Eroberung des Planeten ein. Dann gibt es einen einzigen starken Impuls — und das Programm startet.«

Ich wendete mich um, schaute auf Lion und fragte: »Wird man ihm jetzt helfen konnen?«

»Das wei? ich noch nicht. Aber wieso sind wir nicht fruher…« Stasj lachte auf einmal bitter auf. »Die Menschheit hat sich seit Jahrhunderten einer Gehirnwasche unterzogen: als es noch keine Shunts gab, mit Hilfe des gewohnlichen Fernsehens, uber Radio oder durch gedruckte Bucher. Seit Jahrtausenden wurde versucht, die Menschen zu zwingen, etwas zu tun, was sie uberhaupt nicht brauchten! Und Inej hat lediglich den nachsten Schritt gemacht.«

Jetzt musste ich eigentlich der glucklichste Mensch auf der Welt sein.

Wenn ich nicht an Lion, den narkotisierten Planeten und daran gedacht hatte, dass das alles sicherlich erst der Anfang war.

»Dank dir, Tikki«, sagte Stasj. »Vielleicht hast du uns einen Tag, vielleicht eine Woche gespart. Vielleicht auch nur einige Stunden. Aber damit hast du einen Planeten gerettet. Werde jetzt nur nicht uberheblich!«

»Warum?«, erwiderte ich frech. »Ich… wir gemeinsam haben ja wirklich herausgefunden…«

»Tikki, niemals wird jemand davon erfahren. So wie niemand je die Grunde fur die Verstandigung mit der Rasse der Tzygu erfahren hat. Oder auf welche Art und Weise der katholische Djihad auf der Erde beendet wurde.«

»Das haben Sie gemacht?« Ich verlor die Fassung. Stasj sprach uber Ereignisse, die jedem schon in der ersten Klasse bekannt waren. »Und wie war das mit Admiral Charitonow, der die Mutter der Tzygu aus dem Raumschiff der Halflinge rettete und deren symbolischer Ehemann wurde? Und der Imam Johann, der sich auf dem Platz verbrannte, als die Aufstandischen… Kapitan Stasj!«

»Tikkirej, in deinem Korper sind Millionen winziger Phagozytenzellen. Wei?t du etwa, welche davon dich vor einer Geschwulst oder einer Infektion gerettet hat?«

»Ihr seid doch aber keine Millionen!«

»Naturlich weniger. Wir sind weniger als Tausend, und das ist ubrigens fast ein Geheimnis. Aber wir sind Phagen, die auf der Suche nach Gefahren still durch den Weltraum streifen. Das ist zugleich Stolz und Unzulanglichkeit: ein unbemerkter Held zu sein und als Anlass fur Witze und Heiterkeit zu dienen. Vielleicht wird uns das irgendwann vernichten. Aber unsere Feinde lachen nicht uber uns, Tikki. Niemals. Und jetzt — frag.«

Ich richtete meine Augen auf ihn und zogerte. Es ist wirklich dumm, eine Frage zu stellen, wenn sie schon bekannt ist.

»Kapitan Stasj, kann ich ein Phag werden?«

»So gut wie sicher — nein. Es tut mir sehr leid, Tikkirej, aber die Vorbereitung eines Phagen beginnt noch vor seiner Zeugung. Du wirst dich nie mit dieser Geschwindigkeit bewegen konnen, die im Kampf notwendig ist. Deine Sinnesorgane sind zu schwach. Du bist schon zu alt. Du bist schon geboren.«

Unwillkurlich begann ich zu lachen. Aber Stasj meinte es ernst.

»Es reicht nicht aus, ein ehrlicher, kluger und gesunder Mensch zu sein. Du hast einen starken Willen, bist hartnackig und verfugst uber Intuition, aber es werden zusatzlich die primitivsten physischen Potenziale benotigt: die Fahigkeit, gegen zwei bis drei Dutzend bewaffneter Gegner zu kampfen, Belastungen auszuhalten, die ein gewohnlicher Mensch nicht ertragen kann. Etwas in dieser Richtung…«

Er nahm eine Munze im Wert eines halben Kredit aus der Hosentasche. Mit zwei Fingern drehte er sie zu einer Tute. Dann presste er sie zu einer dunnen Metallscheibe zusammen.

»Fuhl mal!«

Ich fing die Munze auf. Das Metall war gluhend hei?.

»Bei unserer Tatigkeit gibt es entschieden weniger von diesen Situationen, als allgemein angenommen wird«, sagte Stasj bedachtig, »aber manchmal treten sie auf. Dich kann man trainieren und ausbilden und du wirst viel starker und pfiffiger als ein gewohnlicher Mensch oder sogar ein Elitesoldat des Imperiums. Ungefahr so, wie der Agent des Inej, der im Motel zuruckgeblieben ist. Aber ein Phag muss einer sein, der niemals dort zuruckbleiben wurde.«

»Hm«, au?erte ich. »Ich habe es verstanden. Entschuldigen Sie.«

Stasj nickte.

»Ein Phag kannst du nicht werden. Aber du kannst uns helfen. Damit ein einziger Ritter des Avalon zwischen den Planeten umherstreunen, Geld verschleudern und ungestort zu den Herrschenden gehen kann, werden Hunderte Menschen benotigt, die jeden Einsatz vorbereiten. Und ich werde sehr froh sein, wenn du dir irgendwo auf dem stillen und friedlichen Avalon den Kopf uber Ungereimtheiten zerbrechen wirst, die in geheimen Dossiers des Imperiums und provinziellen Nachrichten vergessener Planeten auftauchen. Wenn du Anfragen erarbeiten und Analysen erstellen wirst. Und dann gibst du mir einen Befehl und der unbesiegbare Superheld wird sich an die Arbeit machen. In neun von zehn Fallen vollig umsonst.«

Ich lachelte. Ja, es tat mir sehr weh. Aber es tat auch gut.

Stasj wurde ernst.

»Aber jetzt mussen wir losfliegen, Tikkirej. Wir mussen weitergeben, was wir herausgefunden haben. Du wirst einen Flug im Zeittunnel kennen lernen. Das erste Mal ist es durchaus interessant.«

»Warten Sie, Kapitan Stasj«, erwiderte ich eilig und begann, meine Sicherheitsgurte zu losen, »noch zwei Minuten, ist das moglich?«

Er lachelte und nickte.

»Nein, Sie haben mich missverstanden«, sagte ich, »Ich — ich gehe in Dauerbetrieb.«

Ich glaube, damit war es mir gelungen, ihn wirklich zu uberraschen!

»Wieso, Tikkirej?«

»Dort ist doch mein Freund. Er ist allein. Vielleicht, wenn ich neben ihm im Dauerbetrieb liege… Ich wei? ja, dass dort nichts ist, aber eventuell spurt er es. Vielleicht wird ihm das helfen.«

Beim Reden war ich bereits aufgestanden und zog mich neben dem zweiten Platz fur ein Modul aus.

»Du verdirbst dir doch dein eigenes Gehirn«, gab Stasj zu bedenken. Er hatte sich nicht einmal umgedreht, sondern blieb angespannt und ratlos sitzen.

»Na, durch einen Zeitsprung verderbe ich es noch nicht, stimmt’s? Sie haben ja selbst gesagt, dass man nicht immer vernunftig handeln sollte…«

Ich legte mich auf das damliche Bett fur Schwerkranke und begann, die Gurte festzuziehen.

»Es tut mir sehr leid, dass du schon geboren bist…«, sagte Stasj leise, »du hattest ein echter Ritter des Avalon werden konnen. Viel Erfolg, Tikkirej. Ich versuche, so schnell wie moglich zum Avalon zu kommen. Und das nicht nur wegen Inej und Neu-Kuweit.«

Ich nickte, obwohl er mich nicht sehen konnte. Aber er konnte es ja fuhlen. Ich holte das Kabel und steckte es in den Shunt. Schaute auf Lion; durch das dunkle Glas schien sein Gesicht lediglich traurig zu sein.

Es erwies sich als gar nicht so schwer, vor jeder Tat nachzudenken. Ziemlich ungewohnlich, ziemlich eigenartig. Aber nicht schwer.

»Viel Erfolg, Stasj«, verabschiedete ich mich und schloss die Augen.

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