mir freundlich zu und fragte:

»Frierst du nicht, Tikkirej?«

»Nein.« Ich schuttelte den Kopf. »Es ist nicht sehr kalt.«

»Geh trotzdem nicht ohne Mutze.«

»Sie ist in der Tasche«, gab ich zu, »ich bin es nicht gewohnt, etwas auf dem Kopf zu haben.«

»Gewohn dich daran, Tikkirej.«

Die Frau lachelte und wuschelte meine Haare durcheinander. »Du bist doch ein ernsthafter und selbstandiger Mensch.«

Sie kummerte sich ziemlich um mich, aber nicht von oben herab.

»Ist gut, ich werde mir Muhe geben«, erwiderte ich und steckte die Einkaufe in die Tute. »Auf Wiedersehen!«

Die Wohnung wurde mir als unfreiwilligem Emigranten von »einem Planeten, der zu einem Katastrophengebiet erklart wurde« von der Stadtverwaltung zur Verfugung gestellt. Zur temporaren unbegrenzten Nutzung. Fur die Avaloner galt diese Wohnung bestimmt als klein und armlich, aber mir gefiel sie sehr. Sie bestand aus vier Zimmern sowie Kuche und verglaster Loggia, von der aus man den Wald und den See sehen konnte. Ich hatte gehort, dass die Bewohner von Port Lance dort im Sommer gern picknicken. Jetzt war der See erstarrt und mit einer dunnen, silbernen Eisschicht bedeckt. In der Nacht spiegelt sich darauf das Mondlicht.

Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den achten Stock. Manchmal nahm ich auch die Treppe — als Sport. Ich offnete die Tur und betrat die Diele.

Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Ich lauschte:

»Das ist eine Wache der Cyborg, Daimor!«

»Gib mir Deckung!«

Ein Plasmablaster begann zu larmen. Nach dem charakteristischen Kalteaussto? zu urteilen, handelte es sich um die »Puma« der Armee im Dauerfeuer. Ich wartete drei Sekunden ab, aber bei der »Puma« ging die Munition immer noch nicht aus. Danach wartete ich weitere funf Sekunden, aber der Kalteaussto? horte noch immer nicht auf und das Rohr des Blasters machte nicht den Eindruck, dass es schmelzen wurde. Bei uns im Laboratorium auf der Versuchsstation hatte es kein einziges Rohr langer als zehn Sekunden uberstanden.

Ich schlupfte aus den Schuhen, zog die Jacke aus und ging ins Wohnzimmer.

Lion sa? im Sessel und starrte auf den Bildschirm.

»Gru? dich, Lion«, sagte ich.

»Gru? dich, Tikkirej«, erwiderte er, ohne seinen Blick vom Bildschirm loszurei?en. Dort sprangen menschliche Gestalten in schwerer Schutzkleidung herum — in der es sich eigentlich nicht besonders gut springen lasst — und beschossen eine gigantische Spinne, die wild mit den Fresswerkzeugen klapperte. Aus der Spinne stoben nach allen Seiten Fleisch- und Panzerfetzen, aber sie dachte nicht daran, zu sterben.

Ich setzte mich auf die Sessellehne und beobachtete Lion.

Mein Freund schaute konzentriert auf den Bildschirm.

»Musst du auf die Toilette?«, fragte ich.

»Ja«, bestatigte er nach einigem Nachdenken.

»Dann geh, Lion. Steh jetzt auf, geh auf die Toilette und mach alles Notige.«

»Danke, Tikkirej.«

Lion stand auf und ging hinaus. Ganz wie ein normaler Mensch. Stasj und ich konnten ihn nicht retten, nicht wirklich retten. Der Anschluss an den Bordcomputer hatte zwar das Programm unterbrochen, das Lion von Inej eingepflanzt worden war, aber er hatte seinen Willen verloren. Es ging ihm jetzt ungefahr so wie Keol aus der Mannschaft der Kljasma, vielleicht sogar schlimmer. Man musste ihn an alles erinnern, und das nicht, weil Lion verga?, sich zu waschen oder zu essen, sondern weil er keinen Sinn in diesen Handlungen sah. Er hatte zu nichts Lust.

Aber das Schlimmste war, dass er alles verstand. Und irgendwo in der Tiefe der Seele qualte er sich deswegen.

Lion kehrte zuruck und setzte sich wieder in den Sessel. Als ob ich nicht im Zimmer ware. Das Einzige, was er nach wie vor gern machte, war fernsehen. Bei den Modulen ist es genauso.

»Hast du gegessen, Lion?«, erkundigte ich mich ohne Hintergedanken.

»Ja.«

Ich sprang von der Lehne herunter und schaute ihm in die Augen. Er schien nicht zu schwindeln.

»Wirklich? Du hast gegessen, ehrlich? Du wolltest essen?«

»Ehrlich, ich habe gegessen«, antwortete Lion. »Ich wollte.«

Ging es etwa so schnell?

Jeder sagte mir, dass sich Lion fruher oder spater erholen und wie fruher sein wurde. Das Gehirn, besonders das jugendliche, ware ein flexibles System und der Wille wurde zuruckkehren. Zuerst bei den elementarsten Bedurfnissen, den »vitalen«, wie sich der Arzt ausgedruckt hatte. Danach vollstandig. Aber niemand hatte erwartet, dass es so bald passieren wurde.

»Lion«, flusterte ich, »hor mal, was bin ich froh! Du bist ein Prachtkerl, Lion!«

Er erwiderte nichts, denn ich hatte ihm ja keine Frage gestellt.

»Vielleicht hast du auch noch abgewaschen?«, wollte ich wissen, um ihn zum Reden zu bringen.

»Nadja hat abgewaschen«, erwiderte Lion bereitwillig.

Und meine ganze Freude verschwand ins Nichts.

»Also hat dir Nadjeschda zu essen gegeben?«

»Ja. Sie kam und fragte, ob ich essen mochte«, antwortete mein Freund ruhig. »Ich sagte, dass ich mochte. Ich a?. Dann wusch sie das Geschirr ab. Wir unterhielten uns. Danach fing ich an, ein Video anzusehen.«

»Du bist ein guter Junge«, wiederholte ich, obwohl keine Freude geblieben war. »Ich gehe zur Arbeit, Lion. Ich werde sehr spat zuruckkommen. Wenn sich der Videorekorder ausschaltet -«, ich hob die Fernbedienung auf und programmierte den Timer, »- gehst du schlafen. Du wirst dich ausziehen, dich unter die Decke legen und schlafen.«

»Gut, Tikkirej. Ich habe alles verstanden.«

Ich rannte fast aus der Wohnung. Eigentlich hatte ich noch Zeit, aber ich drangte aus der Tur, verharrte auf dem Treppenabsatz und biss mir auf die Lippen.

Wie enttauschend! Wie schade!

»Tikkirej…«

Ich wandte mich um und erblickte Nadjeschda. Sie war Krankenschwester und wohnte in der Nachbarwohnung. Deshalb hatten wir auch vereinbart, dass sie nach Lion schaute. Ihr Spion war sicher auf mein Erscheinen programmiert.

»Guten Tag«, gru?te ich. Nadjeschda ist noch nicht sehr alt, etwa drei?ig. Sie sieht zwar immer sehr streng aus und hat eine kratzige, verrauchte Stimme, ist aber ein guter Mensch. Nur dass ich immer unsicher werde, wenn sie da ist.

»Ich war bei euch und habe Lion zu essen gegeben.«

»Ich wei?.«

Nadjeschda kam auf mich zu und schaute mir in die Augen:

»Was hat dich so durcheinandergebracht, Tikkirej?«

»Ich… ich dachte, dass er von allein gegessen hatte.«

Sie holte Luft, nahm eine Zigarette, schnippte mit dem Feuerzeug und sagte entschuldigend: »Mein Gott, ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass er…«

»Er wird sich trotzdem wieder erholen«, meinte ich starrkopfig.

»Ja, Tikkirej.« Nadjeschda richtete sich auf und sah mich an. »Vielleicht sollte man Lion doch lieber zur Therapie in ein staatliches Krankenhaus bringen? Sie haben sich ja bereit erklart, ihn kostenlos zu behandeln, und dort gibt es gute Spezialisten, glaub mir!«

»Das glaube ich. Aber ihm geht es besser bei mir.«

»Hast du Bedenken wegen der Schocktherapie?«

Ich nickte. Sie schreckte mich wirklich ab. Ich war zum gesetzlichen Vormund fur Lion bestellt worden, und deshalb wurde ich umfassend daruber aufgeklart, was dort mit meinem Freund gemacht werden wurde.

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