»Zeitweise erscheint das grausam«, stimmte Nadjeschda zu, »alle diese Tests mit Aushungern, Schmerzerregung… aber du musst einsehen, Tikkirej, dass man im Krankenhaus eine reiche Erfahrung mit der Rehabilitation ehemaliger Module hat. Dein Freund wurde ein oder zwei Jahre eines vollwertigen Lebens gutmachen. Wenn auch fur den Preis einiger unangenehmer Prozeduren.«
»Er wird hungrig dasitzen und vor ihm wird das Essen stehen«, murmelte ich, »so ist es doch? Und nur wenn Lion vor Hunger das Bewusstsein verliert, wird man ihm befehlen zu essen!«
»Ihm wird nicht befohlen. Er wird zwangsernahrt. Aber man wird von ihm eigenstandige Entscheidungen erzwingen, und er wird lernen, sie zu treffen.«
»Ja, und der Sessel wird ihm Stromschlage verpassen, und er wird beim Larm und dem Geheule von Sirenen schlafen und…« Ich verstummte, denn es war schon ekelhaft, daran zu denken.
Nadjeschda druckte die Zigarette direkt an der Wand aus, die feuerfeste Farbe zischte und schaumte und die Glut erlosch augenblicklich. Deshalb also sind alle unsere Wande mit aufgeplatzten Blaschen ubersat! Und der Hausmeister hatte mich so argwohnisch angesehen, als er mich danach fragte!
»Tikkirej, als medizinischer Insider kann ich dir nicht zustimmen«, au?erte sie, »aber du machst es richtig. Du bist ein guter Freund. Wenn Lenotschka alt genug ist, werde ich versuchen, sie mit dir zu verheiraten.«
Ich lachelte verdutzt. Lenotschka, Nadjeschdas Tochter, war etwa funf Jahre alt, und ich wusste nicht, wie ich mich vor ihren Kussen und Umarmungen retten sollte. Sie hatte mich sofort zu ihrem alteren Bruder ernannt, den sie nach Beendigung der Schule heiraten wurde. Sie hatte lieber auf Lion fliegen sollen, ihm war sowieso alles egal!
»Schon gut, hab keine Angst! Sie wird schon bald aufhoren, dich mit angelutschten Bonbons zu futtern und dich darum zu bitten, Marchen uber tapfere Phagen zu erzahlen«, versprach Nadjeschda. »Wenn du mochtest, fahre ich dich zur Arbeit.«
»Nein, danke, ich nehme den Bus«, erwiderte ich schnell. »Es ware schon, wenn Sie abends noch einmal nach Lion schauen konnten. Nicht dass er wieder nicht schlafen geht und nur Fernsehen schaut!«
»Das mache ich auf alle Falle«, sagte Nadjeschda, »Ich sehe nach ihm und bringe ihn ins Bett. Mach dir keine Sorgen.« Im kleinen Windfang am Eingang zum Office speichelte ich meinen Finger ein und steckte ihn in die Detektoroffnung. Gleichzeitig schaute ich in die Linse der Kamera, die meine Netzhaut abglich, aber das war Blodsinn. Die sicherste Uberprufung ist die genetische, da man Fingerabdrucke falschen, Fingerkuppen transplantieren oder ein Passwort durch Foltermethoden erfahren konnte. Es ist entschieden tauglicher, die Epithelzellen und Erythrozyten, die generell im Speichel vorkommen, zu uberprufen.
Immer wenn ich den Finger an die Detektorflache hielt, war ich etwas aufgeregt.
Unter der Kontaktflache befand sich eine Nadel mit einem Serum, das einen Menschen in zwei Sekunden unschadlich macht. Wenn die Genanalyse ergibt, dass ein Fremdling in den Windfang eingedrungen ist, sticht die Nadel zu.
Es war naturlich alles in Ordnung. Die Tur offnete sich und uber ihr leuchtete ein grunes Lampchen auf. Ich trat ein und gru?te den Wachmann.
»Hallo, Tikkirej«, erwiderte er, »du bist heute ziemlich zeitig.«
»Ich hatte nichts weiter zu tun«, erklarte ich.
Es gefiel mir sehr, wie man sich mir gegenuber am Arbeitsplatz verhielt. Niemand machte sich uber mein Alter oder meine Herkunft von einem anderen Planeten lustig.
Und auch umgekehrt: Niemand behandelte mich mit besonderer Rucksicht.
Als Stasj meinetwegen verhandelte, schlug er mir drei Arbeiten zur Auswahl vor: die erste im analytischen Zentrum, das Informationen uber alle Planeten des Imperiums sammelte. Die zweite als Techniker auf dem Kosmodrom der Phagen. Wenn man dort gearbeitet hatte, war es leicht, auf einer Pilotenschule angenommen zu werden. Und die dritte in einer Firma, die Waffen untersuchte und entwickelte.
Ich entschied mich fur die Waffenfirma.
Hauptsachlich deshalb, weil ich hier am wenigsten arbeiten brauchte, und das bedeutete, dass ich Lion nicht in ein Krankenhaus geben musste. Im Gro?en und Ganzen habe ich es nicht bedauert. Ich bekam die Funktion eines Hilfstechnikers und ein Arbeitszimmer — na ja, nicht fur mich allein, sondern zusammen mit Boris Petrowitsch Tarassow, der Cheftechniker und mein Vorgesetzter war.
Er war schon anwesend. Dunn, lang, kahl geschoren — lediglich auf dem Scheitel thronte ein langes Haarbuschel. Am Anfang hatte ich mich etwas vor seinem Anblick gefurchtet. Aber nicht lange, denn Tarassow erwies sich als guter Mensch. Auf der Welt gibt es bestimmt mehr gute Menschen als bose.
»Guten Tag, guten Tag…«, murmelte Tarassow, kaum dass ich das Zimmer betreten hatte. Er kroch geradezu in den Bildschirm des Genscanners, auf dem sich eine wundersame Peptidkette drehte.
Hatte er etwa mein Spiegelbild auf dem Bildschirm gesehen?
»Guten Tag, Boris Petrowitsch«, sagte ich laut, »macht es etwas aus, dass ich fruher da bin?«
Tarassow hupfte aus dem Sessel, drehte sich zu mir um und schrie mich an: »Tikkirej? Du kannst dich doch nicht einfach anschleichen, oder willst du, dass mir das Herz stehen bleibt?«
»Sie haben mich doch gegru?t«, rechtfertigte ich mich verwirrt.
Tarassow hob erstaunt seine Augenbrauen. »Gegru?t? Ich? Ah… komm mal her, Tikkirej!«
Ich ging zu ihm und schaute mit einem Auge auf die Plattform des Analysegerats. Dort lag ein Schlangenschwert, ganz ruhig. Das also hat Boris Petrowitsch untersucht…
»Ich habe diese Schone dort begru?t«, erklarte Tarassow und tippte mit dem Finger auf den Bildschirm, »siehst du?«
»Ich sehe sie, verstehe aber nichts«, gab ich zu.
»Diese Plasmapeitsche ist Ausschuss«, erlautete Tarassow. »Es ist eine Schande. Eine Peitsche bindet sich an ihren Meister und arbeitet nur mit ihm, das wei?t du doch?«
»Ja.«
»Tja, also bei dieser kam es nie zu einem Imprinting. Nicht beim ersten Phagen, nicht beim zweiten, nicht beim dritten. Eine individuelle Abneigung kommt naturlich vor, quasi lebende Mechanismen sind kompliziert. Aber diese hier mochte niemanden annehmen. Ein genetischer Defekt, leider Gottes.IrgendeineUnzulanglichkeitwahrenddes Produktionsstadiums.«
»Kann man das heilen?«, wollte ich wissen und warf eine Blick auf die Waffe. Die Plasmapeitsche der Phagen ahnelte wirklich einer Schlange — rund einen Meter lang, mit silbrigen Schuppen bedeckt und mit einem flachen Kopf. Der Kopf erhob sich von Zeit zu Zeit, aber die Schlange lag ruhig da.
»Reparieren, Tikkirej. Die Peitsche ist mehr Maschine als Lebewesen… Nein, das geht nicht. Rein theoretisch…«, Tarassow grubelte, »rein theoretisch auch nicht. Au?erdem ware es okonomisch unvorteilhaft. Wei?t du, warum au?er den Phagen niemand Plasmapeitschen benutzt?«
»Es ist ein militarisches Geheimnis.«
»Nun, eine Reihe von Studien ist wirklich geheim, aber wir hatten den Diensten des Imperiums Muster uberreicht und manchmal kommen Phagen um… und die Waffe fallt in die Hande des Feindes. Es ist so, Tikkirej, dass die Nutzung der Peitsche au?erst kompliziert und die Herstellung unglaublich teuer ist. Jeder beliebige Terrorist oder Agent zieht es vor, sich mit einer einfacheren und dabei trotzdem starken Waffe auszurusten.«
»Warum aber benutzen dann die Phagen eine Peitsche?«
»Hast du jemals eine Peitsche im Einsatz erlebt?«, fragte Boris Petrowitsch ironisch, »nicht auf der Versuchsstation, sondern in Wirklichkeit, in den Handen eines erfahrenen Phagen?«
»Ja, hab ich.«
Tarassows Lacheln erlosch. »Verzeih, Tikkirej, ich habe nicht daran gedacht. Also, war das beeindruckend?«
»Und wie!«
»Darum geht es auch. Ein Phag muss von Legenden umgeben sein. Von Achtung, Furcht und Unverstandnis. Deshalb ist eine Plasmapeitsche nutzlicher als der beste Blaster. Deshalb sind die Phagen mit Plasmapeitschen bewaffnet, von denen jede einzelne so viel wie ein Panzer des Imperiums kostet.«
»Oho!«, rief ich aus.
»Und die Reparatur einer Peitsche«, fuhr Tarassow fort, »wurde der Herstellung von zehn Panzern entsprechen. Das ist ja auch Genchirurgie auf hochstem Niveau! Also…«, er senkte seine Hande auf die Tastatur, aus dem Drucker kroch ein Blatt Papier und der Bildschirm erlosch, »schreiben wir das Aussonderungsprotokoll.«