Zweiter Teil

Winter

Kapitel 1

Als ich mich der Haltestelle naherte, traf mich ein Schneeball am Hinterkopf.

Ich konnte mich einfach nicht daran gewohnen! Nicht nur, dass es kalt war, so kalt, dass man spezielle Winterkleidung tragen musste, nein, auch dieser Schnee uberall! Ich hatte naturlich davon gehort, aber horen ist etwas ganz anderes als sehen, fuhlen und auf Schnee zu laufen.

Oder ein in der Hand zusammengeballtes Stuck Schnee vor die Brust zu bekommen.

Ich drehte mich um, tanzelte herum, steckte meine Hand in den Kragen und holte den bereits angetauten Schneeball heraus. Rosi und Rossi kamen mir schon entgegengerannt, lachten und schamten sich kein bisschen. Sie waren Zwillinge, aber mit den Namen hatten sie ebenso wenig Gluck wie ich.

»Gru? dich, Tikkirej«, sagte Rosi, »habe ich gut gezielt?«

»Ja«, bekannte ich. Vom Schneeball blieb ein nasser kalter Fleck hinter dem Kragen ubrig, der aber langsam warm wurde.

»Ich habe ihr gesagt, dass sie es nicht tun soll«, mischte sich Rossi ein, »aber sie ist ein Schwachkopf ohne Bremsen, das wei?t du ja.«

Aus unerfindlichen Grunden war ich davon uberzeugt, dass die Idee, mich mit Schneeballen zu bewerfen, eigentlich von Rossi stammte. Wenn er auch leiser und ruhiger als seine Schwester war, so ging die Initiative gewohnlich von ihm aus.

»Macht nichts«, erwiderte ich, »ich bin nur nicht daran gewohnt. Bei uns hat es nie geschneit.«

»Es ist langweilig ohne Winter!«, rief Rosi aus. Sie konnte nicht eine Sekunde lang ruhig auf einer Stelle stehen. Entweder gestikulierte sie mit den Handen, die in grell orangefarbenen Handschuhen steckten, versteckte sie in den Manteltaschen oder ruckte die nach hinten verrutschte Kappe zurecht. Der diesjahrige Winter war warm, sagten mir alle. Nur wenig kalter als null Grad.

Ich fror trotzdem.

»Kommst du mit?«, schlug Rossi vor. »Wir wollen Karten spielen, uns fehlt der vierte Mann. Iwan kommt noch.«

»Nein. Ich kann nicht.«

»Was soll das?«

Rosi zog mich an der Hand und schaute mir in die Augen. »Du bist beleidigt, stimmt’s? Verzeih mir, ich werde nicht mehr nach dir schmei?en.«

»Ich muss in zwei Stunden bei der Arbeit sein«, erklarte ich, »heute hab ich Nachtschicht.«

Rossi maulte: »Ach ja, du bist ein viel beschaftigter erwachsener Mensch.«

»Ich bin kein Erwachsener«, erwiderte ich, »aber ich habe die Burgerrechte und muss fur meinen Lebensunterhalt sorgen.«

Es war schon eigenartig, denn wir waren ja gleichaltrig. Wenn ich mir jedoch Rosi und Rossi ansah und auch ihre Mitschuler, dann kam es mir so vor, als waren sie dumme Kinder und ich erwachsen und weise. Vielleicht deshalb, weil ich auf Neu-Kuweit war? Oder weil ich auf Karijer aufgewachsen war? Sie mussten ja noch nie uber soziale Dienste und Zahlungen fur Lebenserhaltungssysteme nachdenken oder Spione des Inej verfolgen und einem echten Ritter des Avalon helfen. Ihre Eltern lebten, kummerten sich um sie, liebten sie und halfen ihnen, wenn es notig war. Und niemand von ihnen musste arbeiten, hochstens zur Aufbesserung des Taschengeldes wahrend der Ferien hinter der Theke von »Mac Robins« stehen.

»Schade«, meinte Rossi. Er war ein guter Junge, nicht boshaft, obwohl seine Streiche manchmal recht gemein waren. »Dann vielleicht morgen? Morgen ist Feiertag, da kann man machen, was man will.«

»Na gut«, erklarte ich mich einverstanden, »wir besprechen das am Morgen, okay?«

Mein Bus kam, ich gab den Zwillingen die Hand und stieg ein. Ich hatte eine Stunde warten und den kostenlosen Schulbus nehmen konnen. Aber ich hatte es eilig.

Wie Stasj versprochen hatte, arbeitete ich jetzt fur die Phagen des Avalon. Genauer, in einer ihnen gehorenden Gesellschaft, die ein kleines Buro im Zentrum von Port Lance, der avalonischen Stadt, in der ich lebte, betrieb. Es war eine Kleinstadt, nicht wie die Hauptstadt von Avalon, Camelot. Mir gefiel sie aber sehr.

Sogar im Winter.

Im Bus hatte ich einen Fensterplatz neben einer pummeligen Dame in einem Mantel aus grauem, synthetischem Pelz. Die Dame schaute ihre Einkaufe durch und rechnete dann etwas auf ihrer Kreditkarte nach. Die Ausgaben stimmten sicherlich nicht, sie schaute immer verbissener. Dann holte sie aus ihrer Tasche eine kleine Schachtel mit Videokassetten, sofort erhellte sich ihre Miene, sie steckte die Kreditkarte weg, legte die Hande in den Scho? und entspannte sich.

Ich hatte es auch notig, meine Ausgaben zusammenzuzahlen. Ich hatte noch einiges von dem Geld, das mir Stasj auf Neu- Kuweit gegeben hatte, und in drei Tagen sollte ich mein erstes Gehalt bekommen, aber trotzdem. Es erwies sich als au?erst schwer, einen eigenen Haushalt zu fuhren, alle Rechnungen zu bezahlen, Nahrungsmittel und andere Dinge einzukaufen. Mir ist unklar, wie die Eltern damit zurechtkamen!

Ich wandte mich zum Fenster und beobachtete die Stra?en von Port Lance. Mama hatte es hier gefallen. Gerade wegen des Schnees. Sie meinte immer, dass der Wechsel der Jahreszeiten etwas sehr Wichtiges sei. Bestimmt hatte es auch Papa gefallen.

Wie ich Karijer hasse!

Ich hatte ja dort mein ganzes Leben verbringen konnen, ohne zu ahnen, dass die Welt ganz anders aussah. Und immer noch lebten auf Karijer meine Freunde, dort waren Gleb, Dajka und alle anderen. Wenn es bei ihnen Winter wird, hei?t das lediglich, dass die Sonne weniger intensiv scheint. Sie zahlen fur die Luft, die sie atmen, erzahlen sich gegenseitig Geschichten von bosen Mutanten und schauen alte Unterhaltungssendungen an, da die Administration kein Geld fur neue hat.

Mir war alles klar: Zum Imperium gehoren uber zweihundert Planeten und uberall lebt man anders. Es gibt reiche und gute, wie die Erde, Edem, Avalon; und es gibt solche wie Neu- Kuweit, wo die Natur auch sehr schon ist, aber dem Planeten ein Ungluck zugesto?en ist. Und es gibt Planeten wie meine Heimat. Damals wurden sie kolonisiert, weil man die Schwerverbrecher irgendwohin schaffen und radioaktives Erz fordern musste. Irgendwann wurde weniger Erz benotigt, und auch die Verbrecher im Imperium wurden weniger. Karijer geriet in Vergessenheit. Lebt, wie ihr wollt… Ich verstehe alles. Und ich bin sehr traurig.

»Stra?e der Frohlichkeit«, piepste der Lautsprecher am Kopfteil meines Sitzes, »wenn Sie weiterfahren mochten, zahlen Sie bitte zu.«

Ich hatte nicht vor weiterzufahren, ich wohnte hier. Ich zwangte mich an meiner Nachbarin vorbei und stieg aus.

In Port Lance sind alle Bezeichnungen sehr malerisch: Stra?e der Frohlichkeit, Sonnenallee, Schattenboulevard, Platz des Abends, Uferpromenade der Nebel. Sowie man diese Bezeichnungen hort, wei? man, dass in dieser Stadt nur gute Menschen leben. Man sagt, dass es hier im Fruhling sehr schon sein soll, wenn die Kastanien von der Erde und die einheimischen Baume mit dem lustigen Namen »Nichtsnutze« bluhen. Der Nichtsnutz tragt kleine, leichte Fruchte, die auf Warme reagieren. Wenn jemand vorbeigeht, rei?en sie sich vom Zweig los und fallen auf den Boden. Die Samen verstreuen sich in alle Himmelsrichtungen und klammern sich fur einige Minuten an den vorbeigehenden Menschen oder Tieren fest. Sie sind nicht klebrig, sondern elektrisch geladen.

Aber das hat noch Zeit. Erst musste der Winter vergehen, bis der Fruhling kommen konnte. Und im Fruhling wurde es wunderschon, da war ich mir sicher.

Ich ging noch in ein kleines Lebensmittelgeschaft neben unserem Haus und kaufte zwei Fertiggerichte, die preiswert waren und schmeckten, ein Wei?brot und zwei Flaschen Limonade. Die Verkauferin kannte mich, nickte

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