Am Abend kamen sie in einen gro?en Wald. Die Zweige hingen tief herab und versperrten ihnen den gelben Backsteinweg. Dann ging die Sonne unter, und es wurde dunkel.

«Wenn du ein Haus siehst, in dem wir ubernachten konnten, so sag es mir», bat Elli mit muder Stimme. «Es ist so unheimlich, im Dunkeln zu wandern.»

Da blieb der Scheuch plotzlich stehen.

«Ich sehe rechts eine kleine Hutte. Wollen wir hingehen?»

«Ja, ja», erwiderte Elli, «ich bin so mude!»

Sie bogen vom Weg ab und standen bald vor der Hutte. Als sie hineingingen, entdeckte Elli in einer Ecke ein Lager aus Moos und Heu. Sie schlief, den Arm um Totoschka, sofort ein, wahrend der Scheuch vor der Schwelle hockte und uber die Schlafenden wachte.

Seine Wache war nicht unnutz. Nachts schlich sich ein Tier heran, das einen schwarz-gemischten Pelz und auf dem Kopf, der wie ein Schweinskopf aussah, wei?e Streifen hatte.

Wahrscheinlich hatte der Duft des Essens in Ellis Korb das Tierchen angelockt. Der Scheuch glaubte, Elli drohe gro?e Gefahr. Mit angehaltenem Atem stand er da und lie? den

Feind (es war blo? ein junger Dachs, was der Strohmann freilich nicht wissen konnte) bis an die Tur herankommen. Als das Tierchen seine Nase neugierig hereinsteckte und den lockenden Duft einsog, versetzte der Scheuch ihm mit der Rute, die er in der Hand hielt, einen saftigen Hieb uber den fetten Rucken.

Der Dachs heulte auf und floh ins Dickicht zuruck, aus dem noch lange sein Winseln zu horen war…

Der Rest der Nacht verlief ruhig. Die Tiere des Waldes hatten begriffen, da? die Hutte einen verla?lichen Wachter hatte. Der Scheuch, der niemals mude wurde und keinen Schlaf brauchte, sa? an der Schwelle, starrte in die Finsternis und wartete ruhig den Morgen ab.

Die Erlosung des eisernen Holzfallers

Als Elli erwachte, sa? der Scheuch vor der Schwelle, wahrend Totoschka dem Eichhornchen im Walde nachjagte. «Wir mussen uns nach Wasser umsehen», sagte das Madchen.

«Wozu brauchst du es?»

«Um mich zu waschen und zu trinken. Trocknes Brot kann man doch nicht essen.»

«Wie ich sehe, habt ihr Geschopfe aus Fleisch und Knochen es nicht am besten», meinte der Scheuch nachdenklich. «Ihr mu?t unbedingt schlafen, essen und trinken. Freilich habt ihr ein Gehirn, und dafur kann man vieles in Kauf nehmen.»

Sie fanden einen Bach, an dem Elli und Totoschka ihr Fruhstuck verzehrten. Im Korb blieb noch etwas Brot ubrig. Elli wollte zum Backsteinweg zuruck, als sie plotzlich ein Stohnen aus dem Wald vernahm.

«Was mag das sein?'. fragte sie angstlich.

«Keine Ahnung», erwiderte der Scheuch. «La?t uns nachschauen.»

Wieder horten sie das Stohnen. Die Gefahrten bahnten sich einen Weg durch das Dickicht und erblickten eine Gestalt zwischen den Baumen. Elli lief auf sie zu und blieb wie angewurzelt stehen.

An einem angeschlagenen Baum stand mit erhobener Axt ein Mensch, der ganz aus Eisen war. Kopf, Arme und Beine waren mit Scharnieren an den Korper befestigt, und anstelle eines Hutes hatte er einen bronzenen Trichter auf. Die Krawatte an seinem Hals war gleichfalls aus Eisen. Der Mann stand unbeweglich da, die Augen weit geoffnet.

Totoschka sturzte bellend auf ihn zu und versuchte, ihn am Bein zu schnappen, sprang aber winselnd zuruck, weil er sich beinahe die Zahne ausgebrochen hatte.

«Eine Gemeinheit, wau-wau-wau», klagte er, «einem anstandigen Hund ein eisernes Bein hinzuhalten!»

«Das ist wohl eine Waldscheuche», meinte der Scheuch, «obwohl ich nicht verstehe, wen sie hier bewacht.»

«Hast du gestohnt?» fragte Elli.

«Ja», gab der eiserne Mann zur Antwort. «Schon ein Jahr steh ich hier, und niemand kommt mir zu Hilfe…»

«Wie kann man dir helfen?» fragte Elli teilnahmsvoll.

«Meine Gelenke sind eingerostet, und ich kann mich nicht bewegen. Wenn man mich einschmieren wurde, ware ich wie neu. Die Olkanne steht auf einem Brett in meiner Hutte.»

Elli und Totoschka liefen zur Hutte, wahrend der Scheuch den eisernen Holzfaller neugierig von allen Seiten betrachtete.

«Sag, lieber Freund», fragte er, «ist ein Jahr viel oder wenig?»

Oh, ein Jahr ist sehr viel! Ganze dreihundertfunfundsechsig Tage!»

«Dreihundertfunfundsechzig…», wiederholte der Scheuch. «Sind das mehr als drei?»

«Bist du aber dumm!» sagte der Holzfaller. «Du kannst wohl nicht zahlen?»

«Da irrst du!» entgegnete der Scheuch stolz, «ich kann sehr gut zahlen.» Und er begann zu zahlen, wobei er die Finger umbog: «Mein Herr hat mich gemacht — das ist eins! Ich hab mich mit der Krahe gezankt — das ist zwei! Elli hat mich vom Pfahl heruntergeholt — das ist drei! Und sonst ist mit mir nichts geschehen, also brauche ich auch nicht weiter zu zahlen!»

Der Eiserne Holzfaller wu?te vor Staunen nichts zu erwidern. In diesem Augenblick kam Elli mit der Olkanne.

«Wo soll ich dich einschmieren?»

«Zuerst den Hals», antwortete der eiserne Mann.

Elli schmierte ihm den Hals, doch dieser war vollig eingerostet, und der Scheuch mu?te den Kopf des Holzfallers lange hin und her drehen, bis der Hals zu knarren aufhorte.

«Und jetzt noch die Arme bitte!»

Elli schmierte seine Armgelenke, und der Scheuch hob und senkte behutsam die Arme des Holzfallers, bis sie tadellos funktionierten. Als dies geschehen war, holte der eiserne Mann tief Atem und warf die Axt von sich.

«Oh, wie ich mich wohl fuhle!» rief er. «Ich hatte die Axt erhoben, ehe ich einrostete, und jetzt bin ich schrecklich froh, sie wieder wegzuwerfen. Und nun gib mir die Olkanne, damit ich die Beine einschmiere. Dann wird alles in Ordnung sein.»

Als er die Beine eingeschmiert hatte und sie wieder bewegen konnte, dankte er Elli viele Male, denn er war sehr hoflich.

«Ich hatte hier so lange gestanden, bis ich zu Staub zerfallen ware. Ihr habt mir das Leben gerettet. Wer seid ihr?»

«Ich hei?e Elli, und das sind meine Freunde.»

«Toto!»

«Scheuch ist mein Name. Ich bin mit Stroh ausgestopft!»

«Das kann man an deinem Gerede leicht erkennen», stellte der Eiserne Holzfaller fest. «Wie seid ihr hergekommen?»

«Wir ziehen in die Smaragdenstadt, wo der gro?e Zauberer Goodwin lebt, und haben in deiner Hutte ubernachtet.»

«Was fuhrt euch zu Goodwin?»

«Er soll mir helfen, nach Kansas heimzukehren, zu Vater und Mutter», erwiderte Elli.

«Und ich will ihn um ein bi?chen Gehirn fur meinen Strohkopf bitten», sagte der Scheuch.

«Ich gehe einfach hin, weil ich Elli lieb hab und weil es meine Pflicht ist, sie vor Feinden zu schutzen!» sagte Totoschka.

Der Eiserne Holzfaller dachte angestrengt nach.

«Was meint ihr, konnte mir Goodwin ein Herz geben?»

«Ich glaube, er kann's», sagte Elli. «Das wird ihm nicht schwerer fallen, als dem Scheuch ein Gehirn zu geben.»

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