einzigen Menschen, die sich zu dieser fruhen Stunde hier aufhielten.

Driscoll fuhrte sie zielstrebig zwischen den Grabern hindurch.

»Sie scheinen sich hier gut auszukennen, Reverend«, bemerkte Jacob.

»Bevor ich nach Abners Hope aufbrach, um Mi? Sommer von Mr. Dilgers Tod zu benachrichtigen, habe ich mir naturlich das Grab angesehen.«

Uber dem Grab, zu dem er sie fuhrte, erhob sich ein schlichtes Holzkreuz, ahnlich dem, das Jacob fur Billy Calhouns letzte Ruhestatte angefertigt hatte. Das Kreuz war, wie das Grab selbst auch, von Schnee bedeckt.

»Hier ist es?« fragte Irene zogernd, als Driscoll stehenblieb.

Der Reverend nickte. »Ja, Mi? Sommer.«

Eine ganze Weile standen sie schweigend, mit gesenkten Hauptern, vor dem Grab. Dann trat Irene an das Kreuz und wischte langsam den Schnee mit ihren behandschuhten Handen von dem Holz.

Die Aufschrift, die sie enthullte, war fast enttauschend knapp:

Carl Dilger aus Hamburg (Germany)

Erschossen in Hoodsville (Oregon) am 8. Juli 1863

»Ist er das?« fragte Driscoll.

»Ja«, antwortete Irene mit bruchiger Stimme. »Carl kam aus Hamburg. Sein Vater besitzt dort eine Reederei.« Sie wollte noch etwas sagen, aber ihre Stimme versagte. Sie sammelte sich und fuhr fort: »Carl, wurde erschossen. Wer hat das getan?«

»Ein gewisser Randolph Haggard. Er liegt auch hier begraben. Wollen Sie das Grab sehen?«

Irene nickte.

Das Grab, zu dem sie der Reverend jetzt fuhrte, lag abseits der anderen Begrabnisstatten. Auch uber ihm erhob sich nur ein schlichtes Kreuz aus Brettern, das Driscoll vom Schnee befreite.

Randolph Haggard (gest. am 8. Juli 1863

Der Herr moge ihm gnadig sein

»Am selben Tag gestorben«, murmelte Irene.

»Durch Dilgers Kugel«, erklarte der Reverend. »Man hat mir gestern abend erzahlt, sie hatten sich gegenseitig erschossen.«

Irene sah ihn fragend an. »Warum?«

»Ein Streit.« Driscoll zuckte mit den Schultern. »Ich wei? nichts Genaues. Nur, da? Haggard in die Stadt kam und einen Streit mit Dilger vom Zaun brach, dem beide zum Opfer fielen.«

Irene schuttelte den Kopf und sagte leise: »Ich kann mir das nicht vorstellen. Carl war im Umgang mit Schu?waffen nicht sehr erfahren.«

»Hier im Westen lernt man das schnell«, sagte der Reverend und klopfte auf das Lederholster mit seinem Webley Longspur. »Besonders, wenn es um das eigene Leben geht.«

»Dieser Haggard scheint jedenfalls an der Sache schuld gewesen zu sein«, meinte Jacob. »Die Worte >Der Herr moge seiner Seele gnadig sein< deuten es an.«

»So hat man es mir auch erzahlt«, bestatigte der Reverend.

»Von wem konnen wir Genaueres erfahren?« erkundigte sich Irene.

»Vielleicht vom Burgermeister, Wallace Hood«, sagte Driscoll.

»Mit Eric Hood verwandt?« fragte Jacob.

»Sein Bruder, glaube ich.«

»Ich mochte noch einmal zu Carls Grab«, sagte Irene und stapfte auch schon durch den Schnee zuruck.

Jacob und der Reverend standen eine ganze Weile vor Haggards Grab und sahen den Hugel hinauf zu Irene, die mit gesenktem Haupt neben dem Holzkreuz stand und auf die Begrabnisstatte ihres Geliebten schaute.

Schlie?lich ging Jacob zu ihr und legte sanft einen Arm um ihre Schultern. Er wollte sie wissen lassen, da? sie nicht allein war.

Irene hob den Kopf und sah ihn dankbar an. Uber ihr Gesicht liefen Tranen.

*

Auf ihrem Ruckweg in die Stadt mu?ten sie sich gegen den kraftig auffrischenden Wind regelrecht anstemmen.

Driscoll fuhrte sie zu einem der gro?ten Gebaude in der Mitte der Main Street, uber dem ein Schild mit der Aufschrift >Wallace Hood - General Store< prangte.

»Der Burgermeister ist also zugleich der Ladenbesitzer«, meinte Jacob.

»Richtig«, sagte der Reverend und stieg als erster die drei holzernen Stufen hinauf, die auf den uberdachten Vorbau fuhrten.

Der Laden war geoffnet, aber die Tur war wegen des kalten Windes geschlossen. Als die drei vor ihr standen, schlugen ihnen von innen laute Stimmen entgegen. Schnell war klar, da? sich zwei Manner im Laden heftig stritten.

Als Driscoll die Tur aufstie?, lautete eine Glocke, und die beiden Stimmen verstummten. Zwei Manner unterschiedlichen Alters, unverkennbar miteinander verwandt, starrten ihnen entgegen.

Der Altere mu?te Wallace Hood sein, so sehr ahnelte sein Gesicht dem des Mietstallbesitzers. Nur war er etwa zehn Jahre alter als sein Bruder, sein Gesicht war bartlos, und die Haare auf dem Kopf sprossen noch sparlicher als bei Eric Hood. Er trug einen dunklen, abgeschabten Dreiteiler.

Der Jungere war Mitte Zwanzig, ebenfalls glattrasiert und noch im Vollbesitz seiner Haarpracht. Er hatte eine wei?e Schurze umgebunden und hielt einen Reisigbesen in der Hand.

Beider Gesicht waren vor Erregung gerotet.

»Was kann ich fur Sie tun?« fragte der Altere, der sich als erster wieder in der Gewalt hatte.

»Sind Sie Wallace Hood?« erkundigte sich Driscoll.

»Ja. Mir gehort dieses Geschaft.«

»Nun, wir wollten nicht zum Ladeninhaber, sondern zum Burgermeister.«

»Da haben Sie Gluck. Das bin ich auch.«

»Das dachten wir uns«, sagte Driscoll und stellte sich sowie seine Begleiter vor.

Im Gegenzug erfuhren sie von Wallace Hood, da? der junge Mann sein Sohn Barry war.

»Wir kommen wegen Carl Dilger«, erklarte der Reverend, »und wegen Randolph Haggard.«

Die Erwahnung der beiden Namen loste bei den Hoods heftige Reaktionen aus. Die ein wenig aufgeschwemmten Zuge des Burgermeisters erbebten. Barrys Hande verkrampften sich um den Besen, und er wechselte einen langen Blick mit seinem Vater.

»Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun haben soll«, meinte Wallace Hood schlie?lich.

Driscoll zeigte auf Irene.

»Mi? Sommer ist nach Oregon gekommen, um Mr. Dilger zu heiraten. Sie ist von seinem Tod verstandlicherweise sehr betroffen und mochte Naheres daruber erfahren.«

»Ja, naturlich«, sagte der Burgermeister und nickte. »Am besten gehen wir in mein Buro. Wegen des kalten Wetters ist heute morgen so wenig los, da? Barry auch ohne mich fertig wird.« Er sah seinen Sohn an. »Nicht wahr?«

»Ja, Vater.«

Wallace Hood fuhrte sie in ein geraumiges Buro, das allerdings nur uber zwei Besucherstuhle verfugte. Driscoll blieb stehen. Hood nahm auf einem lederbespannten Drehstuhl hinter seinem mit Papieren ubersaten Schreibtisch Platz.

»Carl Dilger wurde im Juli erschossen«, begann er ohne weiteres. »Wir wu?ten nicht, da? er eine Verlobte hatte. Nur von seinem Vater druben in Deutschland hat er viel erzahlt. Aber wir haben ihm das nicht so recht geglaubt.«

»Wieso nicht?« fragte Irene.

Hood lachte kurz auf. »Dilger erzahlte, sein Vater sei der Besitzer einer Reederei, steinreich und so. Aber jeder wu?te, da? er das erfand, um Geld zu schnorren. Er erzahlte es immer dann, wenn er wieder einmal pleite war.«

Das Zucken in Irenes Gesicht verriet, wie sehr sie Hoods Worte schmerzten. Doch sie beherrschte sich und sagte: »Aber es stimmt. Carls Vater ist Reeder, und er hat viel Geld.«

Hood sah sie verblufft an, den Mund halb offen. »Weshalb war er dann standig in Geldnot?«

Вы читаете Ein Grab in Oregon
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату