Ich sah ihn an - uberrascht und doch nicht uberrascht. Dann stand ich auf, ging hinein und schenkte uns beiden ein Glas Bier ein. Ich gab ihm eines davon und sagte dabei: »Morgen oder ubermorgen gibt’s keins, merk dir das.«

»Ist gut.« Er nippte, verzog das Gesicht und nahm dann einen kleinen Schluck. »Ich hab’s gehasst, Shan anzulugen, Papa. An der Sache ist alles schmutzig.«

»Schmutz lasst sich abwaschen.«

»Der nicht«, sagte er und nahm noch einen Schluck. Diesmal verzog er das Gesicht nicht mehr.

Kurze Zeit spater, nachdem der Mond silbern geworden war, ging ich ums Haus, um den Abort zu benutzen und darauf zu horchen, wie der Mais und die Nachtbrise einander die alten Geheimnisse der Erde erzahlten. Als ich auf die Veranda zuruckkam, war Henry verschwunden. Sein Bierglas stand halb leer auf dem Gelander an der Treppe. Dann horte ich ihn im Stall sagen: »Braves Madchen. Brav.«

Ich ging hinuber, um nach ihm zu sehen. Er hatte die Arme um Elpis’ Hals geschlungen und streichelte sie. Ich glaubte zu sehen, dass er weinte. Ich beobachtete ihn eine Weile, sagte dann aber doch nichts. Ich ging ins Haus zuruck, zog mich aus und legte mich in das Bett, in dem ich meiner Frau die Kehle durchgeschnitten hatte. Es dauerte lange, bis ich Schlaf fand. Und wenn Sie nicht den Grund verstehen, weshalb - alle Grunde, weshalb -, hat es keinen Zweck, dass Sie weiterlesen.

Ich hatte allen unseren Kuhen die Namen griechischer Nebengottinnen gegeben, aber Elpis erwies sich als schlechte Wahl - beziehungsweise eine Ironie des Schicksals. Sollte Ihnen entfallen sein, wie das Bose auf unsere traurige alte Welt gekommen ist, will ich es Ihnen ins Gedachtnis zuruckrufen: Alles Bose entwich, als Pandora ihrer Neugier nachgab und die ihr zur Aufbewahrung anvertraute Buchse offnete. Als sie so weit zu sich kam, dass sie den Deckel wieder schloss, befand sich nur noch Elpis, die Gottin der Hoffnung, in der Buchse. Aber in jenem Sommer 1922 gab es fur unsere Elpis keine Hoffnung mehr. Sie war alt und griesgramig, sie gab nicht mehr viel Milch, und wir hatten es fast aufgegeben, dieses bisschen zu melken, denn sobald

»Und sie ware zah«, hatte Arlette gesagt (die eine heimliche Zuneigung fur Elpis empfunden hatte, vielleicht weil sie sie nie hatte melken mussen). »Lassen wir sie einfach friedlich weiterleben.« Aber nun hatten wir eine Verwendung fur Elpis, und ihr Tod konnte einen weit nutzlicheren Zweck erfullen, als ein paar zahe Steaks zu liefern.

Zwei Tage nach Lesters Besuch legten mein Sohn und ich ihr ein Halfter an und fuhrten sie um den Stall herum. Auf halbem Weg zum Brunnen blieb Henry stehen. Seine Augen glitzerten vor Verzweiflung. »Papa! Ich rieche sie!«

»Lauf ins Haus, und hol dir ein paar Wattebausche fur die Nase. Sie sind auf ihrer Kommode.«

Obwohl er den Kopf gesenkt hielt, sah ich seinen raschen Blick aus den Augenwinkeln heraus, bevor er wegtrabte. Das ist alles deine Schuld, besagte dieser Blick. Alles deine Schuld, weil du nicht loslassen konntest.

Trotzdem bezweifelte ich nicht, dass er mir bei der vor uns liegenden Arbeit helfen wurde. Unabhangig davon, was er von mir dachte, war jetzt auch sein Madchen involviert, und er wollte nicht, dass Shan erfuhr, was er gemacht hatte. Zwar war ich es, der ihn dazu gezwungen hatte, aber das wurde sie niemals verstehen.

Wir fuhrten Elpis zu dem Holzdeckel, vor dem sie begreiflicherweise zuruckscheute. Also gingen wir auf die andere Seite hinuber, spannten die Zaumriemen wie Bander beim Maibaumtanz und zerrten sie mit Gewalt auf das morsche Holz. Der Deckel knackte unter ihrem Gewicht … bog sich durch … hielt aber. Die alte Kuh stand mit hangendem

»Was jetzt?«, fragte Henry.

Just als ich sagen wollte, das wisse ich auch nicht, zerbrach der Holzdeckel mit einem lauten, sproden Knall in zwei Teile. Wir lie?en die Halfterriemen nicht los, obwohl ich einen Augenblick lang glaubte, wir wurden mit ausgerenkten Armen in diesen verdammten Brunnen gezogen werden. Dann loste der Zaum sich und kam nach oben geschnellt. Er war auf beiden Seiten gerissen. Unten begann Elpis vor Schmerzen zu muhen und mit den Hufen an die gemauerte Brunnenwand zu trommeln.

»Papa!«, kreischte Henry. Er hatte die Fauste so fest gegen den Mund gepresst, dass sich die Fingerknochel in die Oberlippe gruben. »Mach, dass sie aufhort!«

Elpis stie? ein lange nachhallendes Stohnen aus und trommelte weiter mit den Hufen gegen den Stein.

Ich packte Henry am Arm und zerrte den Stolpernden ins Haus zuruck. Dort stie? ich ihn auf Arlettes Versandhaussofa und wies ihn an, sich nicht von der Stelle zu ruhren, bis ich ihn holen kame. »Und denk daran, dass die ganze Sache fast vorbei ist.«

»Die ist nie vorbei«, sagte er und walzte sich auf dem Sofa auf den Bauch. Er hielt sich mit beiden Handen die Ohren zu, obwohl Elpis hier drinnen nicht zu horen war. Sicherlich horte Henry sie dennoch weiter, ich tat das namlich immer noch.

Ich holte mein Gewehr zur Schadlingsbekampfung von der Anrichte. Es war nur ein Kaliber.22, aber es wurde genugen. Und wenn Harlan Schusse horte, die uber die Felder zwischen seiner Farm und meiner hallten? Auch die wurden zu unserer Geschichte passen. Das hei?t, wenn Henry sich lange genug zusammenrei?en konnte, um sie zu erzahlen.

Nun etwas, was ich aus dem Jahr 1922 gelernt habe: Es erwarten uns stets schlimmere Dinge. Man glaubt, das Allerschlimmste gesehen zu haben: diese eine Sache, die alle Albtraume, die man je gehabt hat, zu einem grotesken Horror vereinigt, der tatsachlich existiert, und der einzige Trost ist, dass es nichts Schlimmeres geben kann. Auch wenn es etwas gabe, wurde man bei seinem Anblick uberschnappen und nichts mehr davon wahrnehmen. Aber es gibt Schlimmeres, und trotzdem schnappt man nicht uber und macht irgendwie weiter. Man begreift vielleicht, dass es fur einen auf dieser Welt nie wieder Freude geben wird, dass durch die eigene Tat alles, was man zu gewinnen hoffte, unerreichbar geworden ist, und wunscht sich vielleicht, man ware selbst tot - aber man macht weiter. Man erkennt, dass man in einer selbst geschaffenen Holle ist, aber man macht trotzdem weiter. Weil einem nichts anderes ubrigbleibt.

Elpis war auf die Leiche meiner Frau gesturzt, aber Arlettes grinsendes Gesicht war weiter ganz deutlich zu sehen, war weiter der sonnenhellen Welt zugekehrt, schien mich weiter anzusehen. Und die Ratten waren zuruckgekommen. Die in ihre Welt sturzende Kuh hatte sie zweifellos in das Rohr zuruckgetrieben, das ich spater fur mich Rattenboulevard nennen wurde, aber dann hatten sie frisches Fleisch gewittert und waren eilig zur Erkundung herausgekommen. Sie nagten bereits an der armen alten Elpis, wahrend sie noch muhte und ausschlug (nun schon schwacher), und eine sa? auf dem Kopf meiner toten Frau wie eine schaurige Krone. Mit ihren geschickten Pfoten hatte sie ein Loch in den Rupfensack gerissen und ein Haarbuschel herausgezupft. Arlettes Wangen, einst so voll und hubsch, hingen in Fetzen herab.

Nichts kann schlimmer sein als das hier, dachte ich. Damit muss ich am Ende aller Schrecken angelangt sein.

Aber uns erwarten eben stets noch schlimmere Dinge. Wahrend ich von Entsetzen und Abscheu gelahmt in den Brunnen starrte, schlug Elpis wieder aus und traf mit einem ihrer Hufe die Uberreste von Arlettes Gesicht. Der Unterkiefer meiner Frau brach mit einem lauten Knacken, und alles unterhalb der Nase wurde wie an einem Scharnier hangend nach links verschoben. Trotzdem blieb ihr Grinsen von einem Ohr zum anderen erhalten. Die Tatsache, dass es nicht mehr zur Augenpartie passte, machte alles noch schlimmer. Statt nur einem Gesicht, das mich verfolgen konnte, schien sie jetzt zwei zu haben. Ihr Korper sank gegen die Matratze, die dadurch seitlich wegrutschte. Die Ratte auf ihrem Kopf flitzte dahinter. Elpis muhte nochmals. Wenn Henry jetzt zuruckkame und in den Brunnen sahe, stellte ich mir vor, wurde er mich umbringen, weil ich ihn in diese Sache hineingezogen hatte. Ich hatte vermutlich den Tod verdient. Aber dann ware er allein zuruckgeblieben, und allein ware er wehrlos gewesen.

Ein Teil des Holzdeckels war in den Brunnen gefallen; der Rest hing noch herab. Ich lud das Gewehr, legte es auf diese Schrage und zielte auf Elpis, die mit gebrochenen Halswirbeln und an die Brunnenwand gedrucktem Schadel dalag. Ich wartete, bis meine Hande nicht mehr zitterten, dann druckte ich ab.

Ein Schuss genugte.

Als ich ins Haus zuruckkam, fand ich Henry auf dem Sofa eingeschlafen vor. Ich stand selbst zu sehr unter Schock, um das eigenartig zu finden. In diesem Augenblick erschien er mir als der einzige wahre Lichtblick auf dieser Welt: beschmutzt, aber nicht so schmutzig, dass er nie wieder sauber werden konnte. Ich beugte mich uber ihn und kusste ihn auf die Wange. Er stohnte auf und drehte den Kopf weg. Ich lie? ihn dort liegen und ging in die Scheune hinaus,

»Ich helfe dir«, sagte er ausdruckslos.

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