»Nicht wenn Mr. James jetzt geht«, sagte er. »Begleiten Sie ihn bitte hinaus, Kevin?«

Kevin kam herein, und als ich nicht gleich aufstand, packte er mich am linken Arm dicht uber dem Ellbogen. Er war wie ein Bankier gekleidet - bis hin zu Fliege und Hosentragern -, aber er hatte Farmerhande, hart und schwielig. Mein noch heilender Stumpf pochte warnend.

»Kommen Sie, wir gehen, Sir«, sagte er.

»Nicht so zerren«, sagte ich. »Meine fehlende Hand tut noch immer weh.«

»Dann kommen Sie bitte mit.«

»Ich bin mit deinem Vater zur Schule gegangen. Er hat neben mir gesessen und in der Fruhlingstestwoche von mir abgeschrieben.«

Er zog mich von dem Stuhl hoch, auf dem ich einst als Wilf angesprochen worden war. Der gute alte Wilf, der ein Trottel ware, wenn er keine Hypothek aufnehmen wurde. Der Stuhl ware fast umgefallen.

»Gutes neues Jahr, Mr. James«, sagte Stoppenhauser.

»Und Ihnen auch, Sie betrugerisches Arschloch«, antwortete ich. Sein schockierter Gesichtsausdruck konnte das letzte Gute gewesen sein, das mir in meinem Leben widerfahren ist. Ich sitze seit einigen Minuten hier, kaue auf meinem Fuller herum und versuche, mich an etwas anderes zu erinnern - ein gutes Buch, eine gute Mahlzeit, einen angenehmen Nachmittag im Park -, aber mir fallt nichts ein.

Kevin Rohrbacher begleitete mich durch die Schalterhalle. Das durfte der richtige Ausdruck sein; er schleppte mich nicht ganz mit sich. Der Fu?boden war aus Marmor, auf dem unsere Schritte hallten. Die Wande waren mit dunkler Eiche getafelt. An den hohen Kassenschaltern bedienten zwei Frauen die letzten Kunden des Jahres. Eine der Kassiererinnen war jung, die andere war alt, aber ihr Gesichtsausdruck mit weit aufgerissenen Augen war identisch. Trotzdem war es nicht ihre angstvolle, fast lusterne Neugier, die meine Aufmerksamkeit fesselte, sondern etwas ganz anderes. Oberhalb der Kassenschalter verlief ein handbreiter genoppter Eichenbalken, uber den geschaftig …

»Vorsicht, Ratte!«, rief ich und zeigte auf sie.

Die jungere Kassiererin stie? einen kleinen Schrei aus, sah nach oben und wechselte dann einen Blick mit ihrer alteren Kollegin. Es gab keine Ratte, nur den fluchtigen Schatten eines Deckenventilators. Und jetzt sahen alle mich an.

»Gafft, so viel ihr wollt!«, forderte ich sie auf. »Nach Herzenslust! Starrt, bis euch die gottverdammten Augen rausfallen!«

Dann war ich auf der Stra?e und atmete sto?weise kalte Winterluft aus, die wie Zigarettenrauch aussah. »Kommen Sie nur in Geschaftsangelegenheiten wieder«, sagte Kevin. »Und nur, wenn Sie hoflich bleiben.«

»Dein Vater war der gottverdammt gro?te Abschreiber, mit dem ich je in der Schule war«, erklarte ich ihm. Ich wollte, dass er mich schlug, aber er ging nur wieder hinein und lie? mich vor meinem klapprigen alten Lastwagen auf dem Gehsteig stehen. Und so verbrachte Wilfred Leland James seinen Stadtbesuch am letzten Tag des Jahres 1922.

Als ich heimkam, war Achelois nicht mehr im Haus. Sie war auf dem Hof, lag auf der Seite und stie? selbst wei?e Dampfwolken aus. Ich konnte die Spuren im Schnee sehen, wo sie von der Veranda galoppiert war, und die gro?eren, wo sie unglucklich aufgekommen war und sich beide Vorderbeine gebrochen hatte. In meiner Nahe konnte anscheinend nicht einmal eine unschuldige Kuh uberleben.

Ich ging in den Vorraum fur Gummistiefel und Arbeitskleidung, um mein Gewehr zu holen, und dann ins Haus, weil ich sehen wollte - falls moglich -, was sie so erschreckt hatte, dass sie ihre neue Unterkunft in gestrecktem Galopp verlassen hatte. Es waren naturlich Ratten. Drei von ihnen sa?en auf Arlettes kostbarer Anrichte und betrachteten mich mit ihren ernsten schwarzen Augen.

»Lauft zuruck, und sagt ihr, dass sie mich in Ruhe lassen soll«, forderte ich sie auf. »Sagt ihr, dass sie genug angerichtet hat. Sagt ihr um Himmels willen, dass sie mich in Ruhe lassen.«

Sie sa?en nur mit um ihre rundlichen grau-schwarzen Korper geringelten Schwanzen da und sahen mich an. Also hob ich mein Gewehr Kaliber.22 und knallte die mittlere ab. Die Kugel zerfetzte sie und klatschte ihre Uberreste an die Tapete, die Arlette vor 9 oder 10 Jahren mit solcher Liebe

Die beiden anderen fluchteten. Bestimmt zu ihrem geheimen Durchschlupf in den Untergrund. Zuruck zu ihrer verwesenden Konigin. Was sie auf Arlettes Anrichte zurucklie?en, waren kleine Haufchen Rattenkot und drei oder vier Fetzen jenes Rupfensacks, den Henry an jenem Fruhsommerabend des Jahres 1922 aus der Scheune geholt hatte. Die Ratten waren gekommen, um meine letzte Kuh in den Tod zu treiben und mir Fetzen von Arlettes Haarnetz zu bringen.

Ich ging hinaus und tatschelte Achelois am Kopf. Sie machte einen langen Hals und muhte klagend. Mach, dass es au fhort. Du bist mein Herr, du bist der Gott meiner Welt, also mach, dass es au fhort.

Das tat ich.

Gutes neues Jahr.

Das war das Ende des Jahres 1922, und dies ist das Ende meiner Geschichte; der gesamte Rest ist ein Nachspiel. Die in diesem Raum versammelten Abgesandten - wie der Direktor dieses schonen alten Hotels aufschreien wurde, wenn er sie sahe! - werden nicht mehr lange warten, bis sie ihr Urteil fallen. Arlette ist die Richterin, sie sind die Geschworenen, aber ich werde mein eigener Scharfrichter sein. Ich habe eine Pistole, die diese Sache glatt zu Ende bringen wird. Eine Kugel ins Hirn hat Achelois von ihren Qualen erlost und Henry von seinen; eine weitere wird meine beenden.

Die Farm verlor ich naturlich. Niemand, auch nicht die Farrington Company, wollte diese 40 Hektar kaufen, bevor meine Heimstatt an die Bank gefallen war, und als die Schweinemetzger endlich zugriffen, musste ich zu einem absurd niedrigen Preis verkaufen. Lesters Plan ging prachtig

Nun ja; ich hatte meinen kleinen Bruckenkopf in der Hemingford County auch dann verloren, wenn ich auf finanzielle Reserven hatte zuruckgreifen konnen, und darin liegt eine perverse Art Trost. Die Wirtschaftskrise, in der wir stecken, soll vergangenes Jahr am Schwarzen Freitag begonnen haben, aber die Menschen drau?en im Mittleren Westen - in Staaten wie Kansas, Iowa und Nebraska - wissen, dass sie 1923 begann, als die Feldfruchte, die die schrecklichen Fruhjahrssturme jenes Jahres uberstanden, durch die folgende Durre vernichtet wurden - eine Durre, die 2 Jahre lang anhielt. Die wenigen Erzeugnisse, die auf gro?stadtische Markte und in kleinstadtische Produktenborsen gelangten, erzielten jammerliche Preise. Harlan Cotterie hielt bis 1925 durch, dann ubernahm die Bank auch seine Farm. Auf diese Meldung stie? ich zufallig, als ich die im World-Herald angekundigten Zwangsversteigerungen studierte. Im Jahr 1925 fullten solche Ankundigungen manchmal ganze Zeitungsseiten. Die kleinen Farmen verschwanden, und ich glaube, dass es in hundert Jahren - vielleicht schon in 75 - keine mehr geben wird. Im Jahr 2030 (wenn es uberhaupt kommt) wird ganz Nebraska westlich von Omaha eine einzige riesige Farm sein. Sie wird wahrscheinlich der Farrington Company gehoren, und wer das Pech hat, dort leben zu mussen, wird seine Tage unter einem schmutzig gelben Himmel verbringen und eine Gasmaske tragen, um nicht am Gestank toter Schweine zu ersticken. Und alle Bache werden vom Blut geschlachteter Tiere rot sein.

Im Jahr 2030 werden nur die Ratten glucklich sein.

Das sind Cent statt Dollar, hatte Harlan an dem Tag gesagt, an dem ich ihm Arlettes Land zum Kauf angeboten hatte, und an Cole Farrington musste ich es zuletzt noch

Unterdessen haben die Ratten angefangen, von den Fu?bodenleisten dieses Zimmers aus vorzurucken. Aus dem ursprunglichen Quadrat ist ein Kreis geworden, der mich eng einschlie?t. Sie wissen, dass dies nur das Nachspiel ist, und was nach einer unwiderruflichen Tat kommt, ist nicht weiter wichtig. Trotzdem werde ich dies zu Ende schreiben. Und sie sollen mich nicht lebend bekommen; der letzte kleine Sieg wird mein sein. Meine alte braune Jacke hangt uber der Lehne des Stuhls, auf dem ich sitze. Die Pistole steckt in einer der Taschen. Sobald ich die letzten Seiten dieses Gestandnisses geschrieben habe, werde ich sie benutzen. Morder und Selbstmorder kommen in die Holle, hei?t es. Wenn das stimmt, werde ich mich dort auskennen, denn ich habe bereits die letzten acht Jahre dort zugebracht.

Ich zog nach Omaha, und wenn es eine Stadt der Narren ist, wie ich immer behauptet habe, war ich anfangs ein Musterburger. Ich machte mich daran, Arlettes 40 Hektar zu vertrinken, wofur ich selbst bei Cent statt Dollar 2 Jahre brauchte. Wenn ich nicht trank, besuchte ich die Orte, an denen Henry in den letzten Monaten seines Lebens gewesen war: das Lebensmittelgeschaft mit Tankstelle in Lyme

»Als ich ihm das Geld gegeben habe, hat er sich bedankt«, erzahlte sie mir. »Er mag auf die schiefe Bahn geraten sein, aber irgendjemand hat ihn richtig erzogen. Haben Sie ihn gekannt?«

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