Die Leiche von Wilfried Leland James, einem Bibliothekar der offentlichen Stadtbucherei Omaha, wurde am Sonntag in einem hiesigen Hotel aufgefunden, nachdem das Personal erfolglos versucht hatte, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Der Gast in einem benachbarten Zimmer hatte uber einen Geruch wie von »verfaultem Fleisch« geklagt, und ein Zimmermadchen hatte gemeldet, es habe am spaten Freitagmittag »gedampftes Schreien oder Weinen wie von einem Mann, der starke Schmerzen leidet«, gehort.

Als nach mehrmaligem Klopfen keine Antwort kam, benutzte der Chef des Sicherheitsdiensts des Hotels seinen Generalschlussel und entdeckte den am Schreibtisch in seinem Zimmer zusammengesackten Mr. James. »Ich habe eine Pistole gesehen und angenommen, er habe sich erschossen«, sagte der Sicherheitsmann, »aber niemand hatte einen Schuss gemeldet, und es roch nicht nach Pulverdampf. Als ich die Waffe uberpruft habe, hat sie sich als kaum funktionsfahige Kaliber.25 erwiesen, die noch dazu ungeladen war.

Inzwischen war mir naturlich das viele Blut aufgefallen. Ich hatte nie etwas Vergleichbares gesehen und mochte es nicht noch mal sehen. Er hatte sich uberall gebissen - in Arme, Beine, Knochel, sogar in die Zehen. Und das war noch nicht alles. Er war offenbar damit beschaftigt gewesen, irgendetwas niederzuschreiben, aber dann hat er auch das Papier zerkaut. Es war uber den ganzen Fu?boden verteilt. Es hat wie Papier ausgesehen, das Ratten zerkauen, um damit ihre Nester auszupolstern. Zuletzt hat er sich die Pulsadern aufgebissen. Ich glaube, dass er daran verblutet ist. Jedenfalls kann er nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen sein.«

Uber Mr. James ist zum gegenwartigen Zeitpunkt nur wenig bekannt. Ronald Quarles, Leiter der offentlichen Stadtbucherei Omaha, hat Mr. James Ende 1926 eingestellt. »Er war offenbar vom Pech verfolgt und durch den Verlust einer Hand behindert, aber er besa? ein gutes Bucherwissen und hatte erstklassige Referenzen«, sagte Quarles. »Er war kollegial, aber distanziert. Meines Wissens hat er in einer Fabrik gearbeitet, bevor er sich bei uns beworben hat, und er hat Leuten erzahlt, bevor er die Hand verloren habe, habe ihm eine kleine Farm in der Hemingford County gehort.«

Der World-Herald nimmt Anteil am Schicksal des unglucklichen Mr. James und bittet um Informationen von Lesern, die ihn vielleicht gekannt haben. Bis die Angehorigen nahere Anordnungen treffen, liegt der Tote im Leichenhaus der Omaha County. »Sollten sich keine Angehorigen melden«, sagte Dr. Tattersall, arztlicher Direktor des Leichenhauses, »durfte er wohl in einem Gemeindegrab beigesetzt werden.«

Aus dem Omaha World-Herald, 14. April 1930

BIG DRIVER

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Tess akzeptierte jahrlich zwolf Vortrage gegen Honorar, wenn sie sie bekommen konnte. Bei zwolfhundert Dollar pro Auftritt kamen so uber vierzehntausend Dollar zusammen. Das war ihr Pensionsfonds. Auch nach zehn Buchern war sie mit dem Strickclub Willow Grove durchaus noch zufrieden, aber sie bildete sich nicht etwa ein, uber ihn schreiben zu konnen, bis sie in den Siebzigern war. Was wurde sie auf dem Boden des Fasses finden, wenn sie das tat? Der Strickclub Willow Grove fahrt nach Terre Haute oder Der Strickclub Willow Grove besucht die Internationale Raumstation? Nein. Nicht mal wenn die Literaturzirkel fur Frauen, die ihre Hauptstutze waren, sie lasen (was sie vermutlich tun wurden). Nein.

Also war sie ein braves kleines Eichhornchen, das vom Ertrag seiner Bucher gut lebte … aber auch Bucheckern fur den Winter sammelte. Im vergangenen Jahrzehnt hatte sie jedes Jahr zwischen zwolf- und sechzehntausend Dollar in ihren Geldmarktfonds eingezahlt. Wegen der Kursschwankungen an der Borse war die Gesamtsumme nicht so hoch, wie sie sich gewunscht hatte, aber sie sagte sich, wenn sie weiterschuftete, werde sie vermutlich zurechtkommen; sie war die kleine Lokomotive, die es schaffen konnte. Und sie trat mindestens dreimal im Jahr gratis auf, um ihr Gewissen zu beschwichtigen. Diese oft lastige innere Stimme hatte ihr nicht zusetzen durfen, nur weil sie fur ehrliche Arbeit ehrliches Geld nahm, aber das tat sie manchmal. Wahrscheinlich

Au?er einem Mindesthonorar von zwolfhundert Dollar musste eine weitere Bedingung erfullt sein: Sie musste den Ort der Lesung mit dem Auto erreichen konnen, ohne auf der Hin- und Ruckfahrt mehr als einmal ubernachten zu mussen. Das bedeutete, dass sie selten sudlicher als Richmond oder westlicher als Cleveland auftrat. Eine Nacht in einem Motel war ermudend, aber hinnehmbar; nach zweien war sie eine Woche lang zu nichts zu gebrauchen. Und Fritzy, ihr Kater, hasste es, allein zu Hause zu sein. Das machte er ihr klar, indem er sich auf der Treppe zwischen ihre Fu?e schlangelte und auf ihrem Scho? sitzend haufig wahllos seine Krallen gebrauchte, wenn sie wieder heimkam. Und obwohl Patsy McClain von nebenan ihn bereitwillig futterte, fra? er nie viel, bis Tess wieder zu Hause war.

Es lag nicht daran, dass sie Flugangst hatte oder es ihr widerstrebte, den Organisationen, die sie engagierten, ihre Reisekosten in Rechnung zu stellen, genau wie sie ihnen ihre Motelzimmer berechnete (stets nett, nie elegant). Sie hasste nur alles: das Gedrange, die Demutigung, ihre Schuhe ausziehen und die Taschen ausleeren zu mussen, die Art, wie die Airlines heute fur alles kassierten, was fruher umsonst gewesen war, die Verspatungen … und die unentrinnbare Tatsache, dass man anderen ausgeliefert war. Sobald man die endlosen Sicherheitskontrollen passiert hatte und an Bord gehen durfte, musste man seinen kostbarsten Besitz - sein Leben - in die Hande fremder Leute legen.

Naturlich traf das auch auf die Turnpikes und Interstates zu, die sie fast ausschlie?lich benutzte: Ein Betrunkener konnte ins Schleudern geraten, uber die Mittelleitplanke fliegen und ihr Leben durch einen Frontalzusammensto? beenden (wahrend er uberleben wurde; das taten die Betrunkenen Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Und sie fuhr gern Auto. Das war beruhigend. Ihre besten Ideen hatte sie, wenn sie mit Tempomat und ausgeschaltetem Radio fuhr.

»Ich wette, du warst in deiner letzten Inkarnation ein Fernfahrer«, hatte Patsy McClain einmal gesagt.

Tess gefiel die Vorstellung von einem Leben, in dem sie keine zierliche Frau mit elfenhaftem Gesicht und schuchternem Lacheln war, die harmlose Kriminalromane schrieb, sondern ein gro?er Kerl mit breitkrempigem Hut, der ein sonnenverbranntes Gesicht mit grauem Dreitagebart beschattete, wahrend er einer Bulldogge als Kuhlerfigur uber die eine Million Stra?en folgte, die das Land kreuz und quer durchzogen. In jenem Leben war es nicht notig, ihre Kleidung vor offentlichen Auftritten sorgfaltig aufeinander abzustimmen; verblichene Jeans und Stiefel mit Seitenschnallen wurden genugen. Sie schrieb gern und hatte nichts dagegen, offentlich zu sprechen, aber am liebsten fuhr sie Auto. Nach ihrem Auftritt in Chicopee kam ihr das komisch vor … aber nicht auf eine Weise komisch, uber die man lachen musste. Nein, uberhaupt nicht auf diese Weise komisch.

2

Die Einladung von Books & Brown Baggers entsprach ihren Anforderungen perfekt. Chicopee war kaum sechzig Meilen von Stoke Village entfernt, der Vortrag wurde tagsuber stattfinden, und die Drei Bs boten als Honorar nicht nur zwolfhundert, sondern funfzehnhundert Dollar. Naturlich plus Spesen, aber die wurden minimal sein - nicht einmal eine Ubernachtung in einem Courtyard Suites oder

»Ich wei?, dass diese Anfrage sehr kurzfristig kommt«, schrieb Ms. Norville in ihrem schmeichlerischen letzten Absatz, »aber in Wikipedia sehe ich, dass Sie im benachbarten Connecticut wohnen, und unsere Leser in Chicopee sind solche Fans der Strickclub-Madels. Unsere ewige Dankbarkeit sowie das oben erwahnte Honorar waren Ihnen sicher.«

Tess bezweifelte, dass die Dankbarkeit ewig sein wurde, und hatte im Oktober schon einen Termin angenommen (die Literary Calvalcade Week in den Hamptons), aber die I-84 wurde sie zur I-90 bringen, und von der 90 ging es geradeaus nach Chicopee weiter. Muhelos hin, muhelos zuruck; Fritzy wurde kaum merken, dass sie fort gewesen war.

Ramona Norville hatte naturlich ihre Mailadresse angegeben, und Tess antwortete sofort und akzeptierte den Termin und das Honorar. Sie prazisierte auch - wie es ihre Gewohnheit war -, dass sie nicht langer als eine Stunde Bucher signieren wurde. »Ich habe einen Kater, der mich tyrannisiert, wenn ich nicht zu Hause bin, um ihn abends personlich zu futtern«, schrieb sie. Au?erdem bat sie um nahere Einzelheiten, obwohl sie weitgehend wusste, was von ihr erwartet wurde; sie hatte Erfahrung mit solchen Veranstaltungen, seit sie drei?ig geworden

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