»Nein«, sagte ich, »aber ich habe seine Familie gekannt.«

Naturlich besuchte ich auch das Madchenheim St. Eusebia, machte aber keinen Versuch, hineinzugehen und bei der Gouvernante oder Hausmutter oder wie ihr Titel sonst lauten mochte, nach Shannon Cotterie zu fragen. Das Heim war ein absto?end kalter Klotz; die dicken Mauern und die Schie?schartenfenster druckten exakt aus, was die papistische Hierarchie in ihrem Innersten von Frauen zu halten schien. Der Anblick der wenigen schwangeren Madchen, die mit niedergeschlagenen Augen und hochgezogenen Schultern herausgeschlichen kamen, sagte mir alles, was ich daruber wissen musste, weshalb Shan diese Einrichtung so bereitwillig verlassen hatte.

Seltsamerweise fuhlte ich mich meinem Sohn in einer der Gassen am nachsten. Es war die neben dem Drug Store & Soda Fountain (Unsere Spezialitat: Bonbons von Schrafft & beste Karamellen aus eigener Herstellung) in der Gallatin Street, zwei Stra?en vom St. Eusebia entfernt. Dort stand eine Holzkiste, vermutlich zu neu, um die zu sein, auf der Henry gesessen und auf ein Madchen gewartet hatte, das abenteuerlustig genug war, um fur Zigaretten Informationen zu liefern, aber ich konnte so tun, als ware sie es, und Wenn hier ein junger Mann aufkreuzt, der sich Hank nennt und nach Shan Cotterie fragt, sagen Sie ihm, dass er verschwinden soll. Dass er den Blodsinn lassen soll. Sagen Sie ihm, dass sein Vater ihn zu Hause au f der Farm braucht, die sie in gemeinsamer Anstrengung vielleicht retten konnen.

Aber dieses Madchen war fur mich unerreichbar. Die einzige Victoria, die ich kennenlernte, war die spatere Version, die mit drei hubschen Kindern und dem ehrbaren Namen Mrs. Hallett. Ich trank inzwischen nicht mehr, hatte einen Job in der Textilfabrik Bilt-Rite Clothing und war wieder mit dem Gebrauch von Rasierklingen und Rasierseife vertraut. Wegen dieser Fassade der Wohlanstandigkeit empfing sie mich durchaus bereitwillig. Wer ich war, sagte ich ihr nur - will ich doch bis zuletzt ehrlich sein -, weil ich mit Lugen nicht durchgekommen ware. Dass ihre Augen sich leicht weiteten, zeigte mir, dass sie die Ahnlichkeit bemerkt hatte.

»Mensch, er war wirklich su?«, sagte sie. »Und so verruckt verliebt. Shan tut mir auch leid. Sie war ein wundervolles Madchen. Das Ganze ist wie eine Tragodie von Shakespeare, nicht wahr?«

Nur sagte sie Trad-o-gie, und danach ging ich nicht wieder in die von der Gallatin Street abzweigende Gasse, weil der Mord an Arlette selbst das Bemuhen um Freundlichkeit dieser unschuldigen jungen Mutter aus Omaha vergiftet hatte. Sie dachte, der Tod von Henry und Shannon sei wie eine Trad-o-gie von Shakespeare. Sie hielt es fur romantisch. Hatte sie das auch gedacht, frage ich mich, wenn sie gehort

In meinen Jahren in der auch als Stadt der Narren bekannten Gateway City hatte ich zwei Jobs. Naturlich hatte ich zwei Jobs, werden Sie sagen; sonst hatte ich auf der Stra?e gelebt. Aber ehrlichere Manner als ich haben weitergetrunken, obwohl sie damit aufhoren wollten, und anstandigere Manner als ich haben zuletzt in Hauseingangen geschlafen. Ich konnte vermutlich sagen, dass ich nach meinen verlorenen Jahren einen weiteren Versuch unternahm, ein reales Leben zu fuhren. Es gab Zeiten, in denen ich das tatsachlich glaubte, aber wenn ich nachts im Bett lag (und auf die in den Wanden umherflitzenden Ratten horchte, die meine standigen Begleiter waren), wusste ich stets die Wahrheit: Ich versuchte noch immer zu siegen. Selbst nach Henrys und Shannons Tod, selbst nach dem Verlust der Farm versuchte ich, die Tote im Brunnen zu schlagen. Sie und ihre Lakaien.

John Hanrahan war der Lagerverwalter bei Bilt-Rite. Er wollte keinen Mann mit nur einer Hand einstellen, aber ich bat ihn, es mit mir zu versuchen, und als ich ihm bewies, dass ich eine mit Hemden oder Arbeitshosen beladene volle Palette so gut wie jeder Mann auf seiner Lohnliste ziehen konnte, stellte er mich ein. Ich zog diese Paletten 14 Monate lang und humpelte oft mit brennendem Rucken und Armstumpf in die Pension zuruck, in der ich wohnte. Aber ich beklagte mich nie und fand sogar die Zeit, nahen zu lernen. Das tat ich in meiner Mittagsstunde (die in Wirklichkeit 15 Minuten dauerte) und in der Nachmittagspause. Wahrend die anderen Manner drau?en in der Ladebucht standen, rauchten und schmutzige Witze erzahlten, brachte ich mir selbst bei, Saume zu nahen - erst an Rupfensacken

Nahen brachte mehr als Lagerarbeit und war fur meinen Rucken besser, aber der Nahsaal war duster und hohlenartig, und nach etwa 4 Monaten fing ich an, Ratten auf den Bergen frisch gefarbter Baumwollhosen und in den Schatten unter den Handwagen zu sehen, auf denen Zuschnitte gebracht und fertige Kleidungsstucke weggefahren wurden.

Bei verschiedenen Gelegenheiten machte ich meine Arbeitskollegen auf diese Schadlinge aufmerksam. Sie behaupteten, sie nicht zu sehen. Vielleicht sahen sie sie wirklich nicht. Aber viel eher befurchteten sie, der Nahsaal konnte vorubergehend geschlossen werden, damit Kammerjager kommen und ihre Arbeit tun konnten. Die Naher und Naherinnen hatten drei Tageslohne oder sogar einen Wochenlohn verlieren konnen. Fur Manner und Frauen mit Familien ware das eine Katastrophe gewesen. Fur sie war es einfacher, Mr. Hanrahan zu erzahlen, ich sahe Gespenster. Das verstand ich. Und als sie anfingen, mich Crazy Wilf zu nennen? Auch das verstand ich. Ich kundigte nicht deshalb.

Ich kundigte, weil die Ratten immer naher heranruckten.

Ich hatte etwas Geld zuruckgelegt, von dem ich leben wollte, wahrend ich anderswo Arbeit suchte, aber das war nicht notig. Nur drei Tage nach meinem Ausscheiden bei Bilt-Rite sah ich in der Zeitung eine Stellenanzeige, mit der die offentliche Stadtbucherei von Omaha einen Bibliothekar

Wegen der Ratten, wissen Sie. Sie haben mich auch dort aufgespurt. Ich begann, sie im Binderaum auf Stapeln alter Bucher hocken oder uber die hochsten Facher der Wandregale flitzen zu sehen. Als ich letzte Woche im Leseraum fur eine altliche Benutzerin einen Band der Encyclop?dia Britannica herauszog (den Band Ra-St, der zweifellos einen Eintrag zu Rattus norvegicus enthalt, von Schlachtho f ganz zu schweigen), starrte mich aus der Lucke ein hungriges grau-schwarzes Gesicht an. Das war die Ratte, die Achelois eine Zitze abgebissen hatte. Ich wei? nicht, wie das sein konnte - ich war mir sicher, sie zerstampft zu haben -, aber an ihrer Identitat bestand kein Zweifel. Ich erkannte sie wieder. Wie denn auch nicht? An ihren Schnurrbarthaaren hing ein Fetzen Rupfen, ein blutgetrankter kleiner Fetzen.

Haarnetz!

Den Lexikonband brachte ich der alten Dame, die um ihn gebeten hatte (sie trug eine Hermelinstola, deren schwarze

Eben hat mich eine von ihnen in den Knochel gezwickt. Als wollte sie sagen: Mach schon, deine Zeit ist fast abgelaufen. An meiner Socke ist ein kleiner Blutfleck zu sehen. Er stort mich nicht, nicht im Geringsten. Ich habe in meiner Zeit mehr Blut gesehen; im Jahr 1922 war ein ganzes Zimmer voll davon.

Und jetzt glaube ich zu horen … ist das nur meine Einbildung?

Nein.

Jemand ist zu Besuch gekommen.

Ich habe das Rohr verstopft, aber die Ratten sind trotzdem entkommen. Ich habe den Brunnen zugeschuttet, aber auch sie hat einen Weg nach drau?en gefunden. Und diesmal glaube ich nicht, dass sie allein sein wird. Ich glaube, ich hore zwei Paar Fu?e schlurfen, nicht nur eines. Oder …

Drei? Sind es drei? Ist auch das Madchen, das in einer besseren Welt meine Schwiegertochter geworden ware, mit dabei?

Ich glaube schon. Drei Leichname, die den Flur entlangschlurfen, ihre Gesichter (was davon ubrig ist) durch Rattenbisse entstellt. Arlette au?erdem mit verschobener unterer Gesichtshalfte … durch den Tritt einer verendenden Kuh.

Ein weiterer Biss in den Knochel.

Und noch einer!

Wie die Direktion sich …

Aua! Wieder einer. Aber sie sollen mich nicht bekommen. Auch meine Besucher nicht, obwohl ich sehen kann,

geschlacht

Die Pistole

Gott, wo ist die

aufhoren

O SIE SOLLEN AUHOREN, MICH ZU BEI

BIBLIOTHEKAR VERUBT SELBSTMORD IN HIESIGEM HOTEL

Bizarre Szene empfangt Sicherheitsmann

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