»Ja, Tom ist sehr clever.«
Ms. Norville lachelte. »Dann geben Sie Stagg Road und U S 47 ein. Die Stagg Road wird heutzutage kaum mehr befahren - ist seit dieser verdammten 84 fast vergessen -, hat aber landschaftlich ihren Reiz. Sie bummeln darauf … oh, ungefahr sechzehn Meilen weit. Geflickter Asphalt, aber nicht allzu holperig, jedenfalls nicht beim letzten Mal, als ich sie gefahren bin, und das war im Fruhjahr, wenn die Frostaufbruche am schlimmsten sind. Zumindest ist das meine Erfahrung.«
»Meine auch«, sagte Tess.
»Wenn Sie die 47 erreichen, sehen Sie einen Wegweiser zur I-84, aber Sie brauchen nur ungefahr zwolf Meilen weit auf der Interstate zu bleiben, das ist das Schone daran. Und Sie sparen Tonnen von Zeit und Nerven.«
»Auch das ist das Schone daran«, sagte Tess, und sie lachten beim Kaffee: zwei gleichgesinnte Frauen, uber denen der lachelnde Richard Widmark wachte. Der verlassene Laden mit den abgebauten Zapfsaulen und dem tickenden Schild war noch neunzig Minuten entfernt, in der Zukunft versteckt wie eine Schlange in ihrem Loch. Und naturlich der Durchlass unter der Stra?e.
5
Tess hatte nicht nur ein Navi; sie hatte einen Aufpreis fur ein individuell angepasstes gezahlt. Sie hatte Spielsachen gern. Nachdem sie die Kreuzung eingegeben hatte (wobei Ramona Norville sich mit uber das Display beugte und den Vorgang mit mannlichem Interesse beobachtete), dachte das Gerat kurz nach, dann sagte es: »Tess, ich berechne deine Route.«
»He, hort euch das an!«, sagte Norville und lachte, wie Leute uber irgendeine liebenswerte Eigentumlichkeit lachten.
Tess lachelte, obwohl sie personlich fand, seinem Navi beizubringen, einen mit dem Vornamen anzusprechen, sei nicht merkwurdiger, als ein Fanfoto eines toten Schauspielers in seinem Buro hangen zu haben. »Danke fur alles, Ramona. Alles war sehr professionell.«
»Wir bei den Drei Bs tun unser Bestes. Nun aber fort mit Ihnen. Mit unserem Dank.«
»Bin unterwegs«, sagte Tess. »Und ich danke Ihnen. Es hat Spa? gemacht.« Das stimmte; solche Veranstaltungen machten ihr gewohnlich auf eine »Na schon, bringen wir’s hinter uns«-Art Spa?. Und ihr Pensionsfonds wurde sich sicher uber eine weitere Einzahlung freuen.
»Kommen Sie wieder«, sagte Norville.
»Unbedingt«, antwortete Tess.
Als sie anfuhr, sagte das Navi: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«
»Ja, das tun wir«, sagte sie. »Wie geht’s dir heute Nachmittag?«
Im Gegensatz zu den Computern in SF-Filmen war Tom fur leichte Unterhaltung schlecht ausgestattet, obwohl Tess ihm manchmal half. Er forderte sie auf, nach vierhundert Metern rechts abzubiegen und dann die erste Stra?e links zu nehmen. Die Karte auf dem Display des TomToms zeigte
Sie erreichte bald die Au?enbezirke von Chicopee, aber Tom schickte sie kommentarlos an der Abzweigung zur I-84 vorbei aufs Land hinaus, das in Oktoberfarben leuchtete und nach brennendem Herbstlaub roch. Nach etwa zehn Meilen auf etwas, das sich Old County Road nannte - und als Tess sich eben fragte, ob ihr Navi einen Fehler gemacht habe (als ob das moglich ware) -, sprach Tom wieder.
»Nach einer Meile rechts abbiegen.«
Und tatsachlich sah sie bald einen grunen Wegweiser zur Stagg Road, der so von Schrotkugeln durchlochert war, dass er fast unleserlich war. Aber naturlich brauchte Tom keine Stra?enschilder; wie die Soziologen gesagt hatten (sie hatte Soziologie studiert, bevor sie ihr Talent, uber alte Ladys als Detektivinnen zu schreiben, entdeckt hatte), war er fremdbestimmt.
Unter ihr war ein
»Zum Teufel mit dir, Ramona«, sagte sie. Naturlich wusste sie, dass es nicht wirklich die Schuld der Bibliothekarin war; die Vorsitzende (und das vermutlich einzige Mitglied) des Richard-Widmark-Fanclubs, Ortsgruppe Chicopee, hatte nur hilfsbereit sein wollen, aber Tess wusste nun einmal nicht, wie der Blodmann hie?, der diesen mit Nageln gespickten Schei? auf der Stra?e abgeladen hatte und unbekummert weitergefahren war, deshalb musste Ramona fur ihn herhalten.
»Soll ich deine Route neu berechnen, Tess?«, fragte Tom so unvermittelt, dass sie zusammenfuhr.
Sie schaltete das Navi aus und stellte dann auch den Motor ab. Hier drau?en war es sehr still. Sie horte Vogelstimmen, ein metallisches Ticken wie von einer alten Aufziehuhr und sonst nichts. Die gute Nachricht war, dass der Expedition nur nach links vorn geneigt dastand, statt auf ganzer Breite eingeknickt zu sein. Vielleicht war es nur der eine Reifen. Wenn das so war, wurde sie keinen Abschleppwagen, sondern nur etwas Hilfe vom Automobilclub brauchen.
Als sie ausstieg und den linken Vorderreifen begutachtete, sah sie daran ein zersplittertes Stuck Holz, das von einem im Gummi steckenden langen rostigen Nagel festgehalten wurde. Tess stie? einen einsilbigen Fluch aus, der keinem Mitglied des Strickclubs jemals uber die Lippen gekommen ware, und holte ihr Handy aus dem kleinen
Die Konventionen von Horrorstorys und Kriminalromanen - selbst der unblutigen Variante mit nur einer Leiche, die ihre Fans so schatzten - waren uberraschend ahnlich, und als sie ihr Handy aufklappte, dachte sie:
Sie horte ein Fahrzeug mit einem Loch im Auspuff naher kommen, drehte sich um und sah einen alten wei?en Lieferwagen durch die Kurve fahren, die den Expedition zur Strecke gebracht hatte. Auf seiner Seite spielte ein Cartoonskelett auf einem Schlagzeug, das aus kleinen Kuchen in Papierformchen zu bestehen schien. Uber dieser Erscheinung (
Er wich schneller auf den Seitenstreifen aus als zuvor Tess, aber der Kastenwagen hatte einen hoheren Schwerpunkt
Sie klemmte ihr Handy an den Bund ihrer Gabardinehose, ging auf die Stra?e hinaus und machte sich eigenhandig daran, die Bretter wegzuraumen. Das tat sie au?erst vorsichtig, weil sich aus der Nahe zeigte, dass in allen Holzteilen (die wei? gestrichen waren, als waren sie von jemandem, der mitten in einer Hausrenovierung steckte, abgerissen worden) Nagel steckten. Gro?e hassliche Nagel. Sie arbeitete langsam, weil sie sich nicht verletzen wollte, aber sie hoffte auch, deutlich sichtbar ein Werk christlicher Barmherzigkeit zu verrichten, wenn der nachste Wagen vorbeikam. Als sie bis auf ein paar harmlose Splitter alles eingesammelt und die gro?en Stucke in den Stra?engraben geworfen hatte, war jedoch noch immer kein Auto vorbeigekommen. Vielleicht, dachte sie, hatten die Zombie Bakers jedermann in unmittelbarer Umgebung verspeist und rasten jetzt in ihre Backstube zuruck, um aus den Uberresten die immer beliebten Leute-Kuchen zu backen.
Sie ging auf den verunkrauteten Parkplatz des ehemaligen Ladens zuruck und betrachtete missmutig den schrag dastehenden Expedition. Rollender Stahl im Wert von vierzigtausend Dollar, Allradantrieb, vier Scheibenbremsen, dazu Tom das sprechende TomTom … und dann genugte ein Stuck Holz mit einem Nagel darin, um einen stranden zu lassen.