funfzig bis sechzig Meter Entfernung das verlassene Gebaude stand.

Andere hat er umgebracht! Sie liegen in der Rohre! Ka fer krabbeln auf ihnen herum, ohne dass es sie stort!

»Ja, ja«, sagte sie mit ihrer rauen Bonnie-Tyler-Stimme, dann trat sie wieder weg.

12

Sie war »It’s a Heartache« singend mitten auf der Stagg Road unterwegs, als sie hinter sich ein naher kommendes Motorengerausch horte. Sie warf sich herum, ware fast gesturzt und sah Autoscheinwerfer, die eine Hugelkuppe anstrahlten, uber die sie gerade gekommen sein musste. Das war er. Der Riese. Er war zuruckgekommen, hatte den Durchlass inspiziert und gesehen, dass sie nicht mehr darin lag. Und jetzt war er auf der Suche nach ihr.

Tess war mit einem Sprung im Stra?engraben, ging in die Knie, verlor den umgehangten Teppichrest, sprang wieder auf und stolperte blindlings in die Busche. Ein Ast ritzte ihr die Wange blutig. Sie horte eine Frau angstvoll schluchzen. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie auf alle viere niedersank. Die Stra?e wurde hell, als die Scheinwerfer uber den Hugel kamen. Sie sah den Teppichrest, den sie verloren hatte, sehr deutlich und wusste, dass der Riese ihn auch sehen wurde. Er wurde halten und aussteigen. Sie wurde versuchen wegzurennen, aber er wurde sie einholen. Sie wurde schreien, aber niemand wurde sie horen. In solchen Storys tat das nie jemand. Er wurde sie umbringen, aber zuvor wurde er sie noch mal vergewaltigen.

Das Auto - es war ein Auto, kein Pick-up - fuhr vorbei, ohne langsamer zu werden. Aus seinem Inneren drang der Sound von Bachman-Turner Overdrive, voll aufgedreht: »B-B-B-Baby, you just ain’t seen n-n-nuthin yet«. Sie beobachtete, wie die Heckleuchten schlagartig verschwanden. Sie merkte, dass sie kurz davor war, wieder wegzutreten, und schlug sich mit beiden Handen ins Gesicht.

»Nein!«, knurrte sie. »Nein!«

Sie kam wieder ein Stuck weit zu Sinnen. Der Drang, in den Buschen versteckt zu bleiben, war stark, aber dort konnte sie nicht bleiben. Nicht nur war es noch lange bis

Tess hob den Teppichrest aus dem Stra?engraben auf, um ihn sich wieder um die Schultern zu legen, beruhrte dann ihre Ohren und wusste bereits, was sie finden wurde. Die tropfenformigen Brillantohrringe, eine ihrer wenigen wirklichen Extravaganzen, waren weg. Sie brach erneut in Tranen aus, aber dieser Weinkrampf war kurzer, und als er vorbei war, fuhlte sie sich mehr wie sie selbst. Mehr in sich selbst, eine Bewohnerin ihres Kopfs und Korpers, statt sich nur wie ein Gespenst zu umschweben.

Nachdenken, Tessa Jean!

Also gut, sie wurde es versuchen. Aber sie wurde es im Gehen tun. Und kein Gesang mehr. Der Klang ihrer veranderten Stimme war unheimlich. Als ob der Riese durch seine Vergewaltigung eine neue Frau erschaffen hatte. Sie wollte keine neue Frau sein. Die alte hatte ihr gefallen.

Gehen. Bei Mondschein gehen, wahrend ihr Schatten neben ihr uber die Stra?e glitt. Welche Stra?e? Stagg Road. Laut Tom war sie etwas weniger als vier Meilen von der Kreuzung mit der US 47 entfernt gewesen, als sie in die Falle des Riesen geraten war. Das war nicht so schlimm; um in Form zu bleiben, lief sie jeden Tag mindestens drei Meilen oder benutzte bei Schnee oder Regen ihren Hometrainer. Naturlich war dies ihr erster Marsch als die Neue Tess, die mit der schmerzenden, blutenden Mose und der rauchigen Stimme. Aber es gab eine positive Seite: Ihr wurde allmahlich warm, die obere Halfte ihrer Kleidung trocknete, und sie trug flache Schuhe. Beinahe hatte sie dreiviertelhohe Pumps getragen, die diesen Abendspaziergang wirklich sehr unangenehm gemacht hatten. Nicht dass er unter anderen Umstanden angenehm gewesen ware, nein nein n…

Nachdenken!

Aber bevor sie das konnte, wurde die Stra?e vor ihr hell. Tess flitzte wieder in die Busche und schaffte es diesmal, den Teppichrest nicht zu verlieren. Ein weiteres Auto, Gott sei Dank nicht sein Pick-up, aber sie wurde nicht langsamer.

Er konnte es trotzdem sein. Vielleicht ist er in ein Auto umgestiegen. Er kann zu seinem Haus, seinem Schlup fwinkel zuruckgefahren und in ein Auto umgestiegen sein. Weil er denkt: »Sie wird sehen, dass es kein Pick-up ist, und aus ihrem Versteck kommen. Sie wird mich anhalten, und dann hab ich sie.«

Ja, ja. Genau das wurde in einem Horrorfilm passieren, oder? Kreischende Opfer 4 oder Stagg Road Horror 2 oder …

Sie drohte abermals wegzutreten, also schlug sie sich wieder ins Gesicht. Sobald sie zu Hause war, sobald Fritzy gefuttert war und sie in ihrem Bett lag (alle Turen abgesperrt, alle Lampen eingeschaltet), konnte sie so viel wegtreten, wie sie wollte. Aber nicht jetzt. Nein nein nein. Jetzt musste sie weitergehen und sich verstecken, wenn Autos kamen. Wenn sie das schaffte, wurde sie irgendwann die U S 47 erreichen, an der es einen Laden geben konnte. Einen mit einem Kartentelefon, wenn sie Gluck hatte … und sie hatte etwas Gluck verdient. Ihre Handtasche war weg, die lag noch in dem Expedition (wo auch immer der sein mochte), aber sie wusste die Nummer ihrer Telefonkarte von AT&T auswendig: ihre eigene Telefonnummer, dann 9712. Kinderleicht.

Am Stra?enrand stand ein Schild. Tess konnte es im Mondschein muhelos lesen:

SIE HABEN COLEWICH ERREICHT

WILLKOMMEN, FREUND!

»Du magst Colewich, es mag dich«, flusterte sie.

Tess kannte diese Gemeinde, deren Name von den Einheimischen »Collitch« ausgesprochen wurde. Es war in Wirklichkeit eine Kleinstadt, eine der vielen in Neuengland, die wohlhabend gewesen waren, solange die Textilindustrie floriert hatte, und sich in der neuen Freihandelsara, in der Amerikas Hosen und Jacken in Asien oder Mittelamerika genaht wurden - vermutlich von Kindern, die weder lesen noch schreiben konnten -, irgendwie durchwurstelten. Sie befand sich in den Au?enbezirken, aber sie konnte bestimmt bis zu einem Telefon weitergehen.

Was dann?

Dann wurde sie … wurde sie …

»Eine Limousine bestellen«, sagte sie. Diese Idee brach wie ein Sonnenaufgang uber sie herein. Ja, genau das wurde sie tun. Wenn sie hier in Colewich war, war ihre Heimatstadt in Connecticut nur drei?ig Meilen weit entfernt, vielleicht weniger. Der Limo-Service, den sie fur Fahrten zum Bradley International Airport oder nach Hartford oder New York benutzte (Tess fuhr in keiner Gro?stadt selbst Auto, wenn es sich vermeiden lie?), hatte seinen Sitz in der Nachbarstadt Woodfield. Die Firma Royal Limousine warb damit, Tag und Nacht dienstbereit zu sein. Noch besser war, dass ihre Kreditkarteninformationen dort gespeichert sein mussten.

Tess fuhlte sich besser und steigerte ihr Tempo ein wenig. Dann erhellten Autoscheinwerfer die Stra?e, und sie fluchtete wieder in die Busche, kauerte nieder und kam sich wie ein gejagtes Tier vor: Ricke, Fuchsin, Hasin. Dieses Fahrzeug war ein Pick-up, und sie begann zu zittern. Sie zitterte selbst dann weiter, als sie sah, dass der Pick-up ein kleiner wei?er Toyota war, viel kleiner als der alte Ford des Riesen. Als er vorbei war, versuchte sie, sich dazu zu zwingen, auf der Stra?e weiterzugehen, aber das konnte sie zunachst

Sie zwang sich dazu, daran zu denken, wie sie sich bei dem Limo-Fahrer bedankte und auf der Kreditkartenabrechnung ein Trinkgeld hinzufugte, bevor sie zwischen Blumenrabatten langsam zur Haustur ging. Wie sie den Briefkasten hochkippte, um an den Reserveschlussel dahinter heranzukommen. Wie sie Fritzy angstlich miauen horte.

Der Gedanke an Fritzy gab den Ausschlag. Sie kroch aus dem Gebusch, marschierte weiter die Stra?e entlang und hielt sich bereit, sofort wieder in Deckung zu flitzen, sobald sie Autoscheinwerfer sah. Augenblicklich. Weil er irgendwo dort drau?en war. Ihr wurde bewusst, dass er in Zukunft stets irgendwo dort drau?en sein wurde. Falls die Polizei ihn nicht schnappte und einsperrte. Aber damit es dazu kommen konnte, musste sie Anzeige erstatten, und sobald ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, glaubte sie, eine marktschreierische Schlagzeile im Stil der New York Post vor sich zu sehen:

»WILLOW GROVE«-AUTORIN NACH LESUNG

VERGEWALTIGT

Klatschblatter wie die Post wurden sicher ein Foto bringen, das sie vor zehn Jahren zeigte, als ihr erstes Strickclub-Buch erschienen war. Damals war sie Ende zwanzig gewesen, mit weit uber schulterlangen dunkelblonden Haaren und guten Beinen, die sie gern in kurzen

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