den Staub.

Bevor sie wahlen konnte, fuhr ein Pick-up auf den Parkplatz. Ihr Herz flog mit schwindelerregender akrobatischer Leichtigkeit in ihre Kehle hinauf, und als zwei lachende Jungs in Highschool-Jacken ausstiegen und in dem Laden verschwanden, war sie froh, dass es dort oben war. Es blockierte den Schrei, den sie sonst bestimmt nicht hatte unterdrucken konnen.

Sie spurte, dass die Welt wegzutreten versuchte, lehnte den Kopf sekundenlang an die Wand und rang nach Atem.

Sie machte sich auf einen Anrufbeantworter oder einen gelangweilten Kundenbetreuer gefasst, der ihr erklarte, sie hatten keine Wagen, naturlich nicht, heute sei Freitagabend, sind Sie dumm auf die Welt gekommen, Lady, oder erst spater so geworden? Aber nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine geschaftsma?ige Frau, die sich als Andrea vorstellte. Sie horte Tess zu, dann sagte sie, sie wurden sofort einen Wagen hinausschicken, ihr Fahrer wurde Manuel sein. Ja, sie wisse genau, von wo aus Tess anrufe, weil sie dauernd Wagen zum Stagger Inn hinausschickten.

»Okay, aber ich bin nicht dort«, sagte Tess. »Ich bin an der Kreuzung ungefahr eine halbe Meile vom…«

»Ja, Ma’am, das habe ich«, sagte Andrea. »Das Gas & Dash. Dort fahren wir manchmal auch hin. Die Leute gehen oft zu Fu? hin und rufen an, wenn sie ein bisschen zu viel getrunken haben. Es wird ungefahr funfundvierzig Minuten dauern, vielleicht sogar eine Stunde.«

»Das ist in Ordnung«, sagte Tess. Wieder flossen ihr die Tranen. Diesmal Tranen der Dankbarkeit, obwohl sie sich ermahnte, wachsam zu bleiben, weil die Hoffnungen der Heldin sich in solchen Storys allzu oft als trugerisch erwiesen. »Das ist vollig in Ordnung. Ich bin um die Ecke bei den Telefonen. Und ich halte die Augen offen.«

Jetzt wird sie mich fragen, ob ich etwas zu viel getrunken habe. Weil ich wahrscheinlich so klinge.

Aber Andrea wollte nur wissen, ob sie bar oder mit Karte zahlen wurde.

»American Express. Ich musste in Ihrem Computer sein.«

»Ja, Ma’am, das sind Sie. Danke, dass Sie Royal Limousine angerufen haben, wo jeder Kunde koniglich behandelt

Als sie den Horer einhangen wollte, kam ein Mann - er, das ist er - um die Ladenecke genau auf sie zugerannt. Diesmal hatte sie keine Chance aufzuschreien; sie war vor Entsetzen gelahmt.

Es war einer der beiden Teenager. Er lief an ihr vorbei, ohne sie anzusehen, schlug einen Haken nach links und verschwand in Herren. Die Tur fiel krachend ins Schloss. Wenige Augenblicke spater horte sie den pferdeartig starken Strahl, mit dem ein junger Mann seine schrecklich gesunde Blase entleerte.

Tess ging an der Seite des Gebaudes entlang nach hinten. Dort stand sie neben einem ubelriechenden Mullbehalter (nein, dachte sie, ich stehe nicht, ich lauere) und wartete darauf, dass der junge Mann fertig war und verschwand. Dann ging sie zu den Telefonen zuruck, um die Stra?e zu beobachten. Obwohl sie an vielen Stellen Schmerzen hatte, spurte sie, wie ihr Magen vor Hunger knurrte. Sie hatte das Abendessen versaumt, war einfach zu sehr damit beschaftigt gewesen, vergewaltigt und beinahe umgebracht zu werden, um etwas zu essen. Sie hatte gern irgendeinen der Snacks gehabt, die in solchen Laden verkauft wurden - sogar ein paar dieser scheu?lichen kleinen, widerlich gelben Erdnussbuttercracker waren kostlich gewesen -, aber sie hatte kein Geld. Auch wenn sie welches gehabt hatte, ware sie nicht hineingegangen. Sie kannte die Beleuchtung in Tankstellenshops wie dem Gas & Dash: unbarmherzig grelle Leuchtstoffrohren, in deren Licht selbst Gesunde aussahen, als litten sie an Bauchspeicheldrusenkrebs. Der oder die Angestellte hinter der Theke wurde ihr entstelltes Gesicht, die gebrochene Nase und die geschwollenen Lippen anstarren, und auch wenn er oder sie nichts sagte, wurde Tess leicht geweitete Augen sehen. Und vielleicht ein Wer hat Sie so rangenommen, Lady, und womit haben Sie sich’s verdient? Sind wohl nicht rubergekommen, nachdem irgendein Kerl seinen Uberstundenlohn fur Sie ausgegeben hat, was?

Das erinnerte sie an eine alte Scherzfrage, die sie irgendwo gehort hatte: Wieso gibt es jahrlich dreihunderttausend misshandelte Frauen in Amerika? Weil sie … verdammt noch mal … ein fach nicht gehorchen.

»Macht nichts«, flusterte sie. »Ich esse etwas, wenn ich zu Hause bin. Vielleicht Thunfischsalat.«

Das klang gut, aber irgendwie war sie davon uberzeugt, dass sie wohl nie wieder Thunfischsalat - oder ubrigens auch widerlich gelbe Erdnussbuttercracker aus Tankstellenshops - essen konnen wurde. Die Vorstellung, dass eine Limousine vorfahren und sie aus diesem Albtraum holen wurde, war zu gut, um wahr zu sein.

Irgendwo zu ihrer Linken konnte Tess das Rauschen des Verkehrs auf der I-84 horen - auf der Interstate, die sie genommen hatte, wenn sie nicht so erfreut gewesen ware, die Heimfahrt abkurzen zu konnen. Dort druben auf der Turnpike waren Leute, die nie vergewaltigt oder in Rohren gestopft worden waren, zu fernen Zielen unterwegs. Tess fand, dass das Gerausch ihres unbekummerten Reisens das Einsamste war, das sie je gehort hatte.

16

Die Limousine kam. Es handelte sich um einen Lincoln Town Car. Der Fahrer stieg aus und sah sich um. Tess beobachtete ihn von der Ladenecke aus genau. Er trug einen dunklen Anzug. Er war ein kleiner Kerl mit Brille, der nicht wie ein Vergewaltiger aussah … aber naturlich waren nicht alle Riesen Vergewaltiger und nicht alle Vergewaltiger Riesen. Aber sie wurde ihm vertrauen mussen. Wenn sie nach Hause und Fritzy futtern wollte, blieb ihr keine andere Wahl. Also lie? sie ihre schmutzige improvisierte Stola unter das funktionierende Kartentelefon fallen und ging langsam, und ohne zu schwanken, zu dem Town Car. Das aus den Fenstern des Tankstellenshops fallende Licht erschien ihr blendend hell, als sie aus dem Halbschatten trat, und sie war sich bewusst, wie ihr Gesicht aussah.

Er wird fragen, was mir zugesto?en ist, und dann wird er fragen, ob ich ins Krankenhaus will.

Aber Manuel (der vielleicht schon Schlimmeres gesehen hatte, das war nicht unmoglich) hielt ihr nur den Schlag auf und sagte: »Willkommen bei Royal Limousine, Ma’am.« Sein sanfter hispanischer Akzent passte zu seinem dunklen Teint und den schwarzen Augen.

»Wo ich koniglich behandelt werde«, sagte Tess mit ihrer neuen, rauchigen Stimme. Sie versuchte zu lacheln. Was ihren geschwollenen Lippen ziemlich wehtat.

»Ja, Ma’am.« Sonst nichts. Gott segne Manuel, der vielleicht schon Schlimmeres gesehen hatte - vielleicht dort, wo er herkam, vielleicht auf dem Rucksitz genau dieses Wagens. Wer wusste, was fur Geheimnisse Limo- Fahrer bewahrten? Das war eine Frage, in der ein gutes Buch versteckt sein konnte. Nicht von der Art, die sie schrieb, naturlich nicht … aber wer konnte wissen, was fur Bucher sie in Zukunft schreiben wurde? Oder ob sie uberhaupt noch

Sie stieg hinten ein und bewegte sich dabei wie eine alte Frau mit fortgeschrittener Osteoporose. Als sie sa? und er die Tur geschlossen hatte, umklammerte sie den Turgriff und sah aufmerksam nach vorn, weil sie sichergehen wollte, dass Manuel sich ans Steuer setzte, nicht der Riese in der Latzhose. In Stagg Road Horror 2 ware es der Riese gewesen: ein letztes Drehen an der Spannungsschraube vor dem Abspann. Ein bisschen Ironie des Schicksals, das ist gut fur den Kreislau f.

Aber es war Manuel, der einstieg. Naturlich er. Sie entspannte sich.

»Als Adresse habe ich 19 Primrose Lane in Stoke Village. Ist das korrekt?«

Im ersten Augenblick wusste sie’s nicht; die Nummer ihrer Telefonkarte hatte sie ohne Unterbrechung eingetippt, aber die eigene Adresse war ihr entfallen.

Entspann dich, sagte sie sich. Es ist vorbei. Das hier ist kein Horrorfilm, es ist dein Leben. Du hast Schreckliches durchgemacht, aber es ist vorbei. Also entspann dich.

»Ja, Manuel, das stimmt.«

»Mochten Sie zwischendurch irgendwo halten, oder fahren wir direkt zu Ihnen nach Hause?« Das war seine einzige dezente Anspielung auf das, was die Lichter des Gas & Dash ihm gezeigt haben mussten, als sie auf den Town Car zugekommen war.

Es war nur Gluck, dass sie weiter die Antibabypille nahm - Gluck und vielleicht Optimismus, denn sie hatte

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