Rocken zur Schau stellte. Sie hat es gewollt … sie hat es gekriegt.

War das realistisch, oder malten ihre Beschamung und ihr erheblich ladiertes Selbstwertgefuhl sich nur den schlimmstmoglichen Fall aus? Jener Teil von ihr, der lieber in den Buschen versteckt bleiben wollte, selbst wenn es ihr gelang, von dieser scheu?lichen Stra?e wegzukommen, diesen scheu?lichen Staat Massachusetts hinter sich zu lassen und ihr sicheres Hauschen in Stoke Village zu erreichen? Sie konnte es sich nicht beantworten und vermutete, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Eines wusste sie jedoch: Sie wurde das landesweite Medienecho bekommen, das sich jede Autorin wunschen wurde, wenn ein Buch von ihr erschien, und das sich keine Autorin wunschen konnte, wenn sie vergewaltigt und ausgeraubt und als tot liegen gelassen worden war. Sie konnte formlich sehen, wie jemand in der Frageperiode die Hand hob und wissen wollte: »Haben Sie ihn irgendwie ermutigt?«

Das war lacherlich, das wusste Tess sogar in ihrem gegenwartigen Zustand … aber sie wusste auch, wenn das herauskam, wurde jemand die Hand heben, um zu fragen: »Werden Sie uber diese Sache schreiben?«

Und was wurde sie antworten? Was konnte sie antworten?

Nichts, dachte Tess. Ich wurde mit zugehaltenen Ohren vom Podium fluchten.

Aber nein.

Nein nein nein.

In Wirklichkeit wurde sie uberhaupt nicht erst dort sein. Wie konnte sie jemals wieder in eine weitere Lesung, einen Vortrag oder eine Autogrammstunde einwilligen, wenn sie wusste, dass er aufkreuzen, sie aus der letzten Reihe angrinsen konnte? Unter dieser komischen braunen Mutze mit dem Bleichmittelflecken hervor grinsend? Vielleicht mit ihren Ohrringen in der Tasche. Wahrend er mit ihnen spielte.

Bei dem Gedanken an ihre Aussage bei der Polizei wurde ihr ganz hei?, und sie konnte spuren, wie ihr Gesicht sich vor Scham buchstablich verzerrte, selbst allein hier drau?en in der Dunkelheit. Auch wenn sie vielleicht nicht Sue Grafton oder Janet Evanovich war, war sie doch streng genommen keine Privatperson. Sogar CNN wurde ein, zwei Tage uber sie berichten. Die Welt wurde erfahren, dass ein verruckter, grinsender Riese sich in die Willow-Grove-Autorin ergossen hatte. Sogar die Tatsache, dass er ihren Slip als Souvenir behalten hatte, konnte herauskommen. CNN wurde dieses Detail nicht melden, aber der National Enquirer oder Inside View wurden solche Bedenken nicht haben.

Mit den Ermittlungen vertraute Personen behaupten, dass bei dem mutma?lichen Vergewaltiger ein Slip der Autorin gefunden wurde: ein mit Spitze besetzter blauer Hu ftslip von Victoria’s Secret.

»Ich kann es nicht erzahlen«, sagte sie. »Ich werde es nicht erzahlen.«

Aber es hat andere vor dir gegeben, es konnte weitere nach dir …

Sie verdrangte diesen Gedanken energisch. Sie war zu mude, um daruber nachzudenken, wozu sie moralisch verpflichtet

Ihrer. Er gehorte jetzt ihr.

13

Ungefahr eine Meile nach dem Ortsschild von Colewich horte sie auf einmal ein tiefes, rhythmisches Pochen, das aus der Stra?e, auf der sie lief, zu kommen schien. Zuerst dachte sie an die Morlocks, H. G. Wells’ Mutanten, die tief im Erdinneren ihre Maschinen bedienten, aber nach weiteren funf Minuten klarte sich die Ursache des Larms auf. Er kam durch die Luft, nicht aus der Erde, und war ein Klang, den sie kannte: der Herzschlag einer Bassgitarre. Der Rest der Band materialisierte sich darum herum, wahrend sie weiterging. Bald konnte sie am Horizont Licht sehen: keine Autoscheinwerfer, sondern das Wei? von Bogenlampen und das rote Leuchten von Neonrohren. Die Band spielte »Mustang Sally«, und Tess konnte Gelachter horen. Es war betrunken und wunderbar, mit frohlichen Saufgelagejuchzern durchsetzt. Bei diesen Lauten hatte sie am liebsten wieder geweint.

Das Rasthaus, ein gro?er alter Partyschuppen mit einem riesigen unbefestigten Parkplatz, der gesteckt voll zu sein schien, nannte sich The Stagger Inn. Sie blieb stirnrunzelnd am Rand der Lichtflut der Parkplatzbeleuchtung stehen. Weshalb so viele Autos? Dann fiel ihr ein, dass heute Freitag war. An Freitagabenden war das Stagger Inn offenbar der angesagte Club, wenn man aus Colewich oder einer

Er konnte dort sein. War er nicht zwischendurch um sie herumgetanzt und hatte mit seiner schrecklich tonlosen Stimme einen Song der Rolling Stones gesungen? Vielleicht hatte sie diesen Teil nur getraumt - oder als Halluzination wahrgenommen -, aber das glaubte sie nicht. War es nicht denkbar, dass er geradewegs ins Stagger Inn gefahren war, nachdem er den Gelandewagen versteckt hatte, alle Rohren frisch durchgespult und bereit, die Nacht durchzufeiern? Sie traute sich zu, seinen Pick-up zu erkennen, wenn sie ihn sah, aber auf dem Parkplatz standen so viele Fahrzeuge. Selbst wenn sie die Reihen einzeln absuchte, konnte sie ihn ubersehen.

Die Band legte mit einem fast original klingenden alten Song der Cramps los: »Can Your Pussy Do the Dog?«. Nein, dachte Tess, aber heute hat es ein Hund meiner Pussy besorgt. Die Alte Tess hatte einen Scherz dieser Art nicht gebilligt, aber die Neue Tess hielt ihn fur ziemlich gut. Sie bellte ein heiseres Lachen, setzte sich wieder in Bewegung und ging auf die andere Stra?enseite hinuber, wo die Parkplatzbeleuchtung nicht mehr ganz hinreichte.

Als sie an der Ruckseite des Gebaudes vorbeikam, sah sie einen alten wei?en Kastenwagen, der ruckwarts an die Ladebucht herangesto?en war. Auf dieser Seite des Stagger Inn gab es keine Bogenlampen, aber der Mondschein reichte aus, um ihr das Skelett mit seinem Schlagzeug aus

»Can your pussy do the dog?«, fragte Tess und zog den schmuddeligen Teppichrest etwas enger um den Hals. Er war keine Nerzstola, aber in dieser kuhlen Oktobernacht besser als nichts.

14

Wenn Sie die 47 erreichen, hatte Ramona Norville gesagt, sehen Sie einen Wegweiser zur I-84. Tess sah etwas noch Besseres: ein Gas & Dash mit zwei Kartentelefonen an der Hohlblocksteinwand zwischen den Toiletten.

Sie ging zuerst auf Damen und musste mit einer Hand vor dem Mund einen Schrei unterdrucken, als ihr Urin zu flie?en begann; es brannte, als hatte jemand in ihr ein Streichholzbriefchen angezundet. Als sie vom WC aufstand, kullerten wieder Tranen uber ihre Wangen. Das Wasser in der Schussel war pastellrosa. Sie tupfte sich mit zusammengelegtem Klopapier ab - sehr sanft - und betatigte dann die Spulung. Sie hatte ein weiteres Papierpolster in den Schritt ihrer Unterhose gelegt, aber das konnte sie naturlich nicht. Der Riese hatte ihren Slip als Souvenir mitgenommen.

»Du Schei?kerl«, sagte sie mit ihrer neuen, rauen Bonnie-Tyler-Stimme.

Sie blieb mit einer Hand auf dem Turknopf stehen und betrachtete in dem wasserfleckigen Metallspiegel uber dem Waschbecken die misshandelte Frau mit den weit aufgerissenen Augen. Dann ging sie hinaus.

15

Sie entdeckte, dass es in diesen modernen Zeiten eigenartig schwierig geworden war, ein Kartentelefon zu benutzen, auch wenn man die Nummer seiner Telefonkarte auswendig wusste. Das erste Telefon, das sie ausprobierte, funktionierte nur in einer Richtung: Sie konnte die Auskunft horen, aber die Telefonistin konnte nicht sie horen und trennte deshalb die ohnehin unzulangliche Verbindung. Das andere Telefon hing schief an der Hohlblocksteinwand - wenig ermutigend -, aber es funktionierte. Aus dem Horer kam ein stetiges argerliches Summen, aber wenigstens konnten die Telefonistin und sie miteinander reden. Nur hatte Tess weder Bleistift noch Kugelschreiber. In ihrer Handtasche hatte sie mehrere Schreibgerate, aber die war weg.

»Konnen Sie mich nicht einfach verbinden?«, fragte sie die Telefonistin.

»Nein, Ma’am, Sie mussen die Nummer selbst wahlen, um Ihre Kreditkarte zu benutzen.« Die Telefonistin sprach, als musste sie einem dummen Kind etwas allgemein Bekanntes erklaren. Das brachte Tess aber nicht auf; sie fuhlte sich wie ein dummes Kind. Dann sah sie, wie staubig die Wand war. Sie forderte die Telefonistin auf, ihr die Nummer zu geben, und als sie kam, schrieb Tess sie mit dem Zeigefinger in

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