Rocken zur Schau stellte.
War das realistisch, oder malten ihre Beschamung und ihr erheblich ladiertes Selbstwertgefuhl sich nur den schlimmstmoglichen Fall aus? Jener Teil von ihr, der lieber in den Buschen versteckt bleiben wollte, selbst wenn es ihr gelang, von dieser scheu?lichen Stra?e wegzukommen, diesen scheu?lichen Staat Massachusetts hinter sich zu lassen und ihr sicheres Hauschen in Stoke Village zu erreichen? Sie konnte es sich nicht beantworten und vermutete, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Eines
Das war lacherlich, das wusste Tess sogar in ihrem gegenwartigen Zustand … aber sie wusste auch, wenn das herauskam,
Und was wurde sie antworten? Was
Aber nein.
Nein nein nein.
In Wirklichkeit wurde sie uberhaupt nicht erst dort sein. Wie konnte sie jemals wieder in eine weitere Lesung, einen Vortrag oder eine Autogrammstunde einwilligen, wenn sie wusste, dass
Bei dem Gedanken an ihre Aussage bei der Polizei wurde ihr ganz hei?, und sie konnte spuren, wie ihr Gesicht sich vor Scham buchstablich verzerrte, selbst allein hier drau?en in der Dunkelheit. Auch wenn sie vielleicht nicht Sue Grafton oder Janet Evanovich war, war sie doch streng genommen keine Privatperson. Sogar CNN wurde ein, zwei Tage uber sie berichten. Die Welt wurde erfahren, dass ein verruckter, grinsender Riese sich in die Willow-Grove-Autorin ergossen hatte. Sogar die Tatsache, dass er ihren Slip als Souvenir behalten hatte, konnte herauskommen. CNN wurde dieses Detail nicht melden, aber der
»Ich kann es nicht erzahlen«, sagte sie. »Ich werde es nicht erzahlen.«
Sie verdrangte diesen Gedanken energisch. Sie war zu mude, um daruber nachzudenken, wozu sie moralisch verpflichtet
Ihrer. Er gehorte jetzt ihr.
13
Ungefahr eine Meile nach dem Ortsschild von Colewich horte sie auf einmal ein tiefes, rhythmisches Pochen, das aus der Stra?e, auf der sie lief, zu kommen schien. Zuerst dachte sie an die Morlocks, H. G. Wells’ Mutanten, die tief im Erdinneren ihre Maschinen bedienten, aber nach weiteren funf Minuten klarte sich die Ursache des Larms auf. Er kam durch die Luft, nicht aus der Erde, und war ein Klang, den sie kannte: der Herzschlag einer Bassgitarre. Der Rest der Band materialisierte sich darum herum, wahrend sie weiterging. Bald konnte sie am Horizont Licht sehen: keine Autoscheinwerfer, sondern das Wei? von Bogenlampen und das rote Leuchten von Neonrohren. Die Band spielte »Mustang Sally«, und Tess konnte Gelachter horen. Es war betrunken und wunderbar, mit frohlichen Saufgelagejuchzern durchsetzt. Bei diesen Lauten hatte sie am liebsten wieder geweint.
Das Rasthaus, ein gro?er alter Partyschuppen mit einem riesigen unbefestigten Parkplatz, der gesteckt voll zu sein schien, nannte sich The Stagger Inn. Sie blieb stirnrunzelnd am Rand der Lichtflut der Parkplatzbeleuchtung stehen. Weshalb so viele Autos? Dann fiel ihr ein, dass heute Freitag war. An Freitagabenden war das Stagger Inn offenbar der angesagte Club, wenn man aus Colewich oder einer
Die Band legte mit einem fast original klingenden alten Song der Cramps los: »Can Your Pussy Do the Dog?«.
Als sie an der Ruckseite des Gebaudes vorbeikam, sah sie einen alten wei?en Kastenwagen, der ruckwarts an die Ladebucht herangesto?en war. Auf dieser Seite des Stagger Inn gab es keine Bogenlampen, aber der Mondschein reichte aus, um ihr das Skelett mit seinem Schlagzeug aus
14
Sie ging zuerst auf Damen und musste mit einer Hand vor dem Mund einen Schrei unterdrucken, als ihr Urin zu flie?en begann; es brannte, als hatte jemand in ihr ein Streichholzbriefchen angezundet. Als sie vom WC aufstand, kullerten wieder Tranen uber ihre Wangen. Das Wasser in der Schussel war pastellrosa. Sie tupfte sich mit zusammengelegtem Klopapier ab - sehr sanft - und betatigte dann die Spulung. Sie hatte ein weiteres Papierpolster in den Schritt ihrer Unterhose gelegt, aber das konnte sie naturlich nicht. Der Riese hatte ihren Slip als Souvenir mitgenommen.
»Du Schei?kerl«, sagte sie mit ihrer neuen, rauen Bonnie-Tyler-Stimme.
Sie blieb mit einer Hand auf dem Turknopf stehen und betrachtete in dem wasserfleckigen Metallspiegel uber dem Waschbecken die misshandelte Frau mit den weit aufgerissenen Augen. Dann ging sie hinaus.
15
Sie entdeckte, dass es in diesen modernen Zeiten eigenartig schwierig geworden war, ein Kartentelefon zu benutzen, auch wenn man die Nummer seiner Telefonkarte auswendig wusste. Das erste Telefon, das sie ausprobierte, funktionierte nur in einer Richtung: Sie konnte die Auskunft horen, aber die Telefonistin konnte nicht sie horen und trennte deshalb die ohnehin unzulangliche Verbindung. Das andere Telefon hing schief an der Hohlblocksteinwand - wenig ermutigend -, aber es funktionierte. Aus dem Horer kam ein stetiges argerliches Summen, aber wenigstens konnten die Telefonistin und sie miteinander reden. Nur hatte Tess weder Bleistift noch Kugelschreiber. In ihrer Handtasche hatte sie mehrere Schreibgerate, aber die war weg.
»Konnen Sie mich nicht einfach verbinden?«, fragte sie die Telefonistin.
»Nein, Ma’am, Sie mussen die Nummer selbst wahlen, um Ihre Kreditkarte zu benutzen.« Die Telefonistin sprach, als musste sie einem dummen Kind etwas allgemein Bekanntes erklaren. Das brachte Tess aber nicht auf; sie