Wenn er es jetzt merkt, wehre ich mich. Ich trete ihn und trete ihn und trete ihn …

Aber nichts passierte. Sie wagte lange Zeit nicht, die Augen weiter zu offnen oder sich auch nur im Geringsten zu bewegen. Sie stellte sich vor, wie er drau?en kauerte, in die Rohre starrte, in die er sie geschoben hatte, den Kopf fragend zur Seite gelegt hatte und auf die kleinste Bewegung lauerte. Wie konnte er nicht wissen, dass sie noch lebte? Er musste gespurt haben, wie ihr Herz hammerte. Und was konnte sie schon mit Fu?tritten gegen den Riesen aus dem Pick-up ausrichten? Er wurde ihre nackten Fu?e mit einer Hand packen und sie herausziehen, um sie wieder zu wurgen. Nur wurde er diesmal nicht vorzeitig aufhoren.

Sie lag in fauligem Laub und trage flie?endem Wasser, starrte mit halb geoffneten Augen ins Leere und konzentrierte sich darauf, sich tot zu stellen. Sie versank in einem grauen Dammerzustand, der nicht ganz eine Bewusstlosigkeit war, und verharrte scheinbar endlos lange, aber in Wirklichkeit vermutlich nur kurz darin. Als sie einen Motor horte - sein Pick-up, bestimmt sein Pick-up - dachte sie: Ich bilde mir dieses Gerausch nur ein. Oder traume es. Er ist noch da.

Aber das unregelma?ige Tuckern des Motors wurde erst kurz lauter, um dann die Stagg Road entlang zu verhallen.

Das ist ein Trick.

Das war fast sicher Hysterie. Selbst wenn es das nicht war, konnte sie nicht die ganze Nacht hier liegen bleiben. Und als sie den Kopf hob (wobei ein stechender Schmerz in ihrer maltratierten Kehle sie zusammenzucken lie?), sah sie nur einen durch nichts beeintrachtigten silbernen Kreis aus

Das ist ein Trick. Was du gehort hast, ist mir egal, er ist noch da.

Diesmal war der Gedanke starker. Dass sie am Ende des Durchlasses nichts sah, machte ihn starker. In einem spannenden Roman ware jetzt der Augenblick trugerischer Entspannung vor dem gro?en Hohepunkt gekommen. Oder in einem Gruselfilm. Die wei?e Hand, die in Beim Sterben ist jeder der Erste aus dem See auftauchte. Alan Arkin, der in Warte, bis es dunkel ist uber Audrey Hepburn herfiel. Sie mochte keine gruseligen Bucher oder Filme, aber vergewaltigt und fast ermordet zu werden schien einen ganzen Speicher mit lauter ahnlichen Erinnerungen an Gruselfilme geoffnet zu haben. Als waren sie in der Luft schwebend einfach da.

Er konnte drau?en lauern. Wenn er beispielsweise einen Komplizen hatte, der seinen Pick-up weggefahren hatte. Er konnte in der geduldigen Art, die Landbewohner an sich hatten, drau?en neben dem Durchlass hocken.

»Runter mit der Unterhose«, flusterte sie, dann bedeckte sie ihren Mund mit der Hand. Wenn er sie gehort hatte?

Funf Minuten vergingen. Geschatzte funf. Das Wasser war kalt, und sie begann zu zittern. Bald wurde sie anfangen, mit den Zahnen zu klappern. Wenn er dort drau?en war, wurde er das horen.

Er ist weggefahren. Du hast ihn gehort.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Und vielleicht brauchte sie die Rohre nicht dort zu verlassen, wo sie hineingekommen war. Wenn sie einen Durchlass bildete, wurde sie die Stra?e unterqueren, und weil flie?endes Wasser zu spuren war, wurde sie nicht blockiert sein. Sie konnte ganz hindurchkriechen und vom anderen Ende aus den Parkplatz des verlassenen Ladens uberblicken.

Und wenn er fort ist? Was dann?

Das konnte sie nicht sagen. Sie konnte sich ihr Leben nach dem Nachmittag in dem verlassenen Laden und dem Abend in der Rohre mit einem Polster aus verrottendem Laub unter dem Kreuz nicht vorstellen. Aber vielleicht war das auch nicht notig. Vielleicht konnte sie sich darauf konzentrieren, zu Fritzy heimzukommen und ihn mit einer Packung Fancy Feast zu futtern. Sie konnte die Fancy-Feast-Schachtel ganz deutlich sehen. Sie stand in einem Regal in ihrer friedlichen Speisekammer.

Sie walzte sich auf den Bauch und stutzte sich auf die Ellbogen, um durch die Rohre weiterzukriechen. Dann sah sie, wer sich den Durchlass mit ihr teilte. Eine der Leichen war kaum mehr als ein Skelett (mit wie bittend ausgestreckten knochigen Handen), aber es hatte noch genugend Haare auf dem Kopf - auf ihrem Kopf -, dass Tess sich ziemlich sicher war, dass es eine Frauenleiche war. Die andere hatte eine grausig entstellte Schaufensterpuppe sein konnen, waren die hervorquellenden Augen und die heraushangende Zunge nicht gewesen. Diese Leiche war frischer, aber von Tieren angefressen, und Tess konnte selbst im Dunkel die zu einem Grinsen gebleckten Zahne der Toten erkennen.

Aus dem Haar der Schaufensterpuppe kam ein Kafer gekrabbelt und kroch uber den Nasensattel hinunter.

Heiser schreiend, schob Tess sich ruckwarts aus der Rohre und sprang auf - mit von der Taille aufwarts klatschnass

9

Sie war in dem Laden, in dem gro?en zentralen Verkaufsraum, der fruher in Gange aufgeteilt gewesen war, mit einer Tiefkuhltruhe (vielleicht) im ruckwartigen Teil und einer Bierkuhltheke (bestimmt) entlang der Ruckwand. Sie nahm den Geruch von altem Kaffee und Essiggurken wahr. Sie angelte ihre Gabardinehose unter der Ladentheke hervor. Darunter lagen ihre Schuhe und ihr Handy - zertrummert. Ihr Haargummi war weg. Sie erinnerte sich (vage, so wie man sich an bestimmte Dinge aus fruhester Kindheit erinnert), dass an diesem Vormittag irgendeine Frau gefragt hatte, wo sie ihn gekauft habe, und dass ihre Antwort »bei JCPenney« unerklarlichen Beifall ausgelost hatte. Sie dachte daran, wie der Riese »Brown Sugar« gesungen hatte - mit dieser monoton quiekenden kindlichen Stimme -, und trat weg.

10

Sie irrte durch den Mondschein hinter dem Laden. Sie trug einen Teppichrest um die Schultern, konnte sich aber nicht erinnern, woher sie ihn hatte. Er war schmuddelig, aber er warmte, und sie zog ihn enger um sich. Dann merkte sie, dass sie das Gebaude in Wirklichkeit umkreiste, dass dies ihre zweite, dritte oder gar vierte Runde sein konnte. Ihr wurde bewusst, dass sie ihren Expedition suchte, aber immer wenn sie ihn nicht finden konnte, verga? sie, dass sie hinter dem Laden schon gesucht hatte, und machte eine weitere Runde. Das verga? sie, weil sie auf den Kopf geschlagen und vergewaltigt und gewurgt worden war und unter Schock stand. Sie befurchtete, eine Gehirnblutung zu haben - aber wie konnte man das wissen, au?er man wachte bei den Engeln auf, die es einem erzahlten? Die Nachmittagsbrise hatte aufgefrischt, und das Ticken des Blechschilds war etwas lauter. DU MAGST ES ES MAG DICH.

»7Up«, sagte sie. Ihre Stimme war heiser, aber brauchbar. »Das ist es! Du magst es, und es mag dich.« Sie horte sich selbst laut singen. Sie hatte eine gute Singstimme, die uberraschend angenehm rauchig klang, seit sie gewurgt worden war. Es war, als horte man Bonnie Tyler hier drau?en im Mondschein singen. »7Up tastes good … like a cigarette should!« Ihr wurde bewusst, dass das nicht richtig war, und selbst wenn es das war, sollte sie etwas Besseres als abgefuckte Werbejingles singen, solange sie diese angenehm rauchige Stimme hatte; wenn man vergewaltigt und mit zwei anderen verwesenden Vergewaltigungsopfern als tot in einer Rohre zuruckgelassen wurde, musste man der Sache irgendwas Gutes abgewinnen konnen.

Ich werde Bonnie Tylers Hit singen. Ich werde »It’s a Heartache« singen. Den Text wei? ich bestimmt. Ich bin mir sicher,

Aber dann trat sie wieder weg.

11

Sie sa? auf einem Felsblock und weinte sich die Augen aus. Den schmuddeligen Teppichrest trug sie weiterhin um die Schultern. Ihr Schritt brannte und schmerzte. Der saure Geschmack in ihrem Mund lie? darauf schlie?en, dass sie sich irgendwann zwischen ihren Runden um das Gebaude und der Rast auf diesem Felsblock ubergeben haben musste, aber sie hatte keine Erinnerung daran. Woran sie sich erinnerte …

Er hat mich vergewaltigt, er hat mich vergewaltigt, er hat mich vergewaltigt!

»Du bist nicht die Erste, und du wirst nicht die Letzte sein«, sagte sie, aber diese von ersticktem Schluchzen unterbrochene liebevoll strenge Feststellung war nicht sonderlich hilfreich.

Er hat versucht, mich umzubringen, er hat mich fast umgebracht!

Ja, ja. Und in diesem Augenblick erschien ihr sein Versagen nicht sehr trostlich. Sie sah nach links, wo in

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