Aber naturlich haben in allen Nagel gesteckt, dachte sie. In einem Kriminalroman - oder in einem Horrorfilm - ware das kein Zeichen von Nachlassigkeit, sondern ein Beweis fur einen Plan. Fur eine regelrechte Falle.

»Zu viel Phantasie, Tessa Jean«, sagte sie, ihre Mutter zitierend … und das war naturlich eine Ironie des Schicksals gewesen, denn ihrer Phantasie verdankte sie letztlich ihr taglich Brot. Von dem Altersruhesitz in Daytona Beach, wo ihre Mutter die letzten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte, ganz zu schweigen.

In der tiefen Stille wurde sie wieder auf dieses blecherne Ticken aufmerksam. Der verlassene Laden gehorte zu einem Typus, den man im 21. Jahrhundert nicht mehr oft sah: Er hatte eine unverglaste Veranda. Ihre linke Ecke war eingefallen, und das Gelander war an mehreren Stellen defekt, aber es war tatsachlich eine Veranda, die selbst in ihrem verwahrlosten Zustand noch charmant war. Vielleicht wegen ihres Verfalls. Veranden vor Gemischtwarenladen waren unmodern geworden, vermutete Tess, weil sie dazu verlockten, eine Weile sitzen zu bleiben und uber Baseball oder das Wetter zu reden, statt rasch zu zahlen und mit seinen Kreditkarten die Stra?e entlang ins nachste Geschaft zu hasten, in dem man sie durchs Lesegerat an der Kasse ziehen konnte. Unter dem Verandadach hing schief ein Blechschild. Es war noch starker verblasst als das ESSO-Schild. Sie trat ein paar Schritte naher und legte eine Hand uber die Augen, um sie zu beschatten. DU MAGST ES ES MAG DICH. Wofur hatte dieser Slogan gleich wieder geworben?

Auf dem Schrottplatz, den jeder Autor und jede Autorin im Hinterkopf zu haben schien, hatte sie die Antwort schon fast gefunden, als das Gerausch eines Motors sie aus ihren Gedanken riss. Als sie sich ihm mit der Uberzeugung zuwandte, die Zombie Bakers hatten gewendet und seien

»Hallo?«, rief Tess. »Entschuldigung, Sir?«

Er drehte den Kopf zur Seite, sah sie im Unkraut auf dem Parkplatz stehen, hob gru?end die Hand, fuhr neben ihren Expedition und stellte den Motor ab. Seinem Gerausch nach lief das auf Sterbehilfe hinaus, fand Tess.

»Hallo«, sagte er. »Haben Sie diesen ganzen Schei? von der Stra?e geraumt?«

»Ja, bis auf das Stuck, das meinen linken Vorderreifen durchlochert hat. Und …« Und mein Handy funktioniert hier drau?en nicht, hatte sie fast hinzugefugt, bremste sich aber gerade noch rechtzeitig. Sie war eine Frau Ende drei?ig, die tropfnass funfundfunfzig Kilo auf die Waage brachte, und dies war ein fremder Mann. Ein gro?er Kerl. »… und hier war ich nun«, schloss sie etwas lahm.

»Ich wechsle Ihnen das Rad, wenn Sie ein Reserverad haben«, sagte er, indem er sich aus seinem Pick-up zwangte. »Haben Sie eines?«

Tess konnte nicht gleich antworten. Der Kerl war nicht gro?, da hatte sie sich getauscht. Der Kerl war ein Riese. Er musste fast zwei Meter gro? sein, aber reine Korperlange war nur ein Teil davon. Er hatte einen gewaltigen Wanst, baumdicke Oberschenkel und Schultern von der Breite einer Tur. Sie wusste, dass es unhoflich war, Leute anzustarren (eine weitere Benimmregel, die sie auf dem Scho? ihrer Mutter gelernt hatte), aber es war schwierig, das nicht zu tun. Ramona Norville war eine muskulose, stammige Gestalt, aber neben diesem Kerl hatte sie wie eine Ballerina ausgesehen.

»Ich wei?, ich wei?«, sagte er in amusiertem Ton. »Sie haben nicht erwartet, hier drau?en in der Pampa dem Jolly Green Giant zu begegnen, was?« Nur war er nicht grun, sondern von der Sonne dunkelbraun gebrannt. Auch die Augen waren braun. Sogar die Mutze war braun, wenn auch an einigen Stellen fast wei? ausgebleicht, als hatte sie irgendwann in ihrem langen Leben ein paar Spritzer eines Bleichmittels abbekommen.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich habe nur gerade gedacht, dass Sie Ihren Pick-up nicht fahren, sondern anhaben

Er stemmte die Arme in die Huften und lachte schallend laut mit in den Nacken gelegtem Kopf. »So hat’s noch niemand ausgedruckt, aber Sie haben irgendwie recht. Wenn ich in der Lotterie gewinne, kauf ich mir einen Hummer.«

»Na ja, den kann ich Ihnen nicht kaufen, aber fur den Radwechsel zahle ich Ihnen gern funfzig Dollar.«

»Soll das ein Witz sein? Den gibt’s umsonst. Sie haben mich vor einem Platten bewahrt, weil Sie das Abfallholz von der Stra?e geraumt haben.«

»Jemand ist in einem komischen Lieferwagen mit einem Skelett auf der Seite vorbeigefahren, ohne es zu treffen.«

Der gro?e Kerl war zu Tess’ plattem, linkem Vorderreifen unterwegs gewesen, aber jetzt drehte er sich nach ihr um und runzelte die Stirn. »Jemand ist vorbeigefahren, ohne Ihnen Hilfe anzubieten?«

»Ich glaube nicht, dass er mich gesehen hat.«

»Hat auch nicht gehalten, um diesen Schei? fur den nachsten Kerl wegzuraumen, was?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Ist einfach weitergefahren?«

»Ja.« Irgendwas an diesen Fragen gefiel ihr nicht recht. Dann lachelte der gro?e Kerl, und Tess ermahnte sich, nicht albern zu sein.

»Reserverad unter dem Laderaumboden, stimmt’s?«

»Ja. Das hei?t, ich denke schon. Man braucht nur …«

»Den Griff hochziehen, ja, ja. Kenn ich, hab ich schon gemacht.«

Als er mit tief in den Taschen seiner Latzhose vergrabenen Handen hinten um den Explorer herumging, sah Tess, dass die Fahrertur seines Pick-ups nicht ganz geschlossen war, so dass die Deckenleuchte brannte. Weil sie befurchtete, die Batterie des F- 150 konnte so ramponiert sein wie der ganze Wagen, offnete sie die Tur (die Angeln kreischten fast so laut wie die Bremsen) und knallte sie dann zu. Dabei fiel ihr Blick durch die Heckscheibe des Fahrerhauses auf die Ladeflache des Pick-ups. Auf dem gerippten, rostigen Metall lagen kreuz und quer mehrere Stucke Abfallholz. Sie waren wei? gestrichen und steckten voller Nagel.

Einen Augenblick lang hatte Tess das Gefuhl, ein au?erkorperliches Erlebnis zu haben. Das tickende Blechschild - DU MAGST ES ES MAG DICH - klang jetzt nicht mehr wie ein altmodischer Wecker, sondern wie eine Zeitbombe.

Sie versuchte sich einzureden, die Holzstucke bedeuteten nichts; solches Zeug bedeute nur etwas in Buchern von der Art, die sie nicht schrieb, und Filmen von der Art, die sie sich nur selten ansah: die grausige, blutige Art. Das funktionierte nicht. Somit hatte sie die Wahl zwischen zwei Moglichkeiten: Sie konnte weiter so tun, als hatte sie keinen Verdacht, weil die Alternative beangstigend war, oder sie konnte losrennen und versuchen, den Wald auf der anderen Stra?enseite zu erreichen.

Bevor sie sich entscheiden konnte, roch sie den betaubend scharfen Geruch von Mannerschwei?. Als sie sich umdrehte, stand er da, uberragte sie mit noch immer in den Seitentaschen der Latzhose vergrabenen Handen. »Wie war’s, wenn ich dich ficken wurde, statt deinen Reifen zu wechseln?«, sagte er freundlich. »Wie ware das?«

Jetzt rannte Tess los, aber nur in Gedanken. In der realen Welt blieb sie an seinen Pick-up gepresst stehen und sah zu ihm auf: zu einem Mann, der so gro? war, dass er die Sonne verdunkelte und sie in seinem Schatten stand. Sie dachte daran, dass ihr vor nicht einmal zwei Stunden vierhundert Personen - uberwiegend Ladys mit Huten - in einem kleinen, aber ausreichend gro?en Vortragssaal applaudiert hatten. Und irgendwo sudlich von hier wartete Fritzy auf sie. Ihr dammerte - muhsam, als musste sie etwas Schweres heben -, dass sie ihre Katze vielleicht nie wiedersehen wurde.

»Bitte bringen Sie mich nicht um«, sagte irgendeine Frau mit sehr schwacher und sehr demutiger Stimme.

»Du Schlampe«, sagte er. Er sprach im Tonfall eines Mannes, der Betrachtungen uber das Wetter anstellte. Das Blechschild tickte weiter gegen eine Querstrebe des Verandadachs. »Du weinerliche Hurenschlampe. Meine Gute.«

Die rechte Hand kam aus der Tasche. Eine wahre Riesenpranke. Am kleinen Finger steckte ein Ring mit einem roten Stein. Er sah wie ein Rubin aus, war aber zu gro?, um echt zu sein. Vermutlich nur aus Glas, dachte Tess. Das Schild tickte weiter. DU MAGST ES ES MAG DICH. Dann wurde die Hand zu einer Faust, kam auf sie zugeflogen und wurde immer gro?er, bis sie alles andere verdunkelte.

Von irgendwoher ertonte ein lauter dumpfer Schlag. Sie glaubte, ihr Kopf sei an die Fahrertur des Pick-ups geknallt. Zombie Bakers, dachte Tess noch. Dann wurde es fur kurze Zeit dunkel um sie.

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