»O Gott!«, rief Patsy aus. »Ich komme sofort ruber!«
»Nein, nein, mir geht’s gut, Pats. Und du wurdest zu spat zur Arbeit kommen.«
»Samstagvormittage sind rein freiwillig, und du solltest zum Arzt gehen! Was ist, wenn du eine Gehirnerschutterung oder so was hast?«
»Ich habe keine Gehirnerschutterung, nur blaue Flecken. Und ich wurde mich genieren, zum Arzt zu gehen, weil ich drei Drinks uber dem Limit hatte. Mindestens drei. Das einzig Vernunftige, was ich letzte Nacht getan habe, war wohl, mich mit einer Limousine heimfahren zu lassen.«
»Wei?t du sicher, dass deine Nase nicht gebrochen ist?«
»Sicher.« Na ja …
»Ist mit Fritzy alles in Ordnung?«
Tess brach in vollig echtes Lachen aus. »Ich stolpere mitten in der Nacht halb benebelt die Treppe hinunter, weil der Rauchmelder piepst, falle uber die Katze und schlage mir fast den Schadel ein - und dein Mitgefuhl gilt der Katze. Nett.«
»Schatzchen, ich …«
»War nur ein Scherz«, sagte Tess. »Fahr in die Arbeit, und hor auf, dir Sorgen zu machen. Ich wollte nur nicht, dass du loskreischst, wenn du mich siehst. Ich habe zwei wunderschone Veilchen. Hatte ich einen Exmann, konnte man glauben, er hatte mir einen Besuch abgestattet.«
»Niemand wurde es wagen, dich anzufassen«, sagte Patsy. »Du bist tough, Madchen.«
»Stimmt«, sagte Tess. »Ich lass mir keinen Schei? gefallen.«
»Du klingst heiser.«
»Zu allem anderen bekomme ich auch noch eine Erkaltung.«
»Jedenfalls … wenn du heute Abend etwas brauchst … Huhnersuppe … ein paar alte Percocet … eine DVD mit Johnny Depp …«
»Dann rufe ich dich an. Aber jetzt musst du los. Modebewusste Frauen auf der Suche nach Ann Taylor in der unerreichbaren Gro?e sechsunddrei?ig zahlen auf dich.«
»Verpiss dich, Weib«, sagte Patsy und legte lachend auf.
Tess nahm ihren Kaffee an den Kuchentisch mit. Der Revolver lag dort neben der Zuckerdose: nicht ganz ein Gemalde von Dali, aber verdammt ahnlich. Dann sah sie ihn doppelt, weil sie in Tranen ausbrach. Daran war die Erinnerung an ihre unbekummerte Redeweise schuld. Der Klang der Luge, mit der sie jetzt leben wurde, bis sie ihr wie die Wahrheit vorkam. »Du Drecksack«, rief sie. »Du Schei?kerl!
Obwohl sie geduscht hatte, fuhlte sie sich schmutzig. Sie hatte geduscht, aber sie glaubte, ihn noch immer in sich zu spuren, seinen …
»Seinen Schwanzschleim.«
Sie sprang auf, sah aus den Augenwinkeln heraus, wie ihre verschreckte Katze in die Diele fluchtete, und erreichte den Ausguss gerade noch rechtzeitig, um sich nicht auf den Fu?boden zu ubergeben. Ihr Kaffee und die Cheerios kamen in einem einzigen krampfartigen Wurgeanfall hoch. Als sie sich sicher war, dass sie fertig war, nahm sie den Revolver mit und ging nach oben, um zum zweiten Mal an diesem Morgen zu duschen.
21
Abgetrocknet und in einen behaglichen Frotteebademantel gehullt, legte sie sich aufs Bett, um daruber nachzudenken, von wo aus sie die Polizei anonym anrufen sollte. Am besten von einem Ort aus, der weitlaufig und belebt war. Mit reichlich Parkplatzen, damit sie den Horer einhangen und sofort abhauen konnte. Die Stoke Village Mall klang richtig. Au?erdem war zu uberlegen, bei welcher Dienststelle sie anrufen sollte. Colewich … oder war das zu sehr auf dem einfaltigen Niveau von
In einem Streifen Sonnenlicht auf ihrem Bett liegend, doste Tess ein.
22
Das Telefon klingelte weit entfernt, in einem benachbarten Universum. Dann gab es auf, und Tess horte ihre eigene Stimme, die freundlich unpersonliche Aufnahme, die mit den Worten
Ein Blick auf ihren Radiowecker zeigte ihr, dass es Viertel vor zehn war. Sie hatte weitere zwei Stunden geschlafen. Im ersten Augenblick war sie besorgt: Vielleicht hatte sie doch eine Gehirnerschutterung oder einen Schadelbruch erlitten. Dann entspannte sie sich wieder. Sie hatte letzte Nacht viel Bewegung gehabt. Viel davon war au?erst unangenehm gewesen, aber Bewegung war Bewegung. Noch mal einzuschlafen war ganz naturlich. Vielleicht wurde sie heute Nachmittag sogar ein zweites Nickerchen machen (und bestimmt nochmals duschen), aber zuvor hatte sie etwas zu erledigen. Einer Verantwortung nachzukommen.
Sie zog einen langen Tweedrock und einen Rollkragenpulli an, der ihr eigentlich zu gro? war; er reichte bis zur Unterseite ihres Kinns hinauf. Tess war das nur recht. Auf die Prellung auf ihrer Wange hatte sie Abdeckcreme aufgetragen. Es verdeckte sie nicht vollig, und auch ihre gro?te Sonnenbrille konnte die blauen Augen nicht ganz tarnen
Im Erdgeschoss druckte sie die Play-Taste ihres Anrufbeantworters. Die Anruferin war vermutlich Ramona Norville gewesen, die am Tag danach wie ublich nachgefasst hatte: uns hat’s Spa? gemacht, hoffentlich hat’s auch Ihnen Spa? gemacht, das Echo war gro?artig, kommen Sie bitte wieder (verdammt unwahrscheinlich), bla-bla-bla. Aber es war nicht Ramona. Die Nachricht kam von einer Frau, die sich als Betsy Neal vorstellte. Sie sagte, sie rufe aus dem Stagger Inn an.
»Im Rahmen unserer Kampagne gegen Alkohol am Steuer rufen wir routinema?ig alle Leute an, die ihre Autos nach Lokalschluss auf unserem Parkplatz stehen lassen«, sagte Betsy Neal. »Ihr Ford Expedition, Kennzeichen 775-NSD aus Connecticut, kann bis heute Nachmittag funf Uhr abgeholt werden. Nach funf Uhr wird er auf Ihre Kosten zu Excellent Auto Repair, 1500 John Higgins Road, North Colewich, abgeschleppt. Bitte beachten Sie, dass wir Ihre Schlussel nicht haben, Ma’am. Sie mussen sie mitgenommen haben.« Betsy Neal machte eine Pause. »Wir haben etwas aus Ihrem Besitz, also kommen Sie bitte ins Buro. Denken Sie daran, dass Sie sich irgendwie ausweisen mussen. Danke und schonen Tag noch.«
Tess lie? sich aufs Sofa fallen und lachte. Bevor sie die Tonbandnachricht gehort hatte, hatte sie mit dem Expedition zu dem Einkaufszentrum fahren wollen. Ihre Handtasche war weg, ihr Schlusselring war weg, ihr verdammtes
Sie lehnte sich in die Polster zuruck, lachte schallend laut und hammerte sich mit einer Faust auf den Oberschenkel.
Als sie endlich aufhorte (nur kam es ihr eher so vor, als liefe ein Federwerk ab), horte sie sich die Nachricht noch einmal an. Diesmal konzentrierte sie sich auf den Teil, wo Betsy Neal sagte, sie hatten etwas aus ihrem Besitz. Ihre Handtasche? Vielleicht sogar die Brillantohrringe? Aber das ware zu schon gewesen, um wahr zu sein, oder?
Vor dem Stagger Inn in einem schwarzen Wagen von Royal Limousine vorzufahren ware vielleicht etwas zu auffallig gewesen, deshalb rief sie die Firma Stoke Village Taxi an. Der Mann von der Zentrale sagte, sie wurden sie gegen eine Pauschale von funfzig Dollar gern zu »The Stagger« (so nannte er den Club) hinausbringen. »Tut mir leid, dass es nicht billiger geht«, sagte er, »aber der Fahrer muss leer zuruckfahren.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Tess erstaunt.
»Sie haben Ihren Wagen dortgelassen, stimmt’s? Das passiert dauernd, vor allem an Wochenenden. Naturlich bekommen wir auch Anrufe nach Karaoke-Donnerstagen. Ihr Taxi kommt in spatestens funfzehn Minuten.«
Tess a? eine Pop-Tart (das Schlucken tat weh, aber sie hatte den ersten Fruhstucksversuch nun einmal von sich gegeben und war hungrig), dann stand sie am Wohnzimmerfenster, hielt Ausschau nach dem Taxi und spielte dabei mit dem Reserveschlussel des Expedition. Sie hatte sich dazu entschlossen, ihren Plan abzuandern. Die Stoke Village Mall war out; sobald sie ihren Wagen wiederhatte (und den Gegenstand aus ihrem Besitz, den Betsy Neal fur sie aufbewahrte), wurde sie ungefahr eine halbe Meile weit zu dem Gas & Dash fahren und die Polizei von dort aus anrufen.