»Meine Oma liebt diese Bucher!«

»Das tun viele Omas«, sagte Tess. »Sobald diese Vorliebe auf die nachste Generation ubergeht - die noch keine Renten bezieht -, kaufe ich mir einen Landsitz in Frankreich.«

Der Spruch brachte ihr manchmal ein Lacheln ein. Nicht jedoch von Ms. Neal. »Hoffentlich ist das nicht hier passiert.« Genauer druckte sie sich nicht aus, aber das war auch nicht notwendig. Tess wusste, was sie meinte, und Betsy Neal wusste, dass sie es wusste.

Tess uberlegte, ob sie die Story, die sie Patsy aufgetischt hatte, zum zweiten Mal erzahlen sollte - der piepsende Rauchmelder, die Katze zwischen ihren Fu?en, die Kollision mit dem Endpfosten des Treppengelanders -, und sparte sich dann die Muhe. Diese Frau war tagsuber sicher sehr tuchtig und besuchte das Stagger Inn vermutlich so selten wie moglich, wenn hier Betrieb herrschte, aber sie hegte offenbar keine Illusionen daruber, was hier manchmal abging, wenn die Gaste zu spater Stunde betrunken waren. Schlie?lich war sie diejenige, die fruh am Samstagmorgen herkam, um wieder ein paar Autobesitzer anzurufen. Vermutlich kannte sie vom Morgen danach schon mehr als genug Storys von mitternachtlichen Sturzen, Ausrutschern unter der Dusche et cetera, et cetera.

»Nicht hier«, sagte Tess. »Keine Sorge.«

»Auch nicht auf dem Parkplatz? Sollte das dort passiert sein, muss ich dafur sorgen, dass Mr. Ferrer mit dem Wachpersonal redet. Mr. Ferrer ist der Boss, und die Sicherheitsleute sollen die Monitore der Uberwachungskameras regelma?ig kontrollieren, vor allem in Nachten mit viel Betrieb.«

»Es ist erst passiert, als ich weggefahren war.«

Jetzt muss ich wirklich anonym anru fen, wenn ich uberhaupt Anzeige erstatten will. Weil ich luge, und sie sich daran erinnern wird.

Wenn sie uberhaupt Anzeige erstatten wollte? Naturlich wollte sie das. Richtig?

»Das tut mir sehr leid.« Neal machte eine Pause, als debattierte sie mit sich selbst. Dann sagte sie: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber in einem Lokal dieser Art haben Sie eigentlich nichts verloren. Ihr Besuch hat ein schlimmes Ende genommen, und wenn die Medien daruber berichten wurden … nun, meine Oma ware schrecklich enttauscht.«

Tess stimmte ihr zu. Und weil sie sich darauf verstand, Storys uberzeugend auszuschmucken (ein Talent, an dem sie zehn Jahre lang gefeilt hatte), tat sie es. »Ein schlimmer Freund nagt scharfer als ein Schlangenzahn. Das sagt die Bibel, glaube ich. Vielleicht war’s auch Dr. Phil. Jedenfalls habe ich mich von ihm getrennt.«

»Das sagen viele Frauen, bevor sie wieder schwach werden. Und ein Kerl, der so was ein Mal tut …«

»Tut es noch mal. Ja, ich wei?, das war dumm von mir. Was haben Sie denn aus meinem Besitz, wenn Sie meine Handtasche nicht haben?«

Ms. Neal drehte sich mit dem Sessel um (die Sonne glitt uber ihr Gesicht und lie? kurz die ungewohnlichen blauen Augen aufblitzen), zog eine Schrankschublade auf und brachte Tom das TomTom zum Vorschein. Tess war entzuckt, ihren alten Reisegefahrten wiederzusehen. Das machte zwar nicht alles wieder gut, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.

»Wir sollen nichts aus Gasteautos mitnehmen, sondern nur Adresse und Telefonnummer feststellen, wenn das moglich ist, und den Wagen dann absperren, aber ich wollte Ihr Navi nicht zurucklassen. Um an gute Gerate heranzukommen, schlagen Diebe sogar Scheiben ein, und das hier hat gut sichtbar in seiner Halterung auf dem Instrumentenbrett gesteckt.«

»Danke.« Tess spurte, dass ihr hinter der Sonnenbrille die Tranen in die Augen traten, und drangte sie zuruck. »Das war sehr aufmerksam von Ihnen.«

Betsy Neal lachelte, was ihre geschaftsma?ig strenge Miene augenblicklich erstrahlen lie?. »Nichts zu danken. Und wenn Ihr Freund zuruckgekrochen kommt und um eine zweite Chance bettelt, denken Sie bitte an meine Oma und alle Ihre ubrigen treuen Leserinnen und schicken ihn zum Teufel.« Sie uberlegte kurz. »Aber tun Sie’s mit eingehakter Sicherungskette. Weil ein schlimmer Freund wirklich scharfer nagt als ein Schlangenzahn.«

»Das ist ein guter Rat. Also, ich muss jetzt gehen. Ich habe dem Taxifahrer gesagt, dass er warten mochte, bis feststeht, dass ich meinen Wagen zuruckbekomme.«

Und das hatte alles sein konnen - wirklich schon alles -, aber dann fragte Neal auf gewinnende Weise schuchtern, ob Tess ihr ein Autogramm fur ihre Gro?mutter geben konne. Tess beteuerte, das sei ihr ein Vergnugen, und sah dann trotz allem, was passiert war, aufrichtig amusiert zu, wie Neal einen Briefbogen des Stagger Inn hervorzog, die Kopfzeile abtrennte und ihr den Rest des Blatts uber den Schreibtisch zuschob.

»Bitte schreiben Sie ›Fur Mary, einen wahren Fan‹. Geht das?«

Naturlich ging das. Und wahrend Tess das Datum hinzufugte, fiel ihr eine weitere Ausschmuckung ein. »Ein Mann hat mir geholfen, als mein Freund und ich uns … na ja, gezofft haben. Ohne sein Eingreifen hatte ich noch schlimmer verletzt werden konnen.« Ja! Sogar vergewaltigt! »Ich wurde mich gern bei ihm bedanken, aber ich wei? nicht, wie er hei?t.«

»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen kann. Ich bin nur die Burokraft.«

»Aber Sie sind doch von hier, oder?«

»Ja …«

»Ich bin ihm in dem kleinen Laden an der Kreuzung mit der US 47 begegnet.«

»Dem Gas & Dash?«

»Ja, so hei?t er, glaube ich. Dort haben mein Freund und ich uns gestritten. Wegen des Autos. Ich wollte nicht mehr fahren, aber auch nicht ihn ans Steuer lassen. Daruber haben wir gestritten, als wir auf der Stra?e unterwegs waren … die Stra?e entlanggestolpert sind … die Stagg Road hinabgestolpert sind …«

Neal lachelte wie jemand, der einen Scherz schon oft gehort hat.

»Jedenfalls ist dieser Kerl mit einem gro?en alten Pick-up vorbeigekommen, der um die Scheinwerfer herum mit diesem Plastikzeug gegen Rost beschichtet war.«

»Bondo?«

»Ja, so hei?t das, glaube ich.« Dabei wusste sie verdammt gut, dass das Zeug so hie?. Ihr Vater hatte den Hersteller fast im Alleingang erhalten. »Als er ausgestiegen ist, habe ich gedacht, der fahrt seinen Pick-up nicht, der hat ihn wie ein Kleidungsstuck an. Das wei? ich noch gut.«

Als sie das Blatt mit dem Autogramm uber den Schreibtisch zuruckschob, sah sie, dass Betsy Neal jetzt grinste. Irgendwie lie? das den leichten Farbunterschied zwischen den Augen noch deutlicher hervortreten. »Gott, ich wei? vielleicht tatsachlich, wen Sie meinen!«

»Wirklich?«

»War er gro? oder richtig gro??«

»Richtig gro?«, sagte Tess. Sie empfand ein seltsam aufmerksames Glucksgefuhl, das aber nicht im Kopf, sondern mitten in ihrer Brust zu sitzen schien. So fuhlte sie sich sonst, wenn die Faden irgendeines ungewohnlichen Plots sich zu straffen begannen und ihn wie einen Seesack zusammenzogen. Wenn das passierte, war sie jedes Mal uberrascht

»Ist Ihnen aufgefallen, ob er am kleinen Finger einen Ring getragen hat? Mit einem roten Stein?«

»Ja! Wie ein Rubin! Nur zu gro?, um echt zu sein. Und eine braune Mutze …«

Neal nickte eifrig. »Mit wei?en Flecken. Dieses verdammte Ding tragt er seit zehn Jahren. Der Kerl, von dem Sie reden, ist unter dem Spitznamen Big Driver bekannt. Ich wei? nicht genau, wo er wohnt, aber er ist von hier, aus Colewich oder Nestor Falls. Ich sehe ihn manchmal - Supermarkt, Baumarkt, Wal-Mart, in solchen Laden. Und wer ihn einmal gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr. Sein richtiger Name ist Al Irgendwas-Polnisches. Sie wissen schon, einer dieser Zungenbrecher. Strelkowicz, Stancowitz, irgendwas in dieser Art. Ich wette, dass ich ihn im Telefonbuch finden konnte, seinem Bruder und ihm gehort namlich ein Fuhrunternehmen. Es hei?t Hawkline, glaube ich. Oder vielleicht auch Eagle Line. Jedenfalls irgendwas mit einem Vogel. Soll ich versuchen, ihn zu finden?«

»Nein danke«, sagte Tess freundlich. »Sie haben mir sehr geholfen, und mein Taxifahrer wartet.«

»Okay. Tun Sie sich nur selbst einen Gefallen, und meiden Sie in Zukunft Ihren Freund. Und meiden Sie das Stagger Inn! Aber wenn Sie jemandem erzahlen, dass ich das gesagt habe, muss ich Sie naturlich aufspuren und umlegen.«

»Das ware nur fair«, sagte Tess lachelnd. »Ich hatte es verdient.« An der Tur drehte sie sich noch einmal um. »Tun Sie mir einen Gefallen?«

»Wenn ich kann.«

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