Das erschien ihr nur passend.
23
Als ihr Taxi auf die Stagg Road abbog, begann Tess’ Puls zu jagen. Bis sie das Stagger Inn erreichten, schien er mit hundertdrei?ig Schlagen in der Minute zu galoppieren. Der Taxifahrer musste etwas im Innenspiegel bemerkt haben … vielleicht hing seine Frage aber auch nur mit den sichtbaren Spuren von Gewalt auf ihrem Gesicht zusammen.
»Alles okay, Ma’am?«
»Bestens«, sagte sie. »Ich hatte blo? nicht vor, heute Vormittag hierher zuruckzukommen.«
»Das tun wenige«, sagte der Fahrer. Er kaute auf einem Zahnstocher herum, der eine lassige langsame Reise von einem Mundwinkel zum anderen machte. »Ihre Schlussel sind doch hier, oder? Sie haben sie beim Barkeeper abgegeben, oder nicht?«
»Oh, da gibt’s keine Schwierigkeiten«, sagte sie heiter. »Aber sie bewahren noch etwas anderes auf, was mir gehort - die Lady, die angerufen hat, wollte nicht sagen, was, und ich komme nicht um alles in der Welt darauf, was es sein konnte.«
Der Taxifahrer lie? den Zahnstocher zum Ausgangspunkt zuruckwandern. Das war seine einzige Antwort.
»Sie bekommen zehn Dollar extra, wenn Sie warten, bis ich wieder rauskomme«, sagte Tess, indem sie zu dem Rasthaus hinubernickte. »Ich mochte sichergehen, dass mein Wagen anspringt.«
»Kein Problem«, sagte der Taxifahrer.
Aber das hatte sie nie gesagt, auch wenn sie es hatte tun konnen, ohne vollig ubergeschnappt zu klingen. Der Taxifahrer war funfzig, dick und kurzatmig. Wenn das Ganze
Eine torichte, paranoide Idee, aber der Weg zum Eingang des Stagger Inn erschien ihr lang, und auf dem harten, unbefestigten Untergrund klangen ihre Sportschuhe sehr laut:
Sie sah sich um. In einem der Filme, an die sie jetzt standig denken musste, hatte sie bestimmt gesehen, wie das Taxi davonraste
An der Tur hing ein Schild, auf dem WIR HABEN GESCHLOSSEN stand. Tess klopfte an, aber drinnen reagierte
Tess sah sich noch einmal nach dem Taxi um, das weiter an seinem Platz stand, erinnerte sich daran, dass sie in ihrer Reservehandtasche einen geladenen Revolver hatte, und ging trotzdem hinein.
24
Sie betrat ein Foyer, das sich auf der Parkplatzseite uber die ganze Gebaudelange erstreckte. An den Wanden hingen Werbefotos: Bands in Leder, Bands in Jeans, eine Madchenband in Minirocken. Jenseits der Garderobenstander lag eine provisorische Bar; dort gab es keine Hocker, sondern nur ein Gelander, an dem man einen Drink bekommen konnte, wahrend man auf jemanden wartete oder weil die Bar drinnen uberfullt war. Uber den ordentlich aufgereihten Flaschen leuchtete ein einzelnes rotes Schild: BUDWEISER.
Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, um beim Weitergehen nicht gegen etwas zu rennen, und durchquerte das Foyer, um einen Blick in den Hauptraum zu werfen. Er war riesig und stank nach Bier. Die Discokugel an der Decke war jetzt dunkel und bewegte sich nicht. Der Holzboden erinnerte sie an die Rollschuhbahn, auf der ihre Freundinnen und sie in dem Sommer zwischen achter Klasse und Highschool praktisch gelebt hatten. Die Instrumente waren noch auf dem Podium, was darauf schlie?en lie?, dass die Zombie
»Hallo?« Ihre Stimme echote.
»Hier bin ich«, antwortete eine leise Stimme hinter ihr.
25
Ware es eine Mannerstimme gewesen, hatte Tess gekreischt. Sie schaffte es, das nicht zu tun, warf sich aber so rasch herum, dass sie leicht stolperte. Die in der Garderobennische stehende Frau - ein mageres kleines Ding, sicher nicht gro?er als einen Meter sechzig - blinzelte uberrascht, dann sagte sie: »Brrr, ganz ruhig.«
»Sie haben mich erschreckt«, sagte Tess.
»Ja, das sehe ich.« Das schmale, perfekt ovale Gesicht der Frau war von einer Wolke aus toupiertem schwarzem Haar umgeben. Uber dem rechten Ohr ragte ein Bleistift heraus. Sie hatte lebhafte blaue Augen, deren Farbe nicht ganz ubereinstimmte.
»Expedition.«
»Haben Sie einen Ausweis?«
»Sogar zwei, aber nur einen mit Foto. Meinen Reisepass. Das andere Zeug war in meiner Handtasche. In der
»Nein, leider nicht. Haben Sie sie vielleicht unter dem Sitz oder so verstaut? Wir sehen nur im Handschuhfach nach. Und naturlich noch nicht einmal das, wenn der Wagen abgesperrt ist. Ihrer war es nicht, und Ihre Telefonnummer steht auf der Versicherungskarte. Aber wem erzahle ich das. Vielleicht finden Sie Ihre Handtasche ja zu Hause.« Neals
Neal fuhrte Tess zu einer Tur hinter der Garderobe, dann einen schmalen gebogenen Flur entlang, der den Hauptraum umging. An den Wanden hingen weitere Fotos von Bands. An einer Stelle gingen sie durch eine Chlorgaswolke, die Tess in den Augen und ihrer empfindlichen Kehle brannte.
»Wenn Sie glauben, dass die Klos jetzt stinken, sollten Sie mal hier sein, wenn Hochbetrieb herrscht«, sagte Neal, dann fugte sie hinzu: »Oh, das hab ich vergessen - Sie waren ja hier.«
Tess au?erte sich nicht dazu.
Der Korridor endete an einer Tur mit der Aufschrift NUR FUR PERSONAL. Der Raum dahinter war gro?, freundlich und voller Morgensonne. An einer Wand hing ein gerahmtes Foto von Barack Obama uber einem Sto?stangenaufkleber mit dem Slogan YES WE CAN. Tess konnte ihr Taxi nicht sehen - das Gebaude versperrte ihr die Sicht -, aber sie konnte seinen Schatten erkennen.
Neal setzte sich an den Schreibtisch, der in der Ecke des Raums stand. »Dann zeigen Sie mal Ihren Ausweis.«
Tess offnete ihre Handtasche, griff an dem Revolver vorbei und holte ihren Reisepass und den Mitgliedsausweis der Authors Guild heraus. Neal warf nur einen fluchtigen Blick in den Pass, aber als sie den Schriftstellerausweis sah, bekam sie gro?e Augen. »Sie sind die Willow-Grove-Lady!«
Tess lachelte tapfer, obwohl ihr davon die Lippen schmerzten. »Schuldig im Sinne der Anklage.« Ihre Stimme klang heiser, so als hatte sie eben eine schlimme Erkaltung hinter sich.