»Sollten Sie Al Irgendwas-Polnisches in der Stadt begegnen, erwahnen Sie bitte nicht, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Sie lachelte breiter. Das tat zwar ihren geschwollenen
»Kein Problem.«
Tess hielt noch einen Augenblick langer inne. »Ich mag Ihre Augen.«
Neal zuckte mit den Achseln. »Was angeborene Defekte betrifft, ist das ein guter. Als Kind bin ich oft damit aufgezogen worden, aber jetzt …«
»Jetzt ist er ein Vorteil fur Sie«, sagte Tess. »Sie sind in ihn hineingewachsen.«
»Das stimmt wohl. Als ich Anfang zwanzig war, habe ich gelegentlich sogar als Model gearbeitet. Aber wissen Sie was? Manchmal ist es besser, aus etwas herauszuwachsen. Zum Beispiel seinen Geschmack fur gewalttatige Manner zu uberwinden.«
Dazu gab es eigentlich nichts weiter zu sagen.
26
Tess uberzeugte sich davon, dass der Motor ihres Expedition ansprang, dann gab sie dem Taxifahrer zwanzig statt zehn Dollar Trinkgeld. Er bedankte sich und fuhr in Richtung I-84 davon. Sie folgte ihm, aber nicht bevor sie Toms Kabel wieder in die Buchse des Zigarettenanzunders gesteckt und ihn eingeschaltet hatte.
»Hallo, Tess«, sagte Tom. »Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«
»Nur nach Hause, Tommy-Boy«, sagte sie, verlie? den Parkplatz und war sich sehr bewusst, dass sie auf einem Vorderreifen fuhr, den ein Mann montiert hatte, der sie fast umgebracht hatte. Al Irgendwas-Polnisches. Ein Lastwagen fahrender Hundesohn. »Mit einem Zwischenstopp.«
»Ich wei? nicht, was du denkst, Tess, aber du solltest vorsichtig sein.«
Ware sie statt in ihrem Wagen zu Hause gewesen, und hatte Fritzy das gesagt, ware sie genauso wenig uberrascht gewesen. Stimmen und Gesprache hatte sie schon seit ihrer Kindheit erfunden, aber mit acht oder neun Jahren aufgehort, das in Gegenwart anderer Leute zu tun, au?er um einen komischen Effekt zu erzielen.
»Ich wei? auch nicht, was ich denke …«, sagte sie, obwohl das nicht ganz stimmte.
Vor ihnen lagen die Kreuzung Stagg Road und US 47 mit dem Gas & Dash. Sie setzte den Blinker, bog ab und parkte den Expedition genau mittig vor den beiden Kartentelefonen. An der Hohlblocksteinwand sah sie die in den Staub geschriebene Telefonnummer von Royal Limousine. Die Ziffern waren krumm und schief, von einem Finger geschrieben, der nicht hatte still halten konnen. Bei diesem Anblick lief ihr ein kalter Schauder uber den Rucken, und sie schlang die Arme um ihren Oberkorper und druckte fest zu. Dann stieg sie aus und ging zu dem Kartentelefon, das noch funktionierte.
Die Gebrauchsanweisung war zerkratzt, vielleicht von einem Betrunkenen mit einem Autoschlussel, aber die wichtigen Informationen waren noch lesbar: Anrufe bei der Notrufnummer waren kostenlos, man brauchte nur den Horer abzunehmen und die Nummer einzutippen. Kinderleicht.
Sie tippte die 9 ein, zogerte, tippte die 1, zogerte dann erneut. Sie stellte sich eine
Nur …
»Was bringt mir das?« Sie sprach ziemlich leise, wahrend sie die Telefonnummer betrachtete, die sie in den Staub geschrieben hatte. »Was ist fur
Und sie dachte:
Tess hangte den Horer ein und ging zu ihrem Wagen zuruck. Sie sah auf Toms Bildschirm, der die Kreuzung Stagg Road und US 47 zeigte. »Ich muss noch etwas langer daruber nachdenken«, sagte sie.
»Was gibt’s da zu uberlegen?«, fragte Tom. »Wenn du ihn umlegst und dann geschnappt wirst, sperren sie dich ein. Ob vergewaltigt oder nicht.«
»Genau daruber muss ich nachdenken«, sagte sie und bog auf die US 47 ab, die sie zur I-84 bringen wurde.
Wie immer am Samstagmorgen war der Verkehr auf der Interstate schwach, und am Steuer ihres Expedition zu sitzen fuhlte sich gut an. Beruhigend. Normal. Tom schwieg, bis sie an dem Schild AUSFAHRT 9 STOKE VILLAGE 2 MEILEN vorbeifuhren. Dann sagte er: »Wei?t du bestimmt, dass das nur Zufall war?«
»Was?« Tess zuckte uberrascht zusammen. Sie hatte Toms Stimme aus dem eigenen Mund kommen horen: in der tieferen
»Nein«, antwortete Tom. »Ich sage nur, dass du dieselbe Strecke zuruckgefahren warst, wenn es nach dir gegangen ware.
»Ja«, bestatigte sie. »Ramona Norville hat eine gewusst.« Sie dachte daruber nach, dann schuttelte sie den Kopf. »Das ist ziemlich weit hergeholt, mein Freund.«
Dazu au?erte Tom sich nicht.
27
Bei der Abfahrt vom Gas & Dash hatte sie vorgehabt, online zu gehen und zu sehen, ob sie ein Fuhrunternehmen, vielleicht eine selbststandige kleine Firma, finden konnte, das seinen Sitz in Colewich oder einer der umliegenden Kleinstadte hatte. Eine Firma mit einem Vogelnamen, vielleicht Hawk oder Eagle. Das hatten die Willow-Grove-Ladys getan; sie liebten ihre Computer und schrieben sich wie Teenager dauernd E-Mails. Abgesehen von anderen Erwagungen ware es interessant, zu sehen, ob ihre Version von amateurhafter Detektivarbeit im richtigen Leben funktionierte.
Als sie die eineinhalb Meilen von ihrem Haus entfernte Ausfahrt 9 nahm, beschloss sie, erst ein bisschen uber Ramona Norville in Erfahrung zu bringen. Wer wei?, vielleicht
»Viele Brandstifter gehoren der ortlichen freiwilligen Feuerwehr an«, bemerkte Tom, als sie auf ihre Stra?e abbog.
»Was soll denn
»Dass du niemanden nach seinen augenscheinlichen Zugehorigkeiten beurteilen solltest. Das wurden die Ladys des Strickclubs nie tun. Aber ihren Lebenslauf solltest du dir unbedingt ansehen.« Tom sprach in einem leicht gonnerhaften Ton, den Tess nicht erwartet hatte und der sie leicht irritierte.
»Wie liebenswurdig von dir, mir das zu erlauben, Thomas«, sagte sie.
28
Aber als sie in ihrem Arbeitszimmer vor dem hochgefahrenen Computer sa?, starrte sie nur funf Minuten lang den Begru?ungsbildschirm von Apple an und fragte sich, ob sie wirklich vorhatte, den Riesen aufzuspuren und ihren Revolver zu gebrauchen - oder ob das Ganze nur die Art Phantasie war, auf die berufsma?ige Lugner wie sie selbst nur allzu leicht hereinfielen. In diesem Fall eine Rachephantasie. Auch derartige Filme mied sie, obwohl sie naturlich wusste, dass es solche gab; wenn man nicht als volliger Einsiedler lebte, konnte man sich gegen den Puls der Gegenwartskultur nicht vollig abschotten. In den Rachefilmen machten bewundernswurdig muskulose Manner wie
Ihr Computer wechselte zum Bildschirmschoner mit dem Wort des Tages uber. Das heutige Wort war
»Wenn Sie Ihre Waren mit Cormorant Trucking versenden, fliegen sie formlich«, sagte Tess mit ihrer tiefen Stimme, die Tom gehoren sollte. Dann druckte sie eine Taste, und der Bildschirmschoner verschwand. Sie ging online, aber zu keiner Suchmaschine, zumindest nicht gleich zu Anfang. Als Erstes rief sie YouTube auf und tippte RICHARD WIDMARK ein, ohne irgendeine Idee zu haben, weshalb sie das tat. Jedenfalls keine bewusste.
Es gab jede Menge Filmchen. Am besten bewertet war eine sechsminutige Zusammenstellung mit dem Titel