ER IST BOSE, ER IST ECHT BOSE. Mehrere Hunderttausend Leute hatten sie sich schon angesehen. Sie enthielt kurze Szenen aus drei Filmen, aber wirklich fasziniert war Tess von der ersten. Sie war schwarz-wei? und wirkte fast billig … aber sie stammte eindeutig aus einem dieser Filme. Das besagte schon der Titel: Der Todeskuss.

Tess sah sich das ganze Video an und kehrte dann noch zweimal zu dem Todeskuss-Segment zuruck. Widmark spielte einen kichernden Gangster, der eine alte Frau in einem Rollstuhl bedroht. Er verlangt Informationen. »Wo ist Ihr

Die alte Lady schoss er jedoch nicht in den Bauch. Er fesselte sie mit einer Lampenschnur an ihren Rollstuhl und stie? sie die Treppe hinunter.

Tess verlie? YouTube, bingte nach Richard Widmark und fand, was sie angesichts dieses kraftvollen Filmausschnitts erwartet hatte: Obwohl er in zahlreichen weiteren Filmen mitgespielt hatte, zunehmend in der Rolle des Helden, war er am besten als der kichernde, psychotische Tommy Udo aus Der Todeskuss bekannt.

»Na und?«, sagte Tess. »Manchmal ist eine Zigarre blo? eine Zigarre.«

»Was soll das hei?en?«, fragte Fritzy von der Fensterbank her, auf der er sich sonnte.

»Das soll hei?en, dass Ramona sich vermutlich in ihn verknallt hat, als sie ihn als heldenhaften Sheriff oder tapferen Schlachtschiffkommandanten oder irgendwas in dieser Art gesehen hat.«

»So muss es gewesen sein«, stimmte Fritzy zu. »Wenn du namlich recht hast, was ihre sexuelle Orientierung betrifft, dann himmelt sie wahrscheinlich keine Manner an, die alte Ladys in Rollstuhlen ermorden.«

Das stimmte naturlich. Klug gedacht, Fritzy.

Die Katze musterte Tess mit skeptischem Blick, dann sagte sie: »Aber vielleicht hast du damit nicht recht.«

»Auch wenn’s anders ware«, sagte Tess, »kann niemand sich fur verruckte bose Kerle begeistern.«

Wie damlich diese Behauptung war, erkannte sie, sobald sie ausgesprochen war. Wenn die Leute sich nicht fur Psychos begeistern konnten, wurden nicht standig Filme uber den Verruckten in der Hockeymaske und das Verbrennungsopfer

»Lieber nicht«, sagte Tess. »Solltest du versucht sein, denk daran, wer deinen Fressnapf fullt.«

Sie googelte nach Ramona Norville, erzielte fast 44 000 Treffer, fugte Chicopee hinzu und bekam dann realistischere zwolfhundert (obwohl auch die meisten davon, das wusste sie, zufalliger Dreck sein wurden). Der erste relevante stammte aus der Wochenzeitung Chicopee Weekly Reminder und betraf Tess selbst: BIBLIOTHEKARIN RAMONA NORVILLE KUNDIGT »WILLOW-GROVE- FREITAG« AN.

»Das bin ich, die gro?e Zugnummer«, murmelte Tess. »Ein Hoch auf Tessa Jean. Mal sehen, wie die Schauspielerin in der Nebenrolle aussieht.« Als sie die Meldung aufrief, sah sie jedoch nur ein Foto von sich selbst: die PR-Aufnahme mit dem schulterfreien Kleid, die ihre Teilzeit-Assistentin routinema?ig verschickte. Sie rumpfte die Nase und rief noch einmal Google auf; sie hatte nicht sagen konnen, wieso sie sich Ramona erneut ansehen wollte, sondern wusste nur, dass sie das wollte. Als sie endlich ein Foto der Bibliothekarin fand, sah sie, was ihr Unterbewusstsein anscheinend schon vermutet hatte - zumindest nach Toms Kommentaren auf der Heimfahrt zu schlie?en.

Das Bild gehorte zu einer Meldung im Weekly Reminder vom 3. August. BROWN BAGGERS STELLEN REDNER DES HERBSTPROGRAMMS VOR, lautete die Schlagzeile. Darunter stand Ramona Norville auf den Stufen vor der Bibliothek und blinzelte lachelnd in die Sonne. Ein schlechtes Foto, das ein Hobbyfotograf ohne viel Talent gemacht hatte, und eine schlechte (aber vermutlich typische) Wahl, was Norvilles Kleidung betraf. Der mannlich geschnittene Blazer lie? sie so breitschultrig wie einen Footballverteidiger erscheinen. Ihre Schuhe waren hassliche braune

»Heiliger gottverdammter Schei?, Fritzy«, sagte sie. Ihre Stimme troff vor Entsetzen. »Sieh dir das an!« Fritzy kam nicht heruber, um es sich anzusehen, und gab auch keine Antwort - wie denn auch, wo sie doch zu entsetzt war, um seine Stimme zu imitieren?

Uberzeug dich davon, was du siehst, ermahnte sie sich. Du hast einen schrecklichen Schock erlitten, Tessa Jean, vielleicht den schlimmsten, den eine Frau au?er einer todlichen Diagnose in einem Sprechzimmer erleben kann. Also vergewissere dich.

Sie schloss die Augen und rief sich den Mann aus dem alten Ford F-150 mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer herum ins Gedachtnis zuruck. Anfangs hatte er so freundlich gewirkt. Sie haben nicht erwartet, hier drau?en in der Pampa dem Jolly Green Giant zu begegnen, was?

Nur war er nicht grun gewesen; er war ein sonnengebraunter hunenhafter Mann gewesen, der seinen Pick-up nicht fuhr, sondern anhatte.

Ramona Norville, kein Big Driver, aber offensichtlich eine Gro?e Bibliothekarin, war zu alt, um seine Schwester zu sein. Und auch wenn sie jetzt eine Lesbe war, war sie das nicht schon immer gewesen, denn die Ahnlichkeit war unverkennbar.

Wenn ich mich nicht gewaltig tausche, habe ich ein Foto der Mutter meines Vergewaltigers vor mir.

29

Sie ging in die Kuche und trank etwas Wasser, aber Wasser genugte diesmal nicht. Ganz hinten in ihrem Kuhlschrank lag seit undenklichen Zeiten eine halbvolle Flasche Tequila. Tess holte sie heraus, uberlegte, ob sie ein Glas brauchte, und nahm dann einen kleinen Schluck aus der Flasche. Das Zeug brannte in Mund und Kehle, wirkte sich sonst jedoch positiv aus. Sie trank noch einen Schluck - diesmal einen etwas gro?eren -, dann legte sie die Flasche zuruck. Sie hatte nicht die Absicht, sich zu betrinken. Wenn sie jemals einen klaren Kopf gebraucht hatte, dann heute.

Wut - der gro?te, tiefste Zorn ihres Erwachsenenlebens - hatte wie ein Fieber von ihr Besitz ergriffen. Aber es war kein Fieber wie alle anderen, die sie bisher kennengelernt hatte. Es kreiste wie ein unheimliches Serum in ihrem Korper: in der rechten Halfte kalt, dann links, wo ihr Herz sa?, hei?. Aber es schien nicht in die Nahe ihres Kopfs zu kommen, der klar blieb. Er war sogar klarer, seit sie den Tequila getrunken hatte.

Sie ging mehrmals hastig im Kreis herum durch die Kuche - den Kopf gesenkt, wahrend sie sich mit einer Hand die Wurgemale am Hals massierte. Ihr war nicht bewusst, dass sie auf die gleiche Weise durch ihre Kuche lief, wie sie den verlassenen Laden umkreist hatte, nachdem sie aus der Wellblechrohre gekrochen war, die Big Driver zu ihrem Grab bestimmt hatte. Glaubte sie wirklich, dass Ramona Norville sie, Tess, ihrem psychotischen Sohn wie eine Art Opferlamm zugetrieben hatte? War das wahrscheinlich? Das war es nicht. Konnte sie auf der Basis eines schlechten Fotos und der eigenen Erinnerung auch nur annehmen, dass die beiden Mutter und Sohn waren?

Aber mein Gedachtnis ist gut. Vor allem mein Gedachtnis fur Gesichter.

Nun, das glaubte sie zumindest, aber das tat vermutlich jeder. Richtig?

Ja, und die ganze Idee ist verruckt. Das musst du zugeben.

Das gab sie zu, aber in Fernsehsendungen uber wahre Verbrechen (die sie sich haufig ansah) hatte sie schon verrucktere Dinge gesehen. Die Besitzerinnen eines Mietshauses in San Francisco, die jahrelang altere Mieter ermordet und im Garten verscharrt hatten, um deren Rentenschecks zu kassieren. Den Flugkapitan, der seine Frau umgebracht und die Leiche dann tiefgekuhlt hatte, um sie durch den Hacksler schieben zu konnen. Den Mann, der seine Kinder mit Benzin ubergossen und wie Moorhuhner aus Cornwall gegrillt hatte, damit seine Frau das ihr gerichtlich zugesprochene Sorgerecht niemals wurde ausuben konnen. Eine Frau, die dem eigenen Sohn Opferlammer zutrieb, war schockierend und unwahrscheinlich … aber nicht unmoglich. Was die verbrecherisch dunkle Seite des menschlichen Herzens betraf, schien es keine Grenze zu geben.

»O Mann«, horte sie sich mit einer Stimme sagen, die eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung war. »O Mann, o Mann, o Mann.«

Finde es heraus. Verschaff dir Gewissheit. Wenn du kannst.

Tess setzte sich wieder an den Computer. Die Hande zitterten ihr so sehr, dass sie drei Anlaufe brauchte, um COLEWICH FUHRUNTERNEHMEN ins Suchfeld der Google-Seite zu tippen. Nachdem sie es richtig hinbekommen hatte, druckte sie die Eingabetaste und sah sofort den gesuchten Namen ganz oben auf der Liste: RED HAWK TRUCKING. Als sie den Eintrag anklickte, gelangte sie zur Homepage von Red Hawk, auf der ein ruckelnd

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