»irgendwelcher Schwierigkeiten, die sein Altester hatte«, sehr beunruhigt gewesen.

»Was fur Schwierigkeiten hatte Al, die dir so zugesetzt haben?«, fragte Tess den Bildschirm. »Irgendwas mit einem Madchen? Vielleicht Korperverletzung? Sexueller Missbrauch? Hat er sich schon damals auf Gro?eres vorbereitet? Wenn du dich deswegen aufgehangt hast, warst du als Vater eine schone Niete.«

»Vielleicht hatte Roscoe Hilfe«, sagte Fritzy. »Von Ramona. Eine gro?e, starke Frau, wei?t du. Das musstest du wissen; du hast sie gesehen.«

Auch das klang wieder nicht wie die Stimme, mit der sie im Prinzip Selbstgesprache fuhrte. Sie starrte Fritzy verblufft an. Fritzy erwiderte ihren Blick mit ruhigen grunen Augen, die zu fragen schienen: Wer, ich?

Was Tess tun wollte: mit ihrem Revolver in der Handtasche direkt zur Lacemaker Lane fahren. Was sie hatte tun sollen: das Detektivspielen bleibenlassen und die Polizei anrufen. Das hatte die Alte Tess getan, aber diese Frau war sie nicht mehr. Diese Frau erschien ihr jetzt wie eine entfernte Verwandte von der Sorte, der man zu Weihnachten eine Karte schickte, um sie dann wieder bis zum nachsten Mal zu vergessen.

Weil sie sich nicht entscheiden konnte - und sich wie zerschlagen fuhlte -, ging sie wieder nach oben und legte sich ins Bett. Sie schlief vier Stunden lang und war beim Aufstehen so steif, dass sie kaum gehen konnte. Sie nahm zwei extrastarke Tylenol, wartete, bis sie zu wirken begannen, und fuhr dann zu Blockbuster Video. Den Smith & Wesson hatte sie in der Handtasche dabei. Sie glaubte, dass sie ihn in Zukunft immer bei sich haben wurde, wenn sie allein unterwegs war.

Sie betrat den Videoverleih kurz vor Ladenschluss und fragte nach einem Jodie-Foster-Film mit dem Titel Die mutige Frau. Der Angestellte (der grunes Haar hatte, in einem Ohr eine Sicherheitsnadel trug und volle achtzehn Jahre alt Der Fremde in dir. Mr. Retro Punk erganzte, fur funfzig Cent extra bekame sie zu dem Film einen Beutel Mikrowellen-Popcorn dazu. Tess hatte fast Nein gesagt, uberlegte sich die Sache dann aber anders. »Schei?e, warum nicht?«, sagte sie zu Mr. Retro Punk. »Man lebt nur einmal, stimmt’s?«

Er musterte sie verblufft und schien sein Urteil uber sie zu revidieren; dann lachelte er und bestatigte, in der Tat erhalte jeder Kunde nur ein Leben.

Zu Hause bereitete sie das Popcorn zu, legte die DVD ein, machte es sich auf der Couch bequem und stopfte sich ein Kissen in den Rucken, um die tiefe Kratzwunde abzupolstern. Fritzy leistete ihr Gesellschaft, und sie sahen sich gemeinsam an, wie Jodie Foster Jagd auf die Manner (auf die Kerle, wie in Schei?kerle) machte, die ihren Freund umgebracht hatten. Im Lauf der Handlung legte Foster alle moglichen Kerle um - alle mit einer Pistole. Der Fremde in dir gehorte eindeutig zu jenen Filmen, aber Tess genoss ihn trotzdem. Sie fand, dass er vollig schlussig war. Sie glaubte auch, in all den Jahren etwas versaumt zu haben: die schwache, aber authentische Katharsis, die Filme wie Der Fremde in dir bewirkten. Als er zu Ende war, sagte sie zu Fritzy: »Ich wollte, Richard Widmark ware Jodie Foster statt dieser alten Lady im Rollstuhl begegnet, findest du nicht auch?«

Fritzy stimmte tausendprozentig zu.

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Als Tess an diesem Abend im Bett war, wahrend der Oktoberwind immer sturmischer ums Haus heulte und Fritzy eng zusammengerollt neben ihr lag, traf sie eine Ubereinkunft mit sich selbst: Wenn sie morgen fruh in derselben Stimmung wie jetzt aufwachte, wurde sie Ramona Norville aufsuchen und anschlie?end - je nachdem was sich in der Lacemaker Lane ergab - vielleicht Alvin »Big Driver« Strehlke einen Besuch abstatten. Eher wurde sie allerdings wieder einigerma?en vernunftig aufwachen und die Polizei anrufen. Auch nicht anonym; sie wurde die Suppe, die andere ihr eingebrockt hatten, ausloffeln. Eine Vergewaltigung nach uber vierzig Stunden nachzuweisen wurde vermutlich schwierig sein, aber die Spuren korperlicher Misshandlungen waren unverkennbar.

Und die Frauen in der Rohre: Sie war deren Advokatin, ob ihr das passte oder nicht.

Morgen werden dir alle diese Rachevorstellungen lacherlich vorkommen. Wie die Wahnideen, die Leute mit hohem Fieber haben.

Als sie am Sonntag aufwachte, war sie jedoch weiter voll im Neue-Tess-Modus. Sie starrte den Revolver auf dem Nachttisch an und dachte: Ich will ihn gebrauchen. Ich will diese Sache selbst erledigen, und wenn man bedenkt, was ich durchgemacht habe, hab ich es verdient, sie selbst zu erledigen.

»Aber ich muss mir sicher sein, und ich will naturlich nicht geschnappt werden«, sagte sie zu Fritzy, der aufgestanden war, sich umstandlich streckte und sich auf einen weiteren anstrengenden Tag vorbereitete, an dem er herumliegen und haufig aus seinem Napf fressen wurde.

Tess duschte, zog sich an und setzte sich dann mit einem Notizblock auf die Glasveranda. Sie starrte den Rasen hinter

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Gegen zehn Uhr war sie hei?hungrig. Sie machte sich einen Riesenbrunch und a? ihn bis zum letzten Bissen auf. Dann brachte sie den Film zu Blockbuster zuruck und fragte nach Der Todeskuss. Den hatten sie nicht, aber nach zehnminutiger Suche entschied sie sich fur einen Ersatz, der Das letzte Haus links hie?. Sie nahm ihn mit nach Hause und sah ihn sich aufmerksam an. In dem Film vergewaltigten Manner ein junges Madchen und lie?en es als tot liegen. Das Ganze war ihrem eigenen Schicksal so ahnlich, dass Tess in Tranen ausbrach und so laut weinte, dass Fritzy aus dem Zimmer fluchtete. Aber sie hielt durch und wurde mit einem Happy End belohnt: Die Eltern des jungen Madchens ermordeten die Vergewaltiger.

Sie steckte die DVD wieder in ihre Hulle und legte sie auf den Tisch in der Diele. Den Film wurde sie morgen zuruckbringen, wenn sie dann noch lebte. Das hatte sie zwar vor, aber nichts war gewiss; es gab viele seltsame Wendungen und Irrwege, wahrend man den uberwucherten Haschenpfad namens Leben hinunterhoppelte. Wie Tess aus leidvoller eigener Erfahrung wusste.

Weil sie noch Zeit totzuschlagen hatte - die Tageslichtstunden schienen qualend langsam zu vergehen -, surfte sie

»Aber vielleicht ist er schlimmer geworden«, erklarte sie Fritzy.

»Solche Kerle werden oft schlimmer«, stimmte Fritzy zu. (Das war ungewohnlich; im Allgemeinen war eher Tom ihrer Meinung. Fritzys Rolle war meist die des Advocatus diaboli.)

»Einige Jahre spater ist dann wieder etwas passiert. Etwas Schlimmeres. Vielleicht hat Mama ihm geholfen, es zu vertuschen …«

»Vergiss den jungeren Bruder nicht«, sagte Fritzy. »Lester. Auch er kann darin verwickelt gewesen sein.«

»Verwirr mich nicht mit zu vielen Personen, Fritzy. Ich wei? nur, dass Al ›Big Driver‹, dieser Schei?kerl, mich vergewaltigt hat und dass seine Mutter als Komplizin infrage kommt. Das genugt mir.«

»Vielleicht ist Ramona ja auch seine Tante«, sagte Fritzy.

»Ach, halt die Klappe«, sagte Tess, und Fritzy gehorchte.

32

Sie legte sich um vier Uhr nachmittags hin und rechnete damit, keine Sekunde schlafen zu konnen, aber ihr heilender Korper setzte eigene Prioritaten. Sie war fast augenblicklich weg, und als sie von dem drangenden Dah-dah-dah ihres Radioweckers aufwachte, war sie froh, ihn gestellt zu haben. Drau?en kammte ein boiger Oktoberwind Blatter von den Baumen und lie? sie in bunten Wolken uber den Rasen wirbeln. Das Licht hatte die seltsame Goldfarbung ohne Tiefe angenommen, die eine exklusive Eigenschaft von Spatherbstnachmittagen in Neuengland zu sein schien.

Ihrer Nase ging es besser - dort waren die Schmerzen zu einem dumpfen Pochen abgeklungen -, aber ihr Hals tat noch immer weh, und sie humpelte eher ins Bad, als dass sie normal ging. Sie stellte sich unter die Dusche, drehte das Wasser so hei? auf, wie sie es aushalten konnte, und blieb in der Kabine, bis ihre Haut krebsrot und das Bad so neblig wie ein englisches Moor in einem Sherlock-Holmes-Roman war. Das Duschen hatte geholfen. Ein paar Tylenol aus dem Medizinschrankchen wurden noch mehr bringen.

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